15 April 2015

Nackt in der Zelle: Menschenwürde im deutschen Strafvollzug

Ein Mensch wird mit Gewalt nackt ausgezogen und in eine Isolierzelle gesperrt. Einen Tag und eine Nacht sitzt er dort, dem lidlosen Auge der Überwachungskamera ausgesetzt, frierend, schlaflos, total entblößt. Und weder in der Verwaltung noch in der ordentlichen Gerichtsbarkeit findet er irgendjemand, der dafür mehr als ein Achselzucken übrig hat.

Das ist nicht in Weißrussland passiert und nicht in Abu Ghraib, sondern mitten in Deutschland, in einem ganz normalen hessischen Gefängnis. Das entnehmen wir einer heute veröffentlichten Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die wieder einmal eindrucksvoll demonstriert, worin der handfeste Nutzen der so oft als unjuristischer Sentimentalismus belächelten Menschenwürdegarantie des Art. 1 I Grundgesetz besteht.

In dem Fall war einem psychisch “auffälliger” Häftling in der JVA Kassel I zum wiederholten Male ein Termin für eine Zahnbehandlung versagt worden. Als Protest dagegen hatte dieser angefangen, gegen seine Zellentür zu treten und zu schlagen. Daraufhin stürmten Beamte seine Zelle, fesselten seine Hände auf den Rücken, brachten ihn in den Keller in einen “besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände mit durchgehender Kameraüberwachung”, zogen ihn nackt aus und sperrten ihn ein. Eine Decke und eine Hose erhielt er erst am nächsten Tag.

Wie viel Gewalt dabei im Spiel war und in welchem Zustand sich die Zelle befand, ist umstritten. Glaubt man dem Häftling, ging es bei der Fesselung und dem Transport ziemlich rabiat zu. In der Zelle sei es kühl gewesen, er habe so gefroren, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen habe, und obendrein habe die Toilette nicht funktioniert, und Klopapier gab es auch keins. Glaubt man der JVA, war alles in bester Ordnung. Warm genug jedenfalls war es, der Entzug der Kleidung zum Schutz gegen Selbstgefährdung des Gefangenen notwendig, und wäre die Toilette kaputt gewesen, wäre das in der Videoüberwachung doch aufgefallen. Dass man dem Häftling keine Ersatzkleidung ausgehändigt habe, begründete man mit der Besorgnis, dass er diese womöglich ins Klo hätte stopfen und so eine Überschwemmung herbeiführen können.

Was davon nun stimmte, blieb unermittelt. Das LG Kassel fand es am bequemsten, der JVA zu glauben und deren Darstellung in sein Urteil zu übernehmen. Weder der Häftling noch irgendeiner der beteiligten JVA-Beamten wurde befragt. Niemand interessierte sich dafür, was bei der Fesselung und beim Transport genau passiert war. Niemand ermittelte, welche Temperatur in der Zelle denn nun geherrscht habe. Niemand wollte wissen, ob das Klo nun kaputt war oder nicht. Niemand machte sich die Mühe, nachzubohren, ob und welche Anzeichen es für eine Selbstgefährdung des Häftlings gegeben habe. Niemand störte sich daran, dass sich die JVA in allerlei Widersprüche verwickelt hatte. Als der Häftling sich beim OLG Frankfurt beschwerte, stieß er ebenfalls auf taube Ohren: Das OLG wies seine Beschwerde aus formalen Gründen als unzulässig ab.

Dies reicht allein schon, um das BVerfG zum Einschreiten zu bringen. Mit beißender Schärfe ruft die Kammer dem LG Kassel den Amtsermittlungsgrundsatz und seine Pflicht, dem Häftling gegen Grundrechtsverletzungen effektiven Rechtsschutz zu gewähren, in Erinnerung. Auch das OLG Frankfurt kommt nicht ungeschoren davon: Bei einem so eklatant missratenem Urteil das Rechtsmittel dagegen allein aus formalen Gründen für unzulässig zu erklären, verstoße ebenfalls gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz.

Vor allem aber ist das Urteil des LG Kassel auch materiell verfassungswidrig. Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, ist nach dem ersten und obersten Artikel des Grundgesetzes Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dem Staat sei danach

jede Behandlung verboten, die die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, seinen Verdiensten oder der Schuld, die er auf sich geladen hat, allein aufgrund seines Personseins zukommt.

Für den Strafvollzug bedeutet dies, dass der Staat seinen Gefangenen gegenüber “die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins” wahren und garantieren muss. Wenn er ihn aber nackt ausziehen und per Video überwachen lässt, dann tut er das nicht. Dann verletzt er seine Intimsphäre. Und das darf er nicht. Schon gar nicht, um ihn vor einer Selbstgefährdung zu schützen, für die es keinerlei Anhaltspunkt gibt, außer dass er vor lauter Frust gegen seine Zellentür getreten hatte, zumal schon die Videoüberwachung genügt hätte, um eine Selbstgefährdung auszuschließen. Und schon überhaupt gar nicht um “bloßer Ordnungsbelange” willen – wie etwa zu verhindern, dass er das Klo verstopft und seine Zelle unter Wasser setzt.

Schon 2011, wenige Tage nach dem Urteil des LG Kassel, hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem anderen parallelen Fall die deutsche Praxis, Häftlinge nackt in eine videoüberwachte Zelle zu sperren, als Verstoß gegen das Verbot von Folter und erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) gebrandmarkt. Mit seinem heutigen Kammerbeschluss richtet das BVerfG, wie es sich im europäischen Verfassungsgerichtsverbund gehört, die verfassungs- und die völkerrechtlichen Verpflichtungen der deutschen öffentlichen Gewalt parallel zueinander aus.

In dem Urteil des EGMR kommt die Menschenwürde unmittelbar nicht vor, in dem Beschluss aus Karlsruhe schon. Das erscheint mir hervorhebenswert.

Die JVA-Beamten in Kassel sind keine Folterknechte (davon gehe ich jetzt mal aus), und die Richter am LG Kassel keine Apologeten von Gefangenenmisshandlung. Ich vermute, sie waren einfach in der Funktionslogik des Strafvollzugs gefangen. Strafvollzug muss, wie jede Institution, funktionieren. Wenn einer gegen die Zellentür wummert, weil er nicht zum Zahnarzt gehen darf, wenn einer Alarm schlägt, weil er nach einer Decke verlangt, dann wird er aus dieser Perspektive zu allererst als Troublemaker wahrgenommen, als einer, der stört. Zumal man ja alles tut, um auf ihn aufzupassen. Die Videoüberwachung bleibt die ganze Nacht an, und selbst der noch so fern liegende Gedanke, er könnte sich mittels einer Papierunterhose selbst was antun, reicht aus, um sie ihm vorsichtshalber vorzuenthalten. Wenn Strafvollzug bedeutet, jemandem die Freiheit, für sich selbst zu sorgen, zu nehmen und die Verantwortung, dass ihm nichts passiert, zu verstaatlichen, dann hat der Strafvollzug hier ganz prächtig funktioniert.

Die Menschenwürde zwingt die Institutionen von Staat und Gesellschaft dazu, in ihrem gnadenlosen Funktionieren innezuhalten und die Perspektive zu wechseln: Moment, wir haben es hier nicht nur mit einem Rädchen in unserer Institution zu tun, sondern mit einem Menschen. Mit einem Menschen, dem die Zähne weh tun, der sich ärgert und wütend wird und der jedenfalls bitteschön in der Nacht seine Blöße bedecken möchte.

Die Beamten und Richter in Kassel haben sicherlich obendrein jede Menge haarsträubender juristischer Fehler begangen. Aber vor allem haben sie versäumt, diesen Perspektivwechsel vorzunehmen. Die an der Menschenwürde als oberstem Wert des Grundgesetzes aufgehängte Grundrechtsordnung verpflichtet sie mit allem Nachdruck dazu. Jurist_innen sind mehr als jeder andere Berufsstand dem Funktionieren von Institutionen verpflichtet. Daher ist es gar kein Wunder, dass sie diese merkwürdige Menschenwürde-Sache oft als unjuristischen Philosophen- und Theologenkram empfinden und bisweilen geneigt sind, sie aus dem Auge zu verlieren. Um so wichtiger ist es, dass es in Karlsruhe Verfassungsrichter_innen gibt, mit denen sie in diesem Falle Ärger bekommen.


