17 Thesen zum Kopftuch-Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs
1.Vorbemerkung: Ob wir uns als Gesellschaft mit unseren permanenten, schnell erhitzt und emotional geführten Debatten um religiöse geprägte Kleidung, genauer: das islamische Kopftuch, einen Gefallen tun? Sind Bekleidungsfragen der richtige Gegenstand für Stellvertreterdebatten über die Herausforderungen, Chancen und Abgründe einer forciert säkularisierten, zugleich religiös-weltanschaulich hyperdiversifizierten Gesellschaft? Einer Gesellschaft, deren politische Eliten lange – kontrafaktisch – betonten, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist, und die nun lernt Migration produktiv zu gestalten? Schärfen unsere Kopftuchdebatten den menschenrechtlichen und demokratischen Sinn für religiöse Freiheiten und die Legitimität ihrer wohlbegründeten Grenzen? Tragen sie zu Gemeinsinn und erfahrbarer Bürgerschaft etwas bei? Helfen sie, Religionskulturen so zu formen, dass sie der freiheitlichen Demokratie „entgegenkommende Lebensformen“ (Jürgen Habermas) bilden? Je länger ich die Debatten um religiöse geprägte Kleidung, die Art und Weise, wie wir sie führen, in Deutschland beobachte, desto skeptischer werde ich. Desto mehr habe ich den Eindruck, sie überlagern und verdrängen die eigentlich relevanten religions- und integrationspolitischen Themen.
2. Nun denn: wir führen also Debatten über das Kopftuch der Lehrerin, der Schülerin, der Verkäuferin, der Richterin – sie münden in Recht, das religiöse Bekleidungsformen generell regelt. Etwa in Art. 11 Abs. 2 BayRiStAG. Demnach dürfen Richter und Richterinnen sowie Staatsanwälte und Staatsanwältinnen „in Verhandlungen sowie bei allen Amtshandlungen mit Außenkontakt keine sichtbaren religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole oder Kleidungsstücke tragen, die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen können“. In einer jüngst veröffentlichten Entscheidung hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof der Norm Verfassungskonformität attestiert BayVerfGH, Entscheidung vom 14. März 2019, Az. 3-VII-18). Wesentliche Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs verdienen aus rechtlicher Sicht Zustimmung, im Detail gibt es aber auch Anlass für kritische Rückfragen.
3. Folgt man dem bayerischen Verfassungsgerichtshof, zielt Art. 11 Abs. 2 BayRiStAG auf den Schutz der Unabhängigkeit und religiös-weltanschaulichen Neutralität der Justiz. Wenig glücklich erscheint es allerdings, wenn beide Aspekte vermengt werden; solches Vorgehen findet sich auch schon in einem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2017, Az. 2 BvR 1333/17).
4. Verfassungsrechtlich handelt es sich doch zunächst einmal um zwei unabhängig voneinander bestehende Gründe für die Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen: Das Verbot der Staatskirche und damit jeder Art von Staatsreligion und Staatsweltanschauung, der Religionsfreiheit, dem Verbot religiöser und dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften lässt sich zu einem verfassungsrechtlichen Konzept religiös-weltanschaulicher Neutralität des Grundgesetzes verdichten, traditionell verstanden als wohlwollende Offenheit des Staates für die Religionen und Weltanschauungen seiner Bürgerinnen und Bürger. Nun kann man darüber diskutieren, ob angesichts der tiefgreifenden religionskulturellen Veränderungen seit den 1960er Jahren in Deutschland ein stärker die Religionen und Weltanschauungen aus dem staatlichen Bereich ausgrenzendes Neutralitätsverständnis angezeigt ist. Man wird dann auch darüber reden müssen, ob solche Neuvermessungen des Neutralitätsgrundsatzes bereichsspezifisch erfolgen sollen. Möglicherweise sind in der öffentlichen Schule, der Logik der pädagogischen Intervention folgend, andere Konkretisierungen erforderlich als in Bereichen, in denen das staatliche Gewaltmonopol für die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar erlebbar ist.
5. Davon zu unterscheiden ist das den rechtsstaatlichen Institutionen dienende Interesse, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz auch nach außen zur Darstellung zu bringen.
6. Ein klassisches Instrument, um das Ansehen der Gerichtsbarkeit, ihre Wahrnehmung als Institution rechtsgebundenen, unparteilichen und fairen Entscheidens in richterlicher Unabhängigkeit zu schützen, ist das Recht zur Ablehnung von Gerichtspersonen aus Besorgnis der Befangenheit. Mit der religiös-weltanschaulichen Diversität gehen zwangsläufig auch gesellschaftliche Konflikte einher. Wenn eine Gerichtsperson religiös konnotierte Symbole trägt, kann das dazu führen, dass Verfahrensbeteiligte sie argwöhnischer beobachten und eher eine Befangenheit vermuten. Doch in der Sache vermag die bloße erkennbare Religionszugehörigkeit für sich die Besorgnis der Befangenheit nicht zu begründen. Dann aber lässt einen die apodiktische Feststellung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs etwas ratlos zurück, religiös konnotierte Bekleidung führe bei „objektiver und verständiger Betrachtungsweise der Prozessbeteiligten“ zu „Zweifeln“, „ob die Entscheidungen des Rechtsstreites ausschließlich nach Maßgabe des geltenden Rechts und ohne Einfluss persönlicher religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen erfolgt“ (BayVerfGH, Entscheidung vom 14. März 2019, Az. 3-VII-18, Rn. 31). Man muss schon tiefer schürfen, um eine tragfähige Rechtfertigung für die mit Art. 11 Abs. 2 BayRiStAG verbundenen Grundrechtseingriffe zu finden.
7. Ein Ansatzpunkt könnte die Religionsfreiheit der anderen Prozessbeteiligten sein. Die negative Religionsfreiheit von Verfahrensbeteiligten bietet keinen pauschalen Schutz vor der Begegnung mit den religiösen Bekundungen anderer. Doch zutreffend spricht der Bayerische Verfassungsgerichtshof bei Gerichtsverfahren ähnlich wie beim Schulzwang davon, dass der Staat, erlaube er religiöse Kleidung und Symbole bei den Justizbediensteten, eine Konfrontation mit religiösen Symbolen und Gehalten erzwinge. Bei einer staatlichen Anordnung zum Aufhängen eines Kreuzes in bayerischen Schulen sah das Bundesverfassungsgericht den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als eröffnet an. Ähnlich entschied der Zweite Senat 2003 bei der ersten Entscheidung zum Kopftuch einer Lehrerin in öffentlichen Schulen. 2015 hingegen betonte der Erste Senat, eine Konfrontation mit dem islamischen Kopftuch gehöre zum Alltag in Deutschland. Die Religionsfreiheit schütze nicht vor der bloßen Begegnung mit anderen Menschen, die ihre religiösen Bräuche und Sitten leben. Anders als bei der Anbringung von Kruzifixen aufgrund einer staatlichen Anordnung ist dem Staat die individuelle Entscheidung seiner Bediensteten für eine bestimme Kleidung auch nicht in gleicher Weise zuzurechnen (Kopftuch II, Rn. 104). Hiergegen wendet sich der Bayerische Verfassungsgerichtshof mit Nachdruck: Gerichtsverfahren seien förmliche Verfahren, engmaschig reglementiert, die staatliche Funktion des Amtsträgers dominiere hier, wie auch die Amtstracht zeige. Für private Selbstdarstellungen sei hier kein Raum.
8. Nicht ausdrücklich behandelt wird vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof die Funktionsfähigkeit der Justiz. Dabei handelt es sich hier um ein Rechtsgut von überragender Bedeutung. Man kann den Begriff „Funktionsfähigkeit“ zunächst in einem engen, eher technischen Sinne verstehen. So gedeutet kann die Funktionsfähigkeit der Justiz durch besondere Kleidung beeinträchtigt sein, wenn Prozesse dadurch nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden können, weil die erforderliche gegenseitige Wahrnehmung unmöglich wird. Eine vollverschleierte Person kann deshalb keine richterlichen Funktionen wahrnehmen.
