07 April 2016

Mit den eigenen Waffen geschlagen: Die Reaktion des EuGH auf den unbedingten Vorrang der Menschenwürde vor dem Unionsrecht nach dem BVerfG

Der EuGH bewegt sich – aber er gibt dabei klar die Richtung vor. Das ist das Fazit zu seinem Urteil von vorgestern zum europäischen Haftbefehl. Die Antwort auf eine Vorlage des OLG Bremen, in der es um die Auslieferung aufgrund eines europäischen Haftbefehls bei der Gefahr menschenrechtswidriger Haftbedingungen im ersuchenden Staat ging, war zuletzt mit besonderer Spannung erwartet worden. Denn das BVerfG hatte vor kurzem einen Auslieferungsfall nach Italien zum Anlass genommen, nach Jahrzehnten die Solange-Rechtsprechung für den Anwendungsbereich der Menschenwürde in den Ruhestand zu verabschieden: Künftig hat Art. 1 Abs. 1 GG über den Hebel der Identitätskontrolle, und zwar ungeachtet des generellen Grundrechtsschutzstandards in der EU, immer Vorrang vor kollidierenden unionsrechtlichen Verpflichtungen (die im Anlassfall aber gar nicht bestanden, s. dazu und zur generellen Würdigung der Entscheidung meinen Besprechungsaufsatz in Heft 16 der NJW, das nächste Woche erscheint). Dies konnte von europäischer Seite kaum unwidersprochen bleiben, weil das BVerfG nicht nur das letzte Wort im europäischen Grundrechtsschutz für sich reklamiert, sondern dies unter Verweis auf den Schutz der nationalen Identität durch die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV auch noch als europarechtskonform ausweist. Da das OLG Bremen den EuGH vor einiger Zeit gefragt hatte, ob es unionsrechtlich dazu berechtigt oder sogar verpflichtet sei, die Auslieferung aufgrund eines europäischen Haftbefehls zu verweigern, wenn dem Betroffenen im ersuchenden Staat menschenrechtswidrige Haftbedingungen erwarten (zu den Ausgangsfällen den Beitrag von Steinbeis), bestand die Gelegenheit eines schnell eingeleiteten Konters, die der Gerichtshof sich nicht hat entgehen lassen.

Die wechselseitige Überlappung von insgesamt drei europäischen Grundrechtsordnungen stellt deshalb eine so große Herausforderung dar, weil es nicht nur um den jeweiligen materiellen Schutzstandard bei Mehrfachbindungen geht, sondern diese Probleme immer auch institutionelle Konflikte repräsentieren, weil verschiedene Gerichte um Kontrollansprüche und damit auch um ihre jeweiligen Einflusssphären ringen. Die Reaktion des EuGH ist vor diesem Hintergrund ein wohl überlegter und tragfähiger Kompromiss für den europäischen Grundrechtsschutz, weil der Gerichtshof mit jedenfalls in der Tendenz deutlich konzilianterem Zungenschlag als noch in Melloni auf die materiell-rechtliche Besorgnis des BVerfG eingeht, sich aber zugleich den von diesem intendierten institutionellen Konsequenzen entschieden widersetzt. Der EuGH betont, und das ist an sich eine Binsenweisheit, dass der Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl und die auf seiner Grundlage getroffenen Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Gerichte an die Grundrechte gebunden sind (Rn. 82 ff.). Dies sind aus unionsrechtlicher Sicht allerdings die Grundrechte der EU; ob daneben auch die mitgliedstaatlichen Grundrechte angewendet werden, ist dem EuGH, der den strikten Trennungsansatz des BVerfG eben nicht teilt, seit jeher mit Recht einerlei, solange diese parallele Anwendung den Vorrang des Unionsrechts nicht beeinträchtigt. Die Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls darf – natürlich! – nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Betroffenen im ersuchenden Staat führen, wobei die enge Verzahnung von Art. 4 GRCh mit der Menschenwürdