09 November 2011

5%-Hürde: Kein Grund zur Freude (außer für die CSU vielleicht)

Das EU-Parlament ist ja gar kein vernünftiges Parlament. Also kann man es getrost mit Winzparteien und Politsektierern vollpacken. Was beim Bundestag als tödliche Gefahr für die Stabilität der Demokratie gilt, lässt sich beim EU-Parlament mit einem Achselzucken ertragen.

Das ist die Quintessenz der heutigen Entscheidung zur 5%-Hürde bei den Europawahlen aus Karlsruhe. Einer Entscheidung, die in der Hall of Fame der intellektuellen Großtaten des Zweiten Senats wohl eher in einem der abgelegeneren Ausstellungsräume ihren Platz finden wird.

Vom Ergebnis her gedacht ist der Wegfall der 5%-Hürde bei Europawahlen natürlich erstmal eine schöne Sache für FDP, CSU (Foto) und andere Splitterparteien. Ihnen bleiben in jedem Fall ein paar Posten in Brüssel/Straßburg gewiss. Gratuliere dazu. Der NPD übrigens auch. Schöner Erfolg.

Aber das ist nicht der Punkt.

Der Punkt ist für mich dieser: Der Zweite Senat springt hier wieder mal in einer Weise mit dem Parlament um, dass einem ganz schwindlig wird. Gar nicht in erster Linie mit dem Europaparlament. Sondern mit dem Deutschen Bundestag.

Bundestag als Machtkartell

Der hat das maßgebliche Wahlgesetz erlassen und sich darin für eine 5-Prozent-Hürde entschieden. Das ist seine Zuständigkeit, dafür ist er verantwortlich und niemand sonst. Dabei, so räumt die Senatsmehrheit treuherzig ein,

hat das Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe des Gesetzgebers zu übernehmen und alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen.

Aber, so der Senat weiter, eigentlich hat es dann doch genau diese Aufgabe, und zwar aus folgendem Grund:

Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle

Wie bitte? Da stellt das Gericht einfach mal so ganz gelassen in den Raum, dem Bundestag sei bei der Regelung des Wahlrechts nicht zu trauen, weil die Mehrheit sich ja doch nur die Konkurrenz vom Leib halten wolle? Unser Parlament sei ein korruptes Machtkartell und habe deshalb sei in allen Fragen des Wahlrechts ein rigoroses verfassungsgerichtliches Mikromanagement nötig?

Herr Lammert, möchten Sie sich vielleicht dazu äußern? Sollten Sie, finde ich.

Was sich seit 1979 geändert hat

Wo ich auch nicht recht mitkomme, ist die Passage, wo es um die Frage geht, was passiert, wenn die Welt sich ändert und die Prognoseannahmen des Gesetzgebers nicht mehr stimmen (RNr. 90). Dann, so die Senatsmehrheit wenig überraschend, ändert sich natürlich auch die Beurteilung des Ergebnisses. Woraus sie ableitet:

Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden.

Dazu muss man wissen, dass der Senat 1979 schon mal über die 5%-Hürde bei Europawahlen zu urteilen hatte und damals überhaupt kein Problem dabei erkennen konnte.

Diese Entscheidung kommt in der Begründung aber nur ganz am Rande vor. Mir ist bei ihrer Lektüre ehrlich gesagt nicht wirklich klar geworden, warum die 5%-Klausel 1979 zum Funktionieren des EU-Parlaments unabdingbar war und heute nicht mehr. Umgekehrt, okay. Damals hatte das EP kaum etwas zu melden, wozu also eine 5%-Hürde. Aber so herum? Großes Rätsel.

Stattdessen dekliniert uns die Senatsmehrheit vor, was das Parlament so alles tut und warum es dabei jeweils nicht so schlimm ist, ob da nun ein paar Einzelfreaks mehr oder weniger herumspringen.

Den Ausschlag scheint dann zu geben, dass das EU-Parlament keine Regierung im eigentlichen Sinne wählt. Stimmt ja auch. Dass ansonsten die Mehrheitsfindung im Parlament schwieriger wird, und das in diesen Zeiten, räumt die Senatsmehrheit zwar gleichmütig ein, befindet das aber in sehr kleinteiliger Einzelfallabwägung jeweils für okay.

