„Haircut“ für Griechenland? (Un-)mögliche Frisuren eines Schuldenschnitts
Die hohen Schulden schnüren Griechenland die Kehle zu. Gerade erst bescheinigte der Internationale Währungsfonds (IWF) den Griechen, dass ihre Schuldentragfähigkeit nicht mehr gewährleistet sei. Die unheilvolle Kombination aus niedrigen Primärüberschüssen und unzureichenden Reformen machten frühere Prognosen – so der IWF – hinfällig.
Eine Rückkehr zur Schuldentragfähigkeit aus eigener Kraft scheint kaum noch möglich. In dieser Situation wird der Schuldenschnitt aktueller denn je. Selbst der IWF bringt einen „haircut“ zugunsten von Griechenland ausdrücklich ins Gespräch. Seitdem nimmt die Diskussion an Fahrt auf – während die deutsche Regierung ihn bisher kategorisch ablehnt, stehen ihm die Franzosen deutlich aufgeschlossener gegenüber.
Wir erinnern uns: Bereits 2012 gab es einen Schuldenschnitt für Griechenland. Damals wurde die Schuld gegenüber privaten Gläubigern gestutzt. Dieses Mal allerdings sollen die öffentlichen Gläubiger Verzicht üben. Das macht die Diskussion politisch so heikel – schließlich geht es jetzt um das Geld der Steuerzahler.
Wer zum Friseur geht weiß: Man kann viel und man kann wenig abschneiden. Und auch hier gilt: Es gibt solche Schuldenschnitte, und es gibt solche. In der Diskussion sind vor allem diese fünf Varianten. Erstens: Die Streckung der Kreditlaufzeiten. Zweitens: Die Absenkung der Zinszahlungen. Drittens: Eine Umwandlung der Kredite in langfristige zinslose Anleihen. Viertens: Ein Schuldenerlass auf die Nominalschuld durch die Mitgliedsstaaten oder den ESM. Fünftens: Ein Forderungsverzicht der EZB auf die Staatsanleihen in ihrem Portfolio.
Soviel vorweg: Erstens und zweitens gab es für Griechenland schon in der Vergangenheit, dürften aber gerade noch rechtmäßig sein. Viertens und fünftens wären hingegen wohl rechtswidrig. Drittens liegt in einer Grauzone.
Warum? Dreh- und Angelpunkt ist das „no bailout“-Verbot in Art. 125 I AEUV – danach dürfen Union und Mitgliedsstaaten nicht für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedsstaaten haften. Die Logik hinter diesem Verbot ist folgende: Es soll gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Verschuldung dem Marktdruck unterworfen bleiben, um so die Haushaltsdisziplin zu wahren. Deshalb ist grundsätzlich jeder finanzielle Beistand verboten, der diesen Anreiz unterminiert. Kredite aus dem European Stability Mechanism (ESM) und anderen Hilfsmaßnahmen sind deshalb rechtlich so umstritten. Der EuGH hat sich erstmalig in seinem ESM-Urteil zur Auslegung der no-bailout-Klausel in Bezug auf die Nothilfen geäußert. Damals akzeptierte das Verfassungsgericht finanziellen Beistand aus dem ESM nur unter drei Auflagen.
- Finanzieller Beistand darf nicht den Anreiz auslösen, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Zu deren Sicherung müssen „strenge Auflagen“ bestehen, die geeignet sind, um den Mitgliedsstaat „zu einer soliden Haushaltspolitik“ zu bewegen.
- Der Empfängerstaat muss gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleiben, d.h. die Mitgliedsstaaten dürfen keine Schulden übernehmen.
- Die gewährte Finanzhilfe muss zurückgezahlt werden und der zurückzuzahlende Betrag muss um eine angemessene Marge – sprich Zinsen – erhöht werden.
Legt man diesen Maßstab an den jetzt diskutierten Schuldenschnitt an, ergibt sich folgendes Bild:
Erstens würden – zumindest beim Erlass der Nominalschuld – die Schulden Griechenlands direkt auf die Geberländer übertragen, ihre Haftung wäre unmittelbar ausgelöst und der Tatbestand des Art. 125 I AEUV wäre erfüllt.
