29 March 2016

Pressefreiheit im Strafprozess und ihre Grenzen

Die heutige Entscheidung Bédat v. Schweiz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lässt sich für Journalisten, die ein waches Gefühl für liberale Freiheitsrechte und ein noch wacheres für ihre eigenen professionellen Interessen besitzen, leicht skandalisieren: “Straßburg lässt die Pressefreiheit im Stich!” wäre eine mögliche Überschrift. “Straßburg billigt Kriminalisierung von Justizberichterstattern!” eine andere.

Ich bin auch ein professioneller Journalist, und in punkto Sorge um liberale Freiheitsrechte lasse ich mich  für gewöhnlich ungern von irgendwem übertreffen. Trotzdem, oder gerade deswegen, komme ich zu einem anderen Schluss: Ich halte das heutige Urteil der Großen Kammer für richtig.

Die Frage, über die der Straßburger Gerichtshof heute zu entscheiden hatte, ist fundamentaler Natur: Inwieweit darf der Staat, wenn er ein mutmaßliches Verbrechen justiziell aufzuarbeiten versucht, sich dabei die Gesellschaft, die in ihrem Entsetzen über das Vorgefallene nach jemand schreit, den sie hassen kann, mit den Mitteln des Strafrechts vom Leibe halten? Oder einfacher formuliert: Ab wann darf er Journalisten, die geheime Ermittlungsdetails publizieren, bestrafen?

In dem Fall ging es um einen offenbar psychisch kranken Mann, der 2003 von der Großen Brücke in Lausanne gesprungen war, nachdem er mit seinem Auto drei Menschen getötet und acht weitere verletzt hatte. Dem Kläger, einem Journalisten namens Arnaud Bédat, war es gelungen, die Verhörprotokolle sowie mehrere an den Ermittlungsrichter gerichtete Briefe des Autofahrers in seine Hände zu bekommen. Aus diesem Material baute er einen Artikel, der im Stil einer Live-Reportage gehalten war – atemloser Telegrammstil, im Präsens, ganz als sei er selber dabei in jenem düsteren Verhörzimmer der Lausanner Kriminalpolizei und schaue ihr über die Schulter, als der Urheber dieser fürchterlichen Tat zum ersten Mal Rede und Antwort steht, stellvertretend für seine Leserschaft, die schockierte, traumatisierte Lausanner Öffentlichkeit, und natürlich weiß er bzw. weiß sie auch schon, was sie davon zu halten hat, was sie da sieht…

Six hours after his tragic headlong race along the Lausanne Bridge, resulting in three deaths and eight casualties, this reckless driver is alone for the first time, facing three investigators. Will he own up? In fact he doesn’t actually seem to realise what is happening, as if oblivious to the events and all the hubbub around him. The man who upset the whole of Lausanne this fine summer day is not very talkative. This Algerian citizen is withdrawn, introverted, inscrutable, indeed completely impenetrable. And yet the questions are flying from all sides. What were the reasons for this ‘accident’, one of the policemen rather clumsily writes, as if he had already formed his opinion. Four words in reply: ‘I do not know’.”

Dann zitiert Kollege Bédat aus den Briefen dieses “Algerian citizens” an den Ermittlungsrichter:

On 11 July, three days after the events, he even asked to be temporarily released for ‘a few days’. ‘I would like to phone my big brother in Algeria’, he subsequently begged. He finally announced on 11 August that he had come to a ‘final decision’: he dismissed his lawyer, Mr M.B., on grounds of ‘lack of trust’. Two days later, another letter: could the judge send him ‘the directory of the Bar Association of the Canton of Vaud’ to help him find a different defence lawyer? However, with all the recurrent lies and omissions, the mixture of naivety and arrogance, amnesia and sheer madness characterising all these statements, surely M.B. is doing everything in his power to make himself impossible to defend?

Bédat wurde wegen Veröffentlichung geheimer Dokumente zu einer Geldstrafe von 4000 Franken verurteilt, und das Bundesgericht billigte 2008 diese Verurteilung. Im Juli 2014 fand eine Kammer des EGMR mit knapper Mehrheit, dass dies das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletze. Heute kam die Große Kammer mit 15 : 2 Stimmen zum gegenteiligen Schluss.

Natürlich müsse es über schwebende Strafverfahren öffentlichen Meinungsaustausch geben können, schreiben die Richter_innen im Mehrheitsvotum. Aber in der anderen Wagschale liege das Recht auf einen fairen Prozess (Art. 6 I EMRK), was eine unvoreingenommene Richterbank und die Unschuldsvermutung impliziert, sowie das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafjustiz. Und die wiegen in den Augen der Mehrheit in diesem Fall schwerer.

Zwei Dinge scheinen mit an diesem Votum besonders interessant zu sein:

Zum einen untersucht der Gerichtshof, was Herrn Bédats Berichterstattung zu dem “öffentlichen Interesse” an dem Strafverfahren nach dem Vorfall auf der Große Brücke von Lausanne überhaupt beizutragen hatte. Hier unterscheidet der Gerichtshof, wie vor ihm schon das Schweizer Bundesgericht, zwischen dem wirklichen öffentlichen Interesse und bloßer öffentlicher Neugier an allerhand juicy details über den Täter einer solch grausigen Tat.

Das ist eine heikle Unterscheidung, denn die Grenze zwischen “öffentlicher Debatte” und bloßen “Sensationalismus” verläuft gefährlich nahe an feinbeiniger Differenzierung zwischen Edelfedertum und Bildzeitungs-Bäh. Aber im Kontext von Strafprozessen – im Unterschied zu, sagen wir, Enthüllungen über außenpolitische Vorgänge – scheint mir das den springenden Punkt doch ganz gut zu treffen.

Strafprozesse sind deshalb eine große zivilisatorische Errungenschaft, weil sie einer von einer schlimmen Tat traumatisierten Gesellschaft den Raum verschaffen, den Verursacher dieser Tat, bevor sie an ihm Rache nimmt, noch zu sehen. Er wird als Mensch sichtbar. Die Gesellschaft schaut ihn sich an, nimmt ihn wahr, seine Geschichte, seine Qualen, seine eigenen Traumatisierungen. Und erst dann, und nur, wenn sie dann immer noch findet, dass er schuldig ist, fügt sie ihm Böses zu, um seine Tat zu sühnen. Dazu bindet sie sich rechtlich. Dafür sind die Rechte des Beschuldigten in einem fairen Prozess da.

Die Gesellschaft, die sich in Gestalt des Journalisten Bédat in das Verhörzimmer drängt und über die Briefe an den Ermittlungsrichter beugt, die hat aber ganz etwas anderes im Sinn. Die schreit “Der hat sie doch nicht alle!” Und zwar nicht im Sinn einer möglicherweise eingeschränkten Schuldfähigkeit, sondern im Sinn von “weg mit ihm!” Im Sinn von “Aufgehängt gehört er!” Die presst gegenüber dem Menschen, mit dem sie es zu tun hat, die Augen ganz fest zu.

Sie daran unter Strafandrohung zu hindern, finde ich auch und gerade unter dem Aspekt liberaler Freiheitsrechte vollkommen legitim.

Der zweite interessante Aspekt an dem Urteil betrifft das Recht des beschuldigten Amokfahrers an seinem Privatleben. Der Mann hatte nämlich selbst überhaupt nicht gegen die Veröffentlichung seiner Briefe und Verhöraussagen geklagt. Kann dieses Recht hier trotzdem als positive Verpflichtung des Staates, es zu schützen, in die Wagschale fallen? Jawohl, so die Mehrheit: Das kann es.

Wie kann es überhaupt zu einem Konflikt zwischen Meinungsfreiheit auf der einen und Recht auf Privatheit auf der anderen Seite kommen, wenn derjenige, um dessen Recht auf Privatheit es geht, dasselbe überhaupt nicht in Anspruch nimmt, fragen die beiden Dissenter Luis Lopez Guerra und Ganna Yudkiwska. Die ukrainische Richterin wirft der Mehrheit “Paternalismus” vor: Sie schütze jemanden, der offenbar gar nicht geschützt werden wolle.

Richterin Yudkiwskas Votum ist ein faszinierendes Stück verfassungsvergleichender Gelehrsamkeit, und von anderen Rechtssystemen einschließlich dem amerikanischen zu lernen, finde ich toll. Auf der anderen Seite bin ich sehr froh darüber, dass anders als das US-Strafprozessrecht das kontinentaleuropäische den Strafprozess nicht als reinen Kampf zwischen strafen wollendem Staat und sich dagegen nach Kräften wehrendem Rechteinhaber inszeniert. Der Mann, um dessen Recht auf Privatleben es hier geht, ist inhaftiert und obendrein mutmaßlich psychisch schwer krank, wie das Mehrheitsvotum betont. Vor allem aber steht er im Fokus eines Strafverfahrens. Er wird bedrängt von einer Gesellschaft, die ihm an den Kragen will. Der Staat steht in der Veranwortung, diese Bedrängnis zu kontrollieren, dazu ist – wie gesagt – das Strafverfahren da. Diese Verantwortung impliziert auch, nicht einfach mit den Achseln zu zucken, wenn die Gesellschaft sich in sein Intimleben hineindrängelt, als sei das nur irgendein Vorgang, wo Private untereinander ihre Konflikte austragen und man sich darauf verlassen kann, dass sie sich schon wehren werden, wenn ihnen dabei Unrecht geschieht. Paternalismus? Vielleicht. Aber im Kontext von Strafverfahren ist das kein Vorwurf, vor dem einem Rechtssystem unbedingt bange sein sollte.


2 Comments

  1. Peter Camenzind Thu 31 Mar 2016 at 18:32 - Reply

    Klingt etwas nach Grundrechtskollison o.ä. Eine verhältnismäßige Auflösung davon kann etwa beinhalten, dass grundsätzlich nur die Verbreitung von Inhalten hinsichtlich eines enger intimeren Persönlichkeitsbereiches verboten sein kann. Verbreitung von psychischen Erkrankungen und entsprechende Anzeichen kann vielleicht dazu gehören mögen. Für eine verhältnismäßige Auflösung hiervon kann zudem etwa noch erwägbar sein, dass zwar eine Verbreitung grundsätzlich verboten, aber eventuell nur eingeschränkt strafbar sein kann. Dies beispielsweise nur, bei sicherer Kenntnis eines Verbreitungsverbotes vielleicht im Hinblick auf psychische Erkrankungen und Anzeichen davon o.ä.

  2. Uwe Kranenpohl Thu 31 Mar 2016 at 20:55 - Reply

    Wäre interessant gewesen, wie der Erste Senat in Karlsruhe das gelöst hätte. Einerseits interpretieren die Richter dort die Meinungsfreiheit eher noch weiter als Straßburg. Andererseits ist die Notwendigkeit zum Schutz des Persönlichkeitsrechts ja nicht von der Hand zu weisen.

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