9. Die Funktionsfähigkeit der Justiz ist verfassungsrechtlich aber über den engen Bereich eines sachgerechten Verfahrensverlaufs geschützt. Sie weist insoweit auch gewisse Berührungspunkte zum Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität auf. Für die Gerichtsbarkeit erweist sich die Neutralität als Element des Rechtsstaatsgebots (Art. 20 Abs. 3 GG). Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Dem Vertrauen in die Neutralität und Unparteilichkeit der Justiz ist ein hoher Stellenwert beizumessen. Nur so kann der Staat seiner Ordnungs- und Friedensfunktion gerecht werden. Vertrauen ist jedoch stets durch viele Faktoren bedingt. So spielen neben der Beachtung eines formalisierten Verfahrens das Verhalten und Auftreten der handelnden Personen eine entscheidende Rolle. Die Bereitschaft, gerichtliche Entscheidungen zu akzeptieren, ist für die Verfahrensbeteiligten davon abhängig, dass sie auf die Unvoreingenommenheit der Richter vertrauen dürfen. Jeder Anschein, dass zu Gerichtsentscheidung berufene Personen Partikularinteressen vertreten oder ihre persönlichen Werthaltungen bei der Urteilsfindung unreflektiert und ungefiltert einfließen lassen, ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Dem dienen unter anderem Regelungen zu einer einheitlichen Amtstracht der handelnden Personen. Durch die Amtstracht wird anschaulich, dass jemand eine bestimmte Rolle wahrnimmt und von dieser vereinnahmt wird. Sie markiert aber auch, dass die handelnde Person hinter dem Amt in besonderem Maße zurückzutreten hat und im Gericht ohne Ansehen der verfahrensbeteiligten Personen entschieden wird. Sie schafft eine gewisse Distanz zum Interaktionspartner, dem der Amtsträger nicht bloß „von Mensch zu Mensch“, sondern als Repräsentant des Staates begegnet. In diesem Sinne kann damit Macht und ihre Ausübung inszeniert, aber auch der Ausstrahlung von Autorität und Kompetenz aufgeholfen werden.
10. Diese Funktion der Amtstracht wird relativiert oder gar konterkariert, wenn zur Amtstracht auffällige weitere Kleidungsstücke oder Symbole treten, die eine gegenläufige Botschaft vermitteln.
11. Bei Entscheidungen darüber, ob Staatsbedienstete religiös akzentuierte Kleidung bei der Amtsführung tragen dürfen, ist zudem die polyvalente Wirkung von Symbolen zu bedenken.
12. Letztlich lassen sich die Antworten auf die mit religiöser Bekleidung in staatlichen Funktionen aufgeworfenen Fragen nicht einfach aus Verfassungsprinzipien deduzieren. Es spricht viel dafür, dass es mehrere grundrechtlich vertretbare Gestaltungsmöglichkeiten gibt, dass unterschiedliche Strategien im Umgang mit dem aufgezeigten, religiös-weltanschaulicher Pluralität eigenen Konflikt- und Gefährdungspotential gleichermaßen legitim sind. Eine Vielzahl von Wertungen fließen in die Entscheidung ein, die nicht frei von Dezisionen sein kann. Deshalb hatte die Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, hier dem parlamentarischen Gesetzgeber eine Prärogative zuzugestehen, einiges für sich.
13. Zudem: Anders als in den bisher vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen zu religiöser Bekleidung von Lehrpersonal kommt die Tätigkeit in der Justiz für eine typisierende Betrachtung und eine abstrakt-generelle Regelung eher in Betracht. In der Schule geht es um einen langfristigen, offenen Bildungsprozess, bei dem die Schülerinnen und Schüler einer Vielfalt von Eindrücken ausgesetzt werden. Als Sozialisationsort muss die Schule die gesellschaftlich vorhandene Vielfalt repräsentieren, sodass Personen in erkennbar religiöser Kleidung nicht nur als Problem für den Schulfrieden, sondern auch als Bereicherung des Bildungsgeschehens wirksam werden können. In der Justiz handelt es sich demgegenüber um sachlich und personell klar umrissene Sachverhalte, die in einem formalisierten Verfahren einer Rechtsentscheidung zugeführt werden. Der Staat tritt hier als Wahrer der Rechtsordnung und letztlich als Inhaber des Gewaltmonopols in Erscheinung. Die Interaktion der Verfahrensbeteiligten wird im Wesentlichen durch die Prozessordnungen geprägt. Die Persönlichkeit der Akteure spielt dabei anders als in der Schule eine weitaus geringere Rolle. Das spricht dafür, dass der Gesetzgeber hier eher als in anderen Tätigkeitsfeldern zu einer typisierenden Zuordnung kollidierender Rechtsgüter in der Lage ist, weil auch die Verhältnismäßigkeit typisiert geprüft werden kann.