Dann macht es halt selber

Das scheint mir überhaupt das Ziel des Manövers zu sein: Die Senatsmehrheit möchte uns gern weiterhin nach jeder Wahl mit ihren Gedanken zu Erfolgs- und Zählwertgleichheit plagen, bedenkenvoll den Kopf wiegen und – wie formulierten sie das so schön? – “alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst ermitteln und gegeneinander abwägen”. Der Bundestag soll mal machen, und hinterher wird dann minutiös über ihn zu Gericht gesessen, was er wieder für Blödsinn angerichtet hat.

Ich stelle hiermit den Antrag, dass doch bitte künftig gleich die Wahlgesetze in Karlsruhe formuliert werden. Dann sparen wir uns viele langweilige Debatten und Monate der Ungewissheit, während derer der Deutsche Bundestag bzw. das Europaparlament mit dem Makel leben muss, womöglich nicht zur Zufriedenheit des Bundesverfassungsgerichts zusammengesetzt zu sein. Wir sparen uns das sterbenslangweilige Ritual, dass alle möglichen Nasen sich über die “Klatsche” oder die “Ohrfeige” ereifern, die sich unsere sauberen Politiker wieder einmal eingefangen haben. Wir wissen, woran wir sind, und können alle in Frieden unseren eigentlichen Aufgaben nachgehen.

Als es um das negative Stimmgewicht ging und die Regierungskoalitionen (der Skandal ist unbenommen) nicht zu Potte kamen, hatte Voßkuhle ja ganz kühl angedeutet, dass er sich und seinem Gericht solche legislative Kompetenz schon zutrauen würde.

Also los. Schreiben Sie uns doch einen Entwurf, bitte. Den winken wir dann durchs Parlament, und Ruhe ist.

Gespaltener Senat

Dass dem Senat selbst nicht ganz wohl ist mit der Geschichte, zeigt seine Gespaltenheit: Nur fünf der acht Richterinnen und Richter tragen das Ergebnis mit, nur vier die Begründung. Ein Sondervotum haben aber nur Di Fabio und Mellinghoff veröffentlicht, die beide kurz vor dem Ausscheiden stehen, als Abschiedsgeschenk sozusagen. Das sind bekanntlich beides Juristen, mit denen ich gerade bei Europathemen eher selten auf einer Linie liege. Hier aber sprechen sie mir aus dem Herzen.

Zu diesem Stimmverhältnis ein kleines verfassungsprozessuales Fragezeichen: Nach § 15 IV 2 BVerfGG kann bei Stimmengleichheit die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht festgestellt werden. Das heißt, wenn der eine Richter, der gegen die Begründung gestimmt hat, auch gegen das Ergebnis gestimmt hätte, dann wäre die Sache anders ausgegangen.

Hat er nicht, deshalb ist das schon korrekt – aber wäre es nicht richtig gewesen, zumindest die abweichenden Gründe dieses Richters zu veröffentlichen? § 31 BVerfGG findet zwar bei Wahlprüfungssachen keine Anwendung. Trotzdem: Hinter dieser Begründung steht nicht die Mehrheit der Richter. Gerade bei dieser Entscheidung wäre ich froh gewesen zu erfahren, welche Gründe alle diese Entscheidung tragenden Richter zu ihren Schlussfolgerungen bewogen hat.

 


22 Comments

  1. Matthias Heppner Wed 9 Nov 2011 at 17:15 - Reply

    Ich kann die Begründung gegen das Urteil nicht nachvollziehen. Denn es wird hier einfach davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber (hier der Bundestag) bei der Ausgestaltung des Wahlgesetzes völlig freie Hand hätte und alles unter seiner Entscheidungsprärogative festlegen könnte.

    Dem ist aber nicht so! Ganz im Gegenteil müssen jegliche Restriktionen, wie die 5% Hürde, verfassungsrechtlich unbedenklich gerechtfertigt werden. Im Falle des Bundestags sind die historischen Erfahrungen der Weimarer Republik + generelle Erfahrungen im Ausland (z.B. Italien) zu nennen, welche die 5% für Bundestags- und Landtagswahlen rechtens erscheinen lassen.