6 Comments

  1. Peter Camenzind Wed 15 Apr 2015 at 21:38 - Reply

    Es handelt sich doch um eine Sicherheitsmaßnahme im Strafvollzug.
    So viel Auswahl an zur Vermeidung von Gefahren ebenso effektiven, verhältnismäßigeren Sicherheitsmassnahmen könnte es im Strafvollzug bei (gewalttätig) rebelierenden Gefangenen evtl. gar nicht geben.
    Einzelhaft oder Fesselung o.ä. könnte demgegenüber stets noch ein erhöhtes Risko beinhalten. All dies schiene mit Blick auf Verhältnismäßigkeit und Menschenwürde ebenfalls problematisch, ebenso wie “Wegspritzen” im Maßregelvollzug etc..
    Allerdings scheint dies momentan niemand sonst weiter näher problematisieren zu wollen.
    Wahrscheinlich benötigte das BVerfG mal wieder eine Möglichkeit, sich beim “Souverän” als Hort von Gerechtigkeit auszuzeichnen, was ja zumindest beim Artikelverfasser bereits gefruchtet zu haben scheint.

  2. schmidt123 Thu 16 Apr 2015 at 09:35 - Reply

    “Um so wichtiger ist es, dass es in Karlsruhe Verfassungsrichter_innen gibt, mit denen sie in diesem Falle Ärger bekommen.”

    Äh, helfen Sie mir mal bitte auf die Sprünge: Welcher Ärger ist gemeint?
    Wird wegen dieser systematischen Rechtsbeugung auch nur einer der Verantwortlichen seinen Posten verlieren? Wird jemandem das Gehalt gekürzt oder wird in seiner Personalakte ein Vermerk abgeheftet, der die Karrierechancen hemmen könnte?

  3. Th. Koch Fri 17 Apr 2015 at 08:59 - Reply

    Es gehört zu den Eigenheiten der Demokratie- und Rechtsstaatssimulation in Deutschland, dass sie sich derartige Entscheidungen leistet. Wesentlich ist aber natürlich, dass die Folge einer solchen Entscheidung allenfalls ein Moment der Heiterkeit in der Gerichtskantine ist, wenn festgestellt wird, dass RiLG Soundso den Ritterschlag einer Aufhebung durch das BVerfG erhalten hat….

  4. […] Her­zen Der Ad­hä­si­ons­an­trag — Prak­tisch, aber nicht un­ge­fähr­lich Nackt in der Zelle: Men­schen­würde im deut­schen Straf­voll­zug Wer trägt die Kos­ten? Be­zeich­nung ei­nes Rich­ters als „Lüg­ner“ und […]

  5. Steinlehner Barbara Sun 1 Apr 2018 at 22:07 - Reply

    Ich habe die Inhumanität des Strafvollzugs am eigenen Leib erlebt.Es geht mir nicht um die Strafe an sich.Ich habe einen Menschen getötet,dafür gibt es nicht die geringste Rechtfertigung.Was ich in all den Jahren hinter “Gittern”erlebt habe spottet jeder Beschreibung.Nun Frage ich mich ernsthaft.Wer ist “kriminell”?Und wer bestimmt eigentlich,was “verboten und was erlaubt ist.Soviel an Verantwortungslosigkeit,Vertuschung,Heuchelei und Amtsmissbrauch habe ich weder in meinem beruflichen Umfeld noch in meinem persönlichen Umfeld jemals erlebt.

  6. Steinlehner Barbara Sun 1 Apr 2018 at 22:14 - Reply

    Ich habe es am eigenen Leib erlebt.Auch nach 1.4.Jahren macht mich das Erlebte immer noch fassungslos.Strafe.o.k,aber was hinter den Mauern geschieht,Betrügereien,Psychoterror etc,isz unglaublich-von Fairness und Rechtsstaatlichkeit-Menschenwürde,Persönlichkeitsrechte,Humanität?Und damit meine ich nicht “die Inhaftierten

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