14. Für die Beteiligung von Schöffen gelten insofern noch einmal andere Maßstäbe, als diese nicht in der Rolle professioneller Berufsrichter, sondern als Repräsentanten der Gesellschaft im Justizwesen in Erscheinung treten und hierbei ein höheres Maß an Diversität erkennbar werden kann.
15. Ein letzter Gedanke: Der Bayerische Verfassungsgerichtshof sah keinen Sachzusammenhang zwischen der mit der Popularklage angegriffenen Norm und der in Bayern verbreiteten Praxis, Gerichtsäle mit Kruzifixe oder Kreuze auszustatten. Das wirkt doch eigenartig: Schutzmaßnahmen für die gesellschaftliche Wahrnehmung der Unabhängigkeit, Sachlichkeit und Neutralität der Justiz weit im Vorfeld eines begründeten Anscheins der Parteilichkeit zu ergreifen – und gleichzeitig auf Anordnung der Justizverwaltung das religiöse Zentralsymbol des Christentums in die Verhandlungsräume aufhängen. Ihre ursprüngliche Funktion bei der Beweiserhebung (Schwur) haben diese Gerichtskreuze schon lange verloren. Sie verweisen heutzutage für diejenigen, die solche Codierungen noch entschlüsseln können, auf die (durchaus ambivalente) rechtskulturelle Prägekraft des Christentums oder auf zivilreligiöse Varianten christlicher Theologumina (etwa die demütig machende Überlegung, dass jedes irdische Bemühen um Gerechtigkeit in der nicht erlösten Welt unzulänglich bleiben muss angesichts menschlicher Unvollkommenheit). Aber wenn der Staat im Funktionsbereich der Justiz Regeln implementiert, die anstelle der traditionellen pluralen und gleichberechtigten Offenheit für die Religionen und Weltanschauungen der Bürgerinnen und Bürger einer stärker laizistisch ausgerichteten Logik folgen, muss auch eine gewisse Konsequenz dabei obwalten.
16. Auf dieser Linie hatte dereinst auch die große Kammer des (zumeist in religionsrechtlichen Fragen sehr umsichtig und klug agierenden) Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte argumentiert: Der Staat dürfe Kreuze in Klassenzimmern aufhängen, weil er auch den Schülerinnen und Schülern erlaube, ihre Religion oder Weltanschauung in das Schulleben einzutragen.
17. Rosinenpickerei dagegen ist im Recht aus guten Gründen verpönt. Deshalb: wenn der Staat aus Sorge um das Vertrauen in die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Professionalität der Justiz Richtern die Kippa und Richterinnen das Kopftuch verbietet, kann er nicht zugleich anordnen, Kreuze im Gerichtssaal aufzuhängen.
Kreuze können einfacher wieder entfernbar sein?
Das Fazit der letzten These ist sicher richtig. Die jeweils vergleichbaren Sachverhalte müssen auch gleich behandelt werden. Und zwar im Gerichtssaal wie im Klassenzimmer. Die in These 13 entfalteten Unterschiede finde ich nicht überzeugend. Die Autorität der Richterin mag formalisierter sein, dafür dauert sie nur kurz. Die des Lehrers jedoch kann jahrelang und langfristig prägen.
Das Kreuz kann im Einzelfall (auf Beanstandung oder vorsorglich) abgenommen werden. Genau wie Kippa und Kopftuch. Für alles weitere gibt es (vor Gericht) das Ablehnungsrecht wegen Befangenheit.
Mit dem pauschalen Verbot religiöser Bekleidung in der Justiz begeben wir uns der Möglichkeit und dem Erfordernis, mit Diversität in allen Lebensbereichen konkret umzugehen. Wir unterstellen dem Publikum eine religiöse Hypersensibilität und reagieren darauf mit vorgegaukelter Laizität.
Daher mein Fazit: Kreuz und Kopftuch gehören auch im Gerichtssaal grundsätzlich erlaubt. Wenn jemand damit Probleme hat, was sein gutes Recht ist, soll er es aber auch sagen (müssen).