    Jedoch haben auch die Kommunalwahlen KEINE 5%-Hürde, und hier ist das Argument wohl ähnlich wie bei den Europawahlen

    http://www.sueddeutsche.de/politik/umstrittene-sperrklausel-fuenf-prozent-klausel-bei-europawahl-ist-verfassungswidrig-1.1184555

    “Der Senat unter Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle verwies in der Urteilsbegründung allerdings auf die strukturellen Unterschiede zwischen dem EU-Parlament und dem Bundestag. Das EU-Parlament wähle keine Regierung, die auf seine andauernde Unterstützung angewiesen sei. Darüber hinaus sei die EU-Gesetzgebung nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit im Parlament mit einer stabilen Koalition abhängig. Dass die Arbeit des Parlaments durch den Einzug weiterer Kleinparteien unverhältnismäßig erschwert werde, sei nicht zu erkennen.”

    Ähnlich ist die Situation auch bei Kommunalwahlen, wo keine Regierung gewählt wird (Bürgermeisterämter sind darunter nicht zu subsumieren), welche eine unbedingte Verlässlichkeit erfordern.

    Insofern ist die Entscheidung des 2. Senats durchaus nachvollziehbar und in meinen Augen auch richtig.

  2. Max Steinbeis Wed 9 Nov 2011 at 17:23 - Reply

    Nein, nicht freie Hand. Einschätzungsspielraum heißt nicht freie Hand, und nicht freie Hand heißt nicht Mikromanagement.

  3. Matthias Heppner Wed 9 Nov 2011 at 17:34 - Reply

    Aber in deinem Text liest es sich so es so, dass du den Bundestag entscheiden lassen willst, wie Wahlgesetze auszusehen haben.

    “Wie bitte? Da stellt das Gericht einfach mal so ganz gelassen in den Raum, dem Bundestag sei bei der Regelung des Wahlrechts nicht zu trauen, weil die Mehrheit sich ja doch nur die Konkurrenz vom Leib halten wolle? Unser Parlament sei ein korruptes Machtkartell und habe deshalb sei in allen Fragen des Wahlrechts ein rigoroses verfassungsgerichtliches Mikromanagement nötig?”

    Das auch der Bundestag verfassungsrechtlichen Regelungen unterworfen ist, ist doch selbstverständlich, dafür ist es nicht einmal notwendig ein “korruptes Machtkartell” zu sehen. Der Bundestag hat durch seine gesetzgeberischen Möglichkeiten sehr viel Macht, welche durch die Verfassung reglementiert wird.

    Und die 5%-Hürde ist ein starker Eingriff in die Verfassung. Es hebelt den Grundsatz der Gleichheit der Stimme aus (Art. 38 I GG), in dem der Erfolgswert der Stimme ungleich verteilt wird.

    http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_38.html

    Der Bundestag kann also nicht einfach mit Begründungen wie “Dann kommt auch die NPD rein” etc.. einfach mal die Gleichheit der Wahl außer Kraft setzen. Und die Begründungen für die 5% Klausel, wie sie für den Bundes- und Landtag existieren, existieren in dieser Form in der Tat nicht für das Europaparlament, da die EU-Strukturen mit Kommission, etc.. (noch) nicht so stark von der Europawahl und der konkreten Zusammensetzung des Parlaments abhängen (was wiederum ein demokratisches Defizit darstellt).

    Mit der jetzigen politischen Struktur der EU ist eine 5% Klausel kaum zu rechtfertigen.

  4. Heinrich Wed 9 Nov 2011 at 22:01 - Reply

    Wie war das mit?: “Wer keine Ahnung hat einfach mal nichts schreiben”

    Nächstes Mal, wenn du wieder vor hast, ein Urteil des BVerfG zu kommentieren, bitte erst das Urteil lesen und verstehen. Verstanden hast du es nämlich offensichtlich nicht. Im Wesentlichen hat Matthias Heppner schon alles dazu gesagt.