Zweitens wird der Anreiz zur Haushaltsdisziplin trotz Auflagen umso geringer, je substantieller auf die Rückzahlung der Kredite verzichtet wird. Hierbei bestehen allenfalls graduelle Unterschiede. Verlängerte Laufzeiten und Zinsabsenkungen lassen die Nominalschuld bestehen und damit auch den Druck, ihre Rückzahlung durch Haushaltskonsolidierung zu ermöglichen. Hingegen wird beim (teilweisen) Schuldenerlass der Nominalschuld eine Anreizwirkung erzeugt, die eine gesteigerte Form des „moral hazard“ darstellt. Konnte der Staat bislang im schlimmsten Fall mit Finanzhilfen der anderen Mitgliedsstaaten rechnen, so kann er nunmehr sogar auf einen Schuldenerlass spekulieren – das unterminiert jeden Anreiz zur Haushaltskonsolidierung. Auflagen können zwar grundsätzlich den Marktdruck ersetzen. Zugespitzt heißt das: Wenn man Griechenland jetzt einen Teil seiner Nominalschuld erließe, wird es in Zukunft auf weitere Schuldenschnitte spekulieren, seine Haushaltsanstrengungen nachlassen.
Drittens hebt der Erlass der Nominalschuld die Rückzahlungspflicht auf, die der EuGH in seinem ESM-Urteil gefordert hatte. Und auch die im ESM-Urteil in Bezug genommene „angemessene Marge“ wird mit Zinssenkungen und Fristverlängerungen zunehmend in Frage gestellt und beim Schuldenerlass und zinslosen Anleihen gänzlich über Bord geworfen.
Noch eindeutiger stellt es sich bei einem Forderungsverzicht durch die EZB dar. Er wäre gleichbedeutend mit monetärer Staatsfinanzierung, die nach Art. 123 Abs.1 AEUV verboten ist. Denn erwirbt die EZB zunächst Staatsanleihen zum Zweck der Wiederherstellung der geldpolitischen Funktionsfähigkeit der Währungszone und erfolgt später ein Schuldenschnitt auf erworbene Anleihen, wäre dies als verbotene Finanzierung von Regierungen über Zentralbankgeld zu bewerten. Ein Forderungsverzicht käme einer „Umwidmung“ des ursprünglich geldpolitischen motivierten Ankaufgrundes gleich, wenn der Erwerb nachträglich dazu eingesetzt wird, Staaten durch finanzielle Stabilisierung vor der Insolvenz zu bewahren. Kein Wunder, dass die EZB eine Beteiligung an einem Schuldenschnitt kategorisch ausschließt.
Das Urteil des EuGH zum OMT-Beschluss der EZB bestätigt das (konträr Goldmann). Zwar akzeptiert der EuGH, dass von der EZB gekaufte Staatsanleihen durch markttypisches Verlustrisiko bei einem Zahlungsausfall wertlos werden können. Beim Schuldenschnitt geht es aber um die aktiv und zielgerichtet herbeigeführte Schuldenerleichterung – eine solche aber ist für den EuGH nicht zulässig. Besonders deutlich wird das an den Schlussanträgen des Generalanwalts Villalón zum OMT-Urteil, denen sich der EuGH in diesem Punkt erkennbar anschließen wollte. Für ihn war für die Vereinbarkeit mit Art. 123 AEUV gerade entscheidend, „dass die EZB nicht aktiv dazu beitragen wird, dass es zu einer Umstrukturierungsmaßnahme kommt, sondern dass sie die vollständige Erfüllung des Darlehensanspruchs aus dem Schuldtitel anstreben wird“ – das hatte die EZB im Verfahren auch stets beteuert. Eine EZB, die einen Schuldenschnitt aktiv betreibt und auf Forderungen verzichtet, handelt rechtswidrig.
