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16 April 2015

Nudges polarize!

Die Vorstellung, dass Regierungen auf „Nudges“ zurückgreifen, um Entscheidungen der Bürger zu beeinflussen, polarisiert, vor allem unter Juristen. Die einen betrachten diesen verhaltenswissenschaftlichen Ansatz als faszinierenden und attraktiven Weg der Politikgestaltung. Die Aussicht auf billige und sich gleichsam selbständig vollziehende Regulierungsinstrumente klingt gerade in finanziell harten Zeiten verlockend und lässt diese „sanften“ Interventionen als bestechende Alternative zu konventionellen Regulierungsmechanismen erscheinen. Andere hingegen beschwören die Gefahr eines überfürsorglichen Staates herauf, der mit „Psycho-Tricks“ seine Bürger manipuliert. Verglichen mit traditionellen Politikinstrumenten wie etwa Steuern sind Nudges eher hintergründige Regierungsaktivitäten, die nur schwer durch demokratische Prozesse zu kontrollieren sind und damit leicht außer Kontrolle geraten können. Obwohl eine starke Polarisierung im politischen Diskurs heutzutage nicht unüblich ist, lohnt es sich, die Hintergründe dieser emotional und leidenschaftlich geführten Kontroverse in den Blick zu nehmen.

Die Angelsachen: Speerspitze des Nudging

Die ersten prominenten Fälle staatlicher Interventionen auf verhaltenswissenschaftlicher Basis waren im angelsächsischen Raum zu beobachten: Sowohl der Premierminister des Vereinigten Königreichs David Cameron als auch US-Präsident Barack Obama befürworteten den Einsatz von Nudging. Kontinentaleuropäische Regierungen schlossen sich dem verhaltenswissenschaftlichen Ansatz an – aber später und zögerlicher. Entsprechend dieser Verzögerung fällt im „alten Europa“ eine bemerkenswert ausgeprägte Opposition gegenüber Nudging ins Auge: Die jüngste (zögerliche) Entwicklung in Deutschland, verhaltenswissenschaftlich informierte Politikansätze zu etablieren, wurde von heftiger Kritik in der Presse und einer ausgeprägten Skepsis der juristischen Ministerialbürokratie in Berlin begleitet. Dieses Muster gibt Anlass zu zwei Fragen: Warum waren die angelsächsischen Gesellschaften, die sonst dem Staat so misstrauisch gegenüberstehen, Pioniere der verhaltenswissenschaftlichen Politikgestaltung? Und woher kommt der kontinentaleuropäischen Skepsis gegenüber Nudging?

Gesellschaftliche Vorlieben und rechtliche Debatte

Die angelsächsische Debatte ist gekennzeichnet von Skepsis gegenüber staatlichen Interventionen, was Regulierung zu einem schwierigen Unterfangen macht, da beinahe jede Intervention als Eingriff in individuelle Freiheiten und als staatlicher Paternalismus gesehen wird. Mit seinem Fokus auf Interessen und Rechten von Individuen oder Gruppen kann man das vorherrschende Regierungsmodell als Konkurrenzdemokratie bezeichnen. Steuern einzuführen oder zu erhöhen ist praktisch unmöglich. Nudges und das Konzept eines „sanften“ oder „libertären“ Paternalismus kann somit als Weg verstanden werden, der Politik Spielräume zu eröffnen, sodass die politischen Kräfte wieder eine gemeinsame Basis für Verhandlungen finden — oder ganz unverblümt als (naive?) Beschwichtigungsstrategie, um Republikanern und Libertären staatliche Regulierung schmackhafter zu machen.

In Kontinentaleuropa und vor allem im deutschen Verfassungsrechtsdiskurs wird der Staat nicht so sehr als unabhängige, aus sich heraus bestehende Entität betrachtet, sondern — ausgehend von einem etwas anderen Freiheitsbegriff — als Mechanismus der kollektiven Selbstbindung. Regulierung gilt nicht in erster Linie als Einschränkung individueller Rechte, sondern als verfassungsrechtlich gerechtfertigte Förderung des Allgemeinwohls — was von US-Juristen gern als Resultat eines konkordanzdemokratischen Systems interpretiert wird. Damit einher geht, neben anderen Besonderheiten des kontinentaleuropäischen Rechts, die hohe Bedeutung einer Balance zwischen individuellen und kollektiven Rechten. Wenn diese Balance gelingt, ist auch das Einführen bzw. Erhöhen von Steuern kein Problem. Der Begriff des „Paternalismus“, ob sanft oder hart, ist der öffentlichen und juristischen Debatte fremd.

Aus dieser Perspektive steht die Idee des Nudging quer zu den Kategorien des deutschen Rechts. Zu allererst wird das Konzept als rhetorischer Trick angesehen, der Anlass zu Skepsis gibt. Wenn so unterschiedliche Dinge wie GPS-Routenplanung, Energieeffizienzsiegel und Default-Regeln für Organspenden zur Sprache kommen, dann sieht das aus rechtlicher Sicht wie ein Gemischtwarenladen regulatorischer Ansätze aus. Da scheint es vernünftiger, jede Maßnahme einzeln und für sich zu diskutieren.

Hinzu kommt, dass viele der Instrumente, die unter dem Begriff Nudge zusammengefasst werden, schon vor Gericht diskutiert und geprüft worden sind (z.B. Kennzeichnung und Bereitstellung von Informationen) – und die Frage der Angemessenheit der Mittel (verpflichtende Gesetze oder Interventionen, die die Entscheidungsfreiheit wahren) hat dabei nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Andere Instrumente wie etwa die Einführung einer Default-Regeln für Organspende sind umstritten, aber vor allem im politischen und nicht im rechtlichen Sinne.

Schließlich gibt es rechtliche Bedenken gegen die Methode, die Wirkung und Funktionsweise von Politikansätzen durch randomisierte kontrollierte Studien zu erforschen, also Individuen nach dem Zufallsprinzip unterschiedlichen Politiken zu unterwerfen, was als „Ungleichbehandlung von Gleichen“ dem Prinzip der Gleichbehandlung zu widersprechen scheint. Diese Bedenken gelten einer Methode, die zwar mit Nudging zusammenhängt, aber nicht Nudging-spezifisch ist. Randomisierte Kontrollstudien sind ganz generell ein mächtiges Instrument zur kausalen Politikevaluation, und die Vorzüge und Nachteile dieser Methode sollten unabhängig vom verhaltenswissenschaftlichen Politikansatz gesehen werden.

Recht, Politik und Juristenausbildung

Abgesehen von den unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen variiert die rechtliche Debatte in den angelsächsischen und den kontinentaleuropäischen Ländern je nach ihrer politischen Einbettung. Viele US-Rechtswissenschaftler sind in der Politikberatung aktiv, manche arbeiten direkt für die Regierung (wie etwa früher Cass Sunstein). Die Rechtswissenschaft ist stark politikorientiert und richtet sich eher an den Gesetzgeber als an die Rechtsanwender in Verwaltung und Justiz. In Mitteleuropa ist das typischerweise umgekehrt. Gesetzgebungswissenschaft findet nur selten statt, und empirische Untersuchungen zu Verhaltensreaktionen werden unter Juristen kaum diskutiert. Das heißt jedoch noch nicht, dass Juristen mit Politik nichts zu tun haben wollen. Im Gegensatz zu ihren US-Kollegen wenden sich deutsche Juristen, wenn sie sich äußern, in erster Linie an Gerichte (vor allem an das Verfassungsgericht) und an die (nicht politische) Verwaltung; und sie formulieren ihre politischen Argumente als Fragen der „richtigen Auslegung“ des Gesetzes, die sie mit Hilfe von Hermeneutik und Dogmatik zum Ausdruck bringen.

Diese Unterschiede in der Rolle der Juristen spiegeln sich in und werden verstärkt durch die Juristenausbildung. Bis heute ist das normative Ideal der Juristenausbildung in Deutschland das Richteramt (weshalb Juristen ein Staatsexamen ablegen und kein „bar exam“ vor der Anwaltskammer). Juristen sind dazu da, das Recht anzuwenden — nicht es zu gestalten. Die Judikative hat das Recht zu verstehen, es zu interpretieren — also Hermeneutik zu betreiben. Verhalten zu steuern dagegen ist Sache der Legislative. Überdies sind die juristischen Fakultäten in Deutschland keine Graduiertenschulen. Amerikanische Juristen haben vor ihrem Jurastudium eine Ausbildung in einer anderen Disziplin durchlaufen, oftmals Ökonomie oder Politikwissenschaften, und beginnen ihr Jurastudium schon mit einer Vorprägung. Im Gegensatz dazu werden deutsche Jurastudenten nur selten mit anderen Disziplinen konfrontiert, und wenn doch, dann zumeist mit solchen, die ebenfalls hermeneutisch und dogmatisch argumentieren, wie Rechtsphilosophie oder -geschichte. Aus diesem Grund sind viele deutsche Juristen schlecht gerüstet, Fragen der Verhaltensintervention zu diskutieren. Sie stützen sich meist (gezwungenermaßen) auf Argumente des gesunden Menschenverstands statt auf empirische Fakten. Verhaltenslenkung war bisher bis zu einem gewissen Grad ein blinder Fleck.

Und dieser blinde Fleck wirkt in die Politik hinein. Die meisten Führungspositionen in deutschen Ministerien sind von Juristen besetzt. Und diese Politiker-Juristen werden natürlich stark beeinflusst durch ihren Ausbildungshintergrund — Fragen der Verfassungsmäßigkeit, systematische Argumente und vorherrschende juristische Dogmatik spielen eine wichtigere Rolle als Verhaltensaspekte. Es überrascht somit nicht, dass die Juristen in der deutschen Verwaltung Nudging nicht mit offenen Armen empfangen haben.

Warum gewinnt Nudging dann in der Rechtswissenschaft an Terrain?

Rechtswissenschaft und Juristenausbildung in Deutschland erfahren derzeit einen spürbaren Wandel. Sie internationalisieren sich; einige Universitäten richten ihr Programm statt am Staatsexamen an Bachelor/Master-Abschlüssen aus oder bieten zusätzliche Studiengänge wie z.B. Law and Economics an. Projekte wie das German Law Journal gewinnen im Diskurs an Bedeutung. Die Max-Planck-Gesellschaft hat ökonomische Abteilungen in einer Reihe vormals rechtswissenschaftlich geprägter Institute eingerichtet. Der Wissenschaftsrat hat kürzlich empfohlen, in der deutschen Juristenausbildung internationale und interdisziplinäre Perspektiven zu stärken.

Diese Entwicklungen schließen an die lange Tradition der Rechtssoziologie und der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft an, ebenso wie an die langjährige Forderung des Bundesverfassungsgerichts, die Verhaltensauswirkungen staatlicher Interventionen stärker in den Blick zu nehmen. Die funktionale Perspektive des Rechts gewinnt an Gewicht, und mit ihr der Fokus auf die empirische, verhaltensbezogene Dimension des Rechts.

Diese Entwicklung lädt ein zu interdisziplinären Einsichten, die im rechtswissenschaftlichen Diskurs an Bedeutung gewinnen. Die Nudging-Debatte ist gewissermaßen eines der frühen Diskussionsthemen dieses neuen Diskurses. Verhaltensargumente erweisen sich ironischerweise in der deutschen Rechtsdebatte als besonders effektiv, gerade weil diese so sehr an der Dogmatik hängt: Es gibt wohl definierte „Schleusenbegriffe“, über die verhaltenswissenschaftliche Einsichten ins Recht eindringen können, wie unbestimmte Rechtsbegriffe, Ermessens- und Beurteilungsspielräume, das Verhältnismäßigkeitsprinzip usw. Und Verhaltensargumente auf solider empirischer Basis sind überzeugender als konventionelle Argumente des gesunden Menschenverstands.

Wir haben den Eindruck, dass ein Großteil der Polarisierung in der Nudging-Debatte in Deutschland sich nicht auf den Inhalt – der zumeist entweder unumstritten oder zumindest wohlbekannt ist – sondern auf die Methodik bezieht. Die Polarisierung ist das Produkt der Geburtswehen der verhaltenswissenschaftlichen Perspektive. Der schwammige Begriff Nudging ist dabei vermutlich nicht der beste Ansatzpunkt, um diese methodologische Debatte zu führen. Es wird aber noch viele Debatten dieser Art geben – Pandoras Büchse wurde geöffnet. Am Ende wird ein empirisch fundierter Verhaltensansatz fest im deutschen Recht und in der deutschen Rechtswissenschaft verankert sein.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Maximilian Steinbeis


3 Comments

  1. Peter Camenzind Thu 16 Apr 2015 at 07:11 - Reply

    Seit den Zeiten des alten Roms lief die Diskussion doch bisher unter dem Begriff “Brot und Spiele” o.ä. Nun also “Nudging”.

  2. One more thing Thu 16 Apr 2015 at 18:51 - Reply

    Da Herr Towfigh eine so schöne Habilitationsschrift vorgelegt hat (“Demokratie ohne Parteien”), könnte man ihn hier auch als Privatdozent vorstellen. Akademische Titel “nudgen” ja schließlich ebenfalls manchmal – jedenfalls manche, oder?

  3. […] Towfigh und Christian Traxler fragen in ihrem Beitrag, warum die Debatte um „nudges“ so spät im deutschen rechtswissenschaftlichen Diskurs […]

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