    Und das Urteil ist eine 6 monatige Beratungszeit (nach der mündlichen Verhandlung vorausgegangen). Im Gegensatz zu deinen haltlosen Behauptungen.

  5. Guido Strack Thu 10 Nov 2011 at 01:59 - Reply

    Das Urteil von 1979 war schwach, aber selbst dort war (iZm. der 1.Direktwahl des EP) von einer Prognoseentscheidung die Rede, die an Entwicklungen zu überprüfen ist.

    Erst danach zeigte sich, dass das EP in seiner Funktionsfähigkeit durch eine immer größere Anzahl dort vertretener Parteien nicht beeinträchtigt wurde, sondern sich immer wieder in einer etwa konstanten Zahl von handlungsfähigen Fraktionen organisierte. Dies ist der entscheidende Grund meiner Beschwerde und der neuen Entscheidung.

    Etwas anderes kommt hinzu, die unterschiedliche Reversibilität bei Bundestagswahl und EP. Wenn sich irgendwann herausstellt, dass die Funktionsfähigkeit des EP in relevantem Maße durch den Wegfall der deutschen Sperrklausel beeinträchtigt wird, kann der Bundestag jederzeit diese wieder einführen. Bzgl. des Bundestags-Wahlrechts geht dies aber evtl nicht mehr. Und wenn man den Schritt im BVerfG jetzt nicht gegangen wäre, so würde man auch nie herausfinden können, ob die Gefahrenprognose wirklich stimmig ist (wohingegen die Verletzung des Grundsatzes der Erfolgswertgleichheit ja absolut sicher feststeht), sie hätte quasi eine Ewigkeitsgarantie bekommen.

    Das Urteil des BVerfG ist andererseits aber sehr wohl kritikwürdig: bezüglich seiner Folgenlosigkeit für die EU-Wahl 2009. Hier wäre zumindest eine Sitzneuverteilung ohne 2Abs.7EuWG nötig und unter Stabilitätsgesichtspunkten machbar gewesen. Insoweit ist die Begründung des BVerfG äußerst knapp und die Kritik der OSZE aus http://www.osce.org/odihr/elections/germany/40879 S.20f. erhält neue Nahrung. Dort hieß es noch:

    “It is recognized that the resolution of post-election complaints by the ESB and FCC in most cases requires considerable time.

    In case of a successful challenge, it appears that the only course of action available to rectify the identified mistake would be to invalidate the results of the election(s) in question and to repeat the polling. ”

    Auch die Frage, ob bei festgestellter Verfassungswidrigkeit und dennoch folgenloser Wahlanfechtung noch eine “wirksame Beschwerde” iSv. Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 u. 5 1.Zusatzprotokoll vorliegt werde ich wohl noch näher prüfen.

  6. Christian Boulanger Thu 10 Nov 2011 at 09:43 - Reply

    @Heinrich

    Wie wäre es mit?: “Wer keine eigenen Argumente beizutragen hat und sich nicht zivilisiert äußern kann, einfach mal nichts schreiben?”. Würde die Diskursqualität verbessern.

  7. Mäßiger Thu 10 Nov 2011 at 10:08 - Reply

    Ich bin mir nicht sicher, ob die Angaben zum Stimmverhältnis in dem Posting richtig interpretiert werden. Im Urteil heißt es: “Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen, wobei das Ergebnis von einem Mitglied des Senats aus abweichenden Gründen mitgetragen wird.” Das kann man auch so lesen, dass das Mitglied des Senats mit den abweichenden Gründen ebenfalls dagegen gestimmt hat – was durchaus Sinn ergeben kann, wenn die Mehrheit für das Ergebnis feststeht. Die Formulierung ist aber unglücklich weil offen. Warum ein Sondervotum aller dissentierenden Richter hier angebrachter sein soll als in vielen anderen politisch heiklen Verfahren, in denen solche Sondervoten auch fehlen (zB: Cicero, Rasterfahndung hins. des zweiten dissentierenden Richters, Soldaten sind Mörder hins. der Dissents 2 und 3), erschließt sich mir nicht.