Kurzum: Die Diskussion um einen Schuldenschnitt für Griechenland ist aktuell allgegenwärtig. Die europarechtlichen Grenzen sind eng. Ein (Teil-)Erlass der Nominalschuld verstieße gegen das Bailout-Verbot; ein Forderungsverzicht der EZB gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung. Weniger bedenklich sind kleinere Modifizierungen der Finanzhilfen in Form von Zinssenkungen, der Stundung von Zinszahlungen und Verlängerung der Laufzeiten, die den Programmländern auch in der Vergangenheit bereits gewährt wurden.
Bei zinslosen Schuldtiteln entfällt der Zins und damit ein Element, um von einer Äquivalenz der Auflagen mit Marktkonditionen auszugehen, auf die es dem EuGH in seinem ESM-Urteil ankam. Allerdings: Kann es einen erheblichen Unterschied für das Rechtswidrigkeitsurteil machen, ob das Programmland nur – wie schon heute – einen minimalen Zins oder gar keinen Zins zahlt? Marktkonform ist weder das eine noch das andere. Zentral ist hingegen, dass die Rückzahlungspflicht der Nominalschuld bestehen bleibt.
Die Euro-Regierungschefs scheinen diese differenzierte Beurteilung – bisher jedenfalls – im Blick zu haben. Jüngst stellten sie Griechenland Erleichterungen in Form verlängerter Kreditlaufzeiten in Aussicht. Ein nominaler Schuldenerlass bleibt hingegen Tabu – es bleibt abzuwarten bleibt, ob dieses Gebot der europäischen Verträge dem wirtschaftlichen und politischen Druck wird standhalten können.
Lieber Achim,
vielen Dank für Deine Ausführungen. Eine kurze Replik:
1) Zu Art. 125 AEUV: Hinsichtlich der ersten Voraussetzung (Anreiz zu solider Haushaltspolitik erforderlich) sind wir uns völlig einig. Die zweite Voraussetzung (keine Haftungsübernahme durch ESM im Verhältnis zu Drittgläubigern) wäre auch im Falle eines vollständigen Erlasses der offiziellen Schulden erfüllt. Was Du als dritte Voraussetzung bezeichnest (Rückzahlungs- und Zinszahlungspflicht), ist im Urteil Pringle nicht als Voraussetzung des Art. 125 AEUV formuliert. Es dient dem EuGH nur als Indiz für die Einhaltung der zweiten (!) Voraussetzung, d.h. dafür dass der ESM nicht in Altschulden eintritt. Vgl. Para. 139 von Pringle.
Was mir zudem nicht einleuchtet: Wenn Senkungen der Zinslast bzw. Verlängerungen der Laufzeit nach allgemeiner Ansicht zulässig sind, wieso nicht die Reduktion des Nominalwertes? Unter dem Strich führt beides zu einer finanziellen Entlastung von Griechenland. Das ist ein Formalismus, der mit der teleologischen Herangehensweise des EuGH in Pringle kaum in Einklang zu bringen ist.
2) Zu Art. 123 AEUV: Ein einseitiger Default soll zulässig sein, nicht aber ein u.U. viel schonenderer, ausgehandelter Haircut, bei dem man auch noch Bedingungen für fortgesetzte Haushaltskonsolidierung vereinbaren könnte? Läuft das nicht auf ein a minus ad maiorem hinaus? Überträgt man die Logik von Pringle, müsste eigentlich genau das Gegenteil gelten.
Herzliche Grüße
Matthias
Lieber Matthias,
vielen Dank für Deine Replik.
Ich stimme Dir zu, dass die Grenzziehung zwischen Zinserleichterung/Laufzeitverlängerung (erlaubt) und Nominalschulderlass (nicht erlaubt) formalistisch wirkt, insbesondere weil beide unter dem Gesichtspunkt der Marktäquivalenz einen Schnitt auf die Schuld bedeuten, die Griechenland auf dem Markt zahlen müsste. Gleichwohl macht die Differenzierung unter dem Gebot von Art. 125 AEUV (Keine Übernahme der Verbindlichkeiten) Sinn, weil eben die Grund- bzw. Nominalschuld unangetastet bleibt, sie also nicht übernommen wird.
Jedenfalls sollte Pringle nicht auf die Konditionalität als Substitut für Marktdruck beschränkt werden. Entscheidend ist, dass die Mitgliedsstaaten durch den Erlass die Verbindlichkeit übernehmen, die Rückzahlungspflicht vollständig aufgehoben wird. Du magst Recht haben, dass der EuGH die Rückzahlungspflicht in Pringle im Zusammenhang mit dem Eintrittsverbot diskutiert; gleichwohl schärft das Erfordernis der Rückzahlungsverpflichtung das Anforderungsprofil für Hilfen unter Art. 125 AEUV. Ich habe das in JZ 2013, 1148ff. ausführlicher darzulegen versucht.
Ob der einseitige Default schonender ist als der bewusst und gezielt herbeigeführte Erlass auf die griechischen Anleihen im EZB-Portfolio ist eine interessante Frage, aber für das Vorliegen der monetären Staatsfinanzierung nach Art. 123 AEUV nicht relevant. Es geht um die fiskalpolitische Entlastungswirkung (bei gleichzeitig nicht vorhandener geldpolitischer Motivation). Erst kauft die EZB Staatsanleihen, um den Transmissionsmechanismus zu gewährleisten, dann verzichtet sie ohne geldpolitisches Motiv auf die Rückzahlung und entkräftet damit den Marktdruck – das erfüllt meines Erachtens Art. 123 AEUV.
Viele Grüße,
Armin (nicht Achim :)
Lieber Armin,
(entschuldige den falschen Vornamen)
danke für die Ausführungen und den Hinweis auf Deinen JZ-Aufsatz. Zu Art. 125 möchte ich mich nicht wiederholen. Ich kann nur dafür pädieren, Rn. 139 des Pringle-Urteils in ihrem Kontext zu lesen, nämlich dem des Eintrittsverbots. Dann folgt daraus kein Verbot eines Haircuts. Indem Du es dekontextualisierst, wandelt sich ein deskriptives Statement des EuGH in ein präskriptives.
Deine Ausführungen zu Art. 123 AEUV finde ich dagegen sehr bedenkenswert. In der Tat hat die EZB nur ein geldpolitisches Mandat. Ein Haircut seitens der EZB müsste sich also wohl – auch – geldpolitisch motivieren lassen. Könnte dies nicht möglich sein, wenn man erstens anerkennt, dass Geldpolitik und Fiskalpolitik eng miteinander zusammen hängen, besonders in Krisen; zweitens, dass eine für die ganze Eurozone einheitliche Geldpolitik (vgl. OMT-Urteil) mit einem Pleitestaat mit Pleitebanken nicht mehr möglich ist; sowie drittens strenge Verhältnismäßigkeit wahrt? Wir haben derzeit ja bereits eine solche Situation; Geldpolitik ist in Griechenland nicht mehr möglich, der Transmissionsmechanismus über den credit channel völlig zusammengebrochen. Natürlich hätte eine solche geldpolitisch motivierte Maßnahme massive fiskalische Auswirkungen, aber nach der OMT-Entscheidung macht sie das nicht automatisch unzulässig. Zugleich wäre Art. 123 damit an deutlich höhere Anforderungen geknüpft als Art. 125, so dass der erforderliche Abstand zwischen beiden Normen gewahrt bliebe.
Herzliche Grüße
Matthias
@Steinbach
Ich stimme Ihrer Analyse zu. Man könnte sogar noch deutlicher werden: Das no-bailout-Verbot untersagt, dass die Mitgliedsstaaten in die Verbindlichkeiten eines anderen Landes eintreten. Aber genau das würde geschehen bei einem Haircut: Deutschland würde die Schulden Griechenlands gegenüber Deutschland einfach übernehmen.
@Goldmann
Ich empfehle Ihnen die Lektüre des Art. 125 AEUV. Ihre sogenannte teleologische Auslegung bricht den Wortlaut. Im ESM-Urteil war das nicht so offensichtlich, dort konnte teleologisch argumentiert werden. Aber der Schuldenerlass ist offensichtlich contra legem. Erstaunlich auch, wie Sie sich über die Einschätzung des BMF lustig zu machen scheinen. Aber das scheint ja bei Wissenschaftlern üblich zu sein.