Vielleicht ist ein Brexit-Referendum gar nicht das Schlechteste
Die Engländer_, Schott_, Waliser_ und Nordir_innen haben gewählt, und es ist Gewissheit: In zweieinhalb Jahren wird es ein Referendum über die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union geben. Die Tories haben versprochen, eins abzuhalten, wenn sie gewinnen, und gewonnen haben sie ohne Zweifel: It’s In or Out.
Und das finde ich jetzt, wo das geklärt ist, gar nicht unbedingt so übel.
Zum einen sieht es eh nicht so schlecht aus für die In-Seite. Je länger das Referendum in der Diskussion ist, desto mehr neigt sich die Waage zu ihrer Seite, die im Augenblick in den Umfragen eine solide Mehrheit hat. Das kann man mit der britischen Krämerseele zu erklären versuchen, pragmatisch und dem Freihandel zugeneigt und am Ende doch sehr gut in der Lage zu wissen, was sie am Binnenmarkt hat. Aber das lässt sich auch ohne sozialkulturelle Stereotypen erklären: Referenden polarisieren, sie teilen die Nebel politischer Interessenvielfalt, Licht und Schatten treten plötzlich scharf hervor, aus einer ganz spezifischen Perspektive zwar, aber immerhin: Man kann etwas erkennen. Referenden mobilisieren, sie erzwingen ein Bekenntnis, zumindest vorbereitend, man kommt nicht länger damit davon, dass man nachdenklich den Kopf wiegt und “schwierig, schwierig” murmelt. Wenn davon die In-Seite bisher mehr profitiert hat als die auch bisher schon mehr als genug polarisierte und mobilisierte Out-Seite, überrascht mich das nicht.
Dazu kommt ein Punkt, auf den Steve Peers hinweist: Man kann so enthusiastisch für Out kämpfen wie man will, am Ende wird man verhandeln müssen, mit Brüssel und den anderen Mitgliedsstaaten über die genauen Modalitäten des Austritts. Es bleibt immer eine Restunsicherheit, die man nicht kontrolliert. Das war beim Schottland-Referendum mutatis mutandis auch schon so. Und wie beim Schottland-Referendum geht die Unsicherheit, wie die Austrittsverhandlungen verlaufen und wie das ausgetretene Land am Ende da stehen wird, so ganz allein und auf sich gestellt, voll zu Lasten des Out-Camps. Better safe than sorry: das könnte, wie im Fall Schottland, durchaus den Ausschlag geben am Ende.
Neuverhandlungen
Cameron will aber schon vorher Verhandlungen führen, dazu ist das Referendum ja da: Er hat eine Liste von Forderungen, vor allem zur EU-Freizügigkeit und zu Sozialleistungen für Migranten, für die er Änderungen in den EU-Verträgen fordert. Und von dem Maß, in dem er mit diesen Forderungen durchdringt, wird wohl abhängen, ob die britische Regierung ihr Gewicht hinter In oder hinter Out werfen wird.
Die EU-Institutionen und die anderen großen Mitgliedsstaaten wollten bisher von der Idee, die Verträge aufzuschnüren, überhaupt nichts wissen. Aber wenn das jetzt eine offizielle Position der britischen Regierung ist und nicht nur ein Wahlkampfslogan der von UKIP hart bedrängten konservativen Partei, dann werden sie sich damit beschäftigen müssen.
Na gut, solange es wirklich nur ganz kleine und periphere Änderungen sind, heißt es jetzt in Kommission und Rat. Aber warum so schüchtern?
Was ich mich frage: Ist dies vielleicht nicht sogar eine einmalige Gelegenheit, eine Reihe von Vertragsänderungen durchzuführen, die wir für die Bewältigung der immer noch ungelösten Probleme der Währungsunion dringend brauchen? Weder die deutsche noch gar die französische Regierung traut sich da im Augenblick aus der Deckung – aber vielleicht stellt sich das anders dar, wenn ohnehin eine mit UK verhandelte Vertragsänderung ins Haus steht, die dann ja wohl ebenfalls in Frankreich und den anderen Mitgliedsstaaten durch ein Referendum müsste. Dies ließe sich auch öffentlich ganz anders verkaufen – nicht als Integrationssprung mit entsprechender, Kieferkrämpfe auslösender Verfassungs- und Föderalrhetorik, sondern als ohnehin notwendige, problem- und lösungsorientierte Auseinandersetzung zwischen Eurozone und Rest-EU.
Könnte das Brexit-Referendum am Ende als Befreiungsschlag wirken, der die leisetreterische, intergouvernementale Durchwurstelei, die die EU-Politik seit der Eurokrise kennzeichnet, beendet? Wenn es so käme, dann wäre der gestrige Wahlabend in UK ein Ereignis, das künftige Europahistoriker feiern werden.
So traurig es ist, dass es vielleicht nur das “Brexit-Szenario” sein kann, das die Chance zu überfälligen Neuordnungen in der EU eröffnet, so mutig sollte das angegangen werden. Am Ende sollten sich dabei weniger die britischen Wünsche nach weniger Einwanderungs-Liberalität und sozialer Grundversorgung dieser Einwanderer als vielmehr aus dem Schwung des britischen Referendums ein geläuterter Europa-Enthusiasmus entwickeln. Im Augenblick ist davon wenig zu spüren. Die Geschichte der europäischen Einigung kennt viele Beispiele dafür, dass aus unerwarteten Ereignissen ungeahnte Chancen werden. Man kann dazu auf gut Europäisch nur sagen: Bon courage!
Harald Loch
Man kann das so sehen, wie in dem Artikel argumentiert. Realpolitisch wird aber durch die UK-Position in der EU das Rosinenpicken ausbrechen. Jeder (Staat) wird dann seine Vorteile (bei Neuverhandlung der Verträge) suchen. Ob das die EU insgesamt voranbringt, bleibt zweifelhaft. Fraglos sind aber Reformen notwendig. Ob die britische Position dieser Fraglosigkeit etwas gutes beisteuert, wage ich zu bezweifeln.