    Die Polemik gegen das Urteil, über das man in der Sache sicher geteilter Meinung sein kann, kann ich auch nicht nachvollziehen. Das Argument, dass der nun einmal de facto parteipolitisch zusammengesetzte Bundestag in parteipolitisch relevanten Fragen schärfer kontrolliert wird, ist alles andere als neu und durchzieht zB das Recht der Parteifinanzierung seit langem. Das hat auch nichts mit einem Korruptionsverdacht o.ä. zu tun, sondern mit dem grundlegenden Anliegen jeder verfassungsmäßigen Ordnung, der Begrenzung politischer Macht.

  8. Max Steinbeis Thu 10 Nov 2011 at 10:59 - Reply

    @Mässiger: ach so, also 2 dissentings und eine concurring opinion? Hm. Aber eine concurring opinion hätte doch für den Tenor gestimmt, und dann wäre es nicht 5:3 sondern 6:2, oder?

    Dass in parteipolitisch relevanten Fragen schärfer kontrolliert wird, ist ja okay. Aber der Korruptions- bzw. eigentlich Kartellverdacht ist ja in der Formulierung ganz klar ausgesprochen, und das ist auch neu im Vergleich zur Kommunalwahlrechts-Entscheidung. Das hat schon noch mal eine andere Qualität, finde ich.

    @Guido Strack: Was mir gegen den Strich geht, ist die Art und Weise, wie die Senatsmehrheit, anstatt klare Maßstäbe zu formulieren für das Maß an Einschränkung, das Art. 38 um der Funktionsfähigkeit des Parlaments willen aushält, und ansonsten die konkrete Einschätzung der Gefahr dem Parlament zu überlassen, diese Einschätzung sich selbst vorbehält und en detail durchdekliniert. Das heißt doch, dass jede Wahl jetzt unter Verfassungsgerichtsvorbehalt steht. Und das noch dazu, wo dieser Vorbehalt praktisch sowieso ins Leere läuft, weil das BVerfG nie im Nachhinein ein seit Monaten oder Jahren munter Gesetze produzierendes Parlament für verfassungswidrig zusammengesetzt erklären wird. Das heißt, eigentlich hat niemand was davon, außer dass das Vorurteil bedient wird, das Parlament tauge irgendwie nichts und sei nicht legitim und so.

    Ich bin aber sehr gespannt, was passiert, wenn Sie das vor den EGMR bringen wg wirksamer Beschwerde. Das ist ein heißes Thema.

  9. Matthias Heppner Thu 10 Nov 2011 at 12:20 - Reply

    @Max Steinbeis

    Ich glaube die Sache ist die, von welchem verfassungsrechtlichen Ansatz man ausgeht.

    Ich glaube du gehst vom Ansatz aus, dass der Bundestag verfassungsrechtlich berechtigt ist das Wahlgesetz auszugestalten und nur, wenn klar ersichtlich rechtswidrig entschieden wurde, diese Regelungen durch das BVerfG zurückgenommen werden müssen. Hier könnten bloße Nützlichkeitserwägungen ausreichen, um eine solche klare Rechtswidrigkeit zu verneinen.

    Ich jedoch gehe vom Ansatz aus, dass jegliches Abweichen von Art. 38 I GG, welches die Gleichheit der Stimmabgabe postuliert, den verfassungsrechtlichen Normalfall darstellt und der Bundestag NUR dann davon abweichen darf, wenn gesicherte, verfassungsrechtlich anerkannte Gründe es rechtfertigen. Die Hürde für diese Grenze ist sehr, sehr hoch anzusetzen, bloße Nützlichkeitserwägungen, etc.. reichen nicht aus.

    In meinem Ansatz ist der Bundestag so gut wie nicht befugt an den Grundsätzen des Art. 38 I GG zu rütteln, nur in absoluten Ausnahmefällen. Du möchtest es aber eher so sehen, dass das BVerfG nur in absoluten Ausnahmefällen an der Wahlrechtsausgestaltung des Bundestages rütteln darf.

    Wie gesagt, hier sehe ich die Entscheidung des BVerG als richtig an. Zumindest solange, wie die “Regierung” Europas durch die Kommission nicht durch das Parlament gewählt wird.

    Der Korruptions- und Kartellverdacht ist ja rein systematisch auch gegegeben, da die Gesetzgebung genau dafür dienen kann. Man kann nicht gegen die Verhinderung von Machtkonzentrationen sein, nur weil man damit meint, den Namen einer ehrwürdigen Institution, wie beispielsweise den Bundestag, damit in den Schmutz zu ziehen.

  10. Wähler Thu 10 Nov 2011 at 12:46 - Reply

    Hoffentlich bekommt Nigel Farage jetzt Verstärkung aus Deutschland!!!

    Stop EUdSSR!!!

  11. Christian Boulanger Thu 10 Nov 2011 at 12:46 - Reply

    @Matthias Heppner

    Richtig. Es handelt sich hier um eine politische Einschätzung, die davon abhängt, ob man eher ein/e Vertreter/in der Parlamentssouveränität oder dafür eintritt, dass das Verfassungsgericht als Schiedsrichter der Politik darüber wacht, dass sich die gewählten Vertreter der politischen Parteien keinen unfairen Vorteil verschaffen (denn über das Wahlrecht bestimmen sie ja direkt über die Chancen, an der Macht zu partizipieren).

    Beide Positition sind valide und haben gleichermaßen Vor- und Nachteile, je nachdem, wem man mehr vertraut – den Selbstreinigungskräften der Politik oder dem weisen Ratsspruch aus Karlsruhe. Die Verfassung determiniert hier das Ergebnis (wie fast immer) nicht, was sich ja auch aus den Dissenting Votes zeigt.

  12. Max Steinbeis Thu 10 Nov 2011 at 12:56 - Reply

    @Christian, Matthias: Genau. Und dann kann man noch die Position beziehen, dass das keine kategorisch zu entscheidende Frage ist, ob Parlamentssouveränität Judicial Review toppt oder umgekehrt, sondern eine der Balance zwischen beidem. Die Position würde ich beziehen wollen.

  13. Mäßiger Thu 10 Nov 2011 at 13:09 - Reply

    Stimmverhältnisse: Ich meine nur, die Formulierung ist unklar und wir wissen es nicht genau. Klar ist zB die Formulierung im Lissabon-Urteil: “Diese Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig, hinsichtlich der Gründe mit 7:1 Stimmen ergangen.” Das Tenorargument spricht in der Tat mehr für die Deutung im Blogbeitrag.

    Kartellverdacht: Ich finde eine ehrliche Begründung allemal besser als ein großes Gewinde und Geschwurbel, wie man es zB in der Parteifinanzierungs-Saga immer wieder findet. Da wird dann immer die Gefahr heraufbeschworen, der Staat könnte sich der Parteien bemächtigen, wo es doch, wenn überhaupt, ziemlich eindeutig umgekehrt läuft. Wenn man akzeptiert, dass in parteipolitisch relevanten Fragen schärfer kontrolliert wird, muss man diese Wertung begründen. Ich sehe keinen Grund, da das Kind nicht beim Namen zu nennen.

  14. neuköllner Thu 10 Nov 2011 at 13:52 - Reply

    Dass Gesetze ganz grundsätzlich der richterlichen Kontrolle unterliegen, läßt sich unserer Verfassung wohl durchaus entnehmen (a.A. offenbar Boulanger, Post 11). Warum ausgerechnet dieses Urteil Anlaß dafür geben soll, über das Verhältnis von Parlament und Verfassungsgericht zu räsonnieren, verstehe ich nicht. Und natürlich gilt es, beim Wahlrecht dem Gesetzgeber besonders auf die Finger zu schauen, damit sich die im legalen Machtbesitz befindlichen (oder zumindest im Gesetzgebungsorgan vertetenen) Parteien nicht auf diesen eine (allzu hohe) Prämie verschaffen indem sie die nicht vertretenen Parteien übervorteilen. Ja was denn sonst? Das beeinträchtigt die Würde des Bundestages in keiner Weise sondern sichert sie eher, so dass wir nicht mit echter oder gespielter Empörung nach Prof. Lammert rufen müssen.
    Mich interessiert etwas anderes:
    Warum liegt die Wahlrechtsgesetzgebungskompetenz eigentlich nicht gänzlich in Brüssel? Ist es nicht merkwürdig (und dem Integrationsgedanken oder auch der Würde dieses Hauses abträglich), dass über die Zusammensetzung des EU-Parlaments nicht es selbst sondern vermutlich 27 unterschiedliche Wahlgesetze entscheiden? Der Grund dafür berührt vermutlich einige der Probleme, die das BVerfG im Lissabon-Urteil angesprochen hat.

  15. Christian Boulanger Thu 10 Nov 2011 at 14:27 - Reply

    @Neuköllner

    Sicherlich gibt es keinen besonderen Grund, genau an diese Entscheidung diese Debatte zu führen. Man kann sie anlässlich fast aller Entscheidungen führen, die rechtlich unterdeterminiert sind, also warum nicht an dieser? Meinerseits die Reaktion darauf, dass es Diskutanten gibt, die so tun, als fiele das Ergebnis aus dem rechtsdogmatischen Himmel und man könne nicht mit guten Gründen (die man nicht teilen muss) zu einem anderen Ergebnis kommen. Dass die Verfassung das richterliche Prüfungsrecht vorsieht und das Verfassungsgericht sich die Deutungsautorität in einem historischen Prozess erstritten hat, bestreitet niemand. Das hat aber keine (normativen) Konsequenzen für die Frage, wie weitgehend es diese Autorität ausüben soll. Darin ist es nämlich sehr frei. Das Gericht mag gute Gründe für seine Entscheidung haben, das Parlament ebenfalls, oder auch nicht. Dass das BVErfG am Ende entscheidet, schön. Finde ich auch richtig. Aber wir wollen hier ja intelligente Debatten führen und nicht einfach blind auf die Richtigkeit des Karlsruher Orakels vertrauen (Ich habe mich übrigens von den Gründen der Befürworter des Urteils überzeugen lassen).

  16. neuköllner Thu 10 Nov 2011 at 15:04 - Reply

    @ Christian Boulanger
    Dann sind wir uns einig. Mir scheint, einige der Diskutanten haben sich auch ein wenig an der Steinbeisschen Polemik gestört. Mir ging es jedenfalls so, übertriebener noch fand ich allerdings Prantl.
    Einem sturen “Verfassungsgerichtspositivismus” will ich aber natürlich auch nicht das Wort reden, anderer Meinung kann man ja -fast- immer sein.

  17. AX Fri 11 Nov 2011 at 00:48 - Reply

    Zum “Machtkartell”:
    Vom “Verdacht” des Machtkartells sprechen nur die Dissentings. Ich verstehe den Gefahrbegriff der Mehrheitsbegründung als abstrakten. Die Gefahr ist systemisch, nicht konkret. Einer solchen Sichtweise kann ich keinen Vorwurf oder Verdacht gegenüber dem Bundestag entnehmen.

    Zum Prüfungsmaßstab:
    Eine klare und kohärente Linie, wie streng der Prüfungsmaßstab auf Rechtfertigungsebene zu sein hat, verfolgen im Ergebnis weder BVerfG, noch EuGH, noch EGMR. Die Schwere des Eingriffs ist je das grundlegende Kriterium bei der Bestimmung des Prüfungsmaßstabs, das Ergebnis aber allzu häufig kaum vorherzusagen.

    Die Argumentation der Mehrheit halte ich für überzeugender als das Argument der Dissentings, es sei ja schließlich auch eine Mehrheitswahl möglich, da solle man bei einer bloßen “Annexbedingung” zur Verhältniswahl nicht “allzu feingliedrig” mit der Prüfung sein.

    Überhaupt war hier die Qualität der Dissentings noch kaum Thema, etwa die Generalabrechnung mit Piraten & Co. unter Rn. 155. Auch sollen danach (Rn. 158) schon mögliche Funktionsbeeinträchtigungen – und nicht erst eine Funktionsunfähigkeit – rechtfertigend wirken.

  18. W a e h l e r Fri 11 Nov 2011 at 15:32 - Reply

    “Heute ist das anders. Selbst neue Gruppierungen, deren Parteiprogramm kaum jemand kennt oder die erst nach der Wahl ihre Meinung zu politischen Themen erarbeiten wollen, sind fähig, aus dem Stand heraus bei einer Landtagswahl oder auch bei Bundestagswahlen die Sperrklausel zu überwinden.”

    Ich lese daraus, dass dies direkt auf die Piraten bezogen ist (eine andere Partei kommt dafür nicht in Betracht). Ich bin der Meinung, dass die Richter Di Fabio und Mellinghoff in ihrer Entscheidung nicht frei von Parteiinteressen (vermutlich der Union, die sie vorgeschlagen hatte) sind. Positiv bleibt zu erwähnen, dass diese Richter mit ihrer piratenfeindlichen Einstellung juristisch nicht durchgedrungen sind, da das Gericht bei ihrer Entscheidung (nahezu – ist leider realistischer) frei sein muss von persönlichen Parteipräferenzen der Richter!

    PS: Ich bin kein Piratenwähler! Auch wenn mir das jetzt keiner glauben wird ;) Dennoch bin ich als Wähler an einem Wahlrecht interessiert, dass alle Parteien GLEICH behandelt!

  19. Coccodrillo Sat 12 Nov 2011 at 18:15 - Reply

    @Wähler (#18): Für die Piraten müsste die 5%-Hürde doch kein Problem sein – die scheinen sich in den letzten Wochen ja einigermaßen stabil darüber etabliert zu haben (falls das bis zur nächsten Europawahl hält). Sorgen sollten sich nach Stand der Dinge eher FDP und CSU machen, insofern ist nicht nachzuvollziehen, inwiefern man Di Fabios und Mellinghoffs Sondervotum auf Parteiinteressen zurückführen sollte. Davon abgesehen, kommt es ja weniger auf die Personen als auf die Argumente an, mit denen es mit geht wie Max Steinbeis: Erstaunlich, dass ausgerechnet diese beiden bei einem Europathema so gute Punkte gemacht haben.

    Ansonsten bestätigt das Urteil leider nur wieder einmal die Haltung, die das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Europäischen Parlament schon öfter eingenommen hat: nicht wirklich demokratisch, nicht wirklich wichtig, eigentlich verzichtbar. Am schönsten finde ich den Abschnitt, wo das ordentliche Gesetzgebungsverfahren auseinander genommen wird, um zu zeigen, dass man auch für die EU-Rechtsetzung eigentlich gar keine Mehrheit im Europäischen Parlament braucht (Absätze 120-122). Wenn sich das Parlament nämlich nicht auf eine Mehrheitsposition einigen kann, dann erlassen die Regierungen im Rat den Rechtsakt eben einfach alleine – Problem gelöst. Was kümmert es das Bundesverfassungsgericht, ob EU-Verordnungen eine parlamentarische Legitimation haben oder nicht!

    Etwas mehr dazu hier:
    http://foederalist.blogspot.com/2011/11/zum-sperrklausel-urteil-des.html

  20. Grundgesetz Sun 13 Nov 2011 at 10:15 - Reply

    “Wie bitte? Da stellt das Gericht einfach mal so ganz gelassen in den Raum, dem Bundestag sei bei der Regelung des Wahlrechts nicht zu trauen, weil die Mehrheit sich ja doch nur die Konkurrenz vom Leib halten wolle? Unser Parlament sei ein korruptes Machtkartell und habe deshalb sei in allen Fragen des Wahlrechts ein rigoroses verfassungsgerichtliches Mikromanagement nötig?”

    Ich denke, das BVG ist endlich in der Realität angekommen. Sicher, als gefestigter Demokrat will man so etwas nicht wahrhaben, doch sollte man sein positives Menschenbild auch mal reflektieren.

    Bestes Beispiel ist doch die seit Jahren nicht radifizierte Uno-Konvention gegen Korruption.

    PS: interessanter Blog

  21. Guido Strack Thu 31 May 2012 at 14:53 - Reply

    Nur zur Info. Ich habe mittlerweile eine Beschwerde zum EGMR gegen das Urteil des BVerfG eingereicht:
    http://guido-strack.de/pdf/EGMR_Beschwerde.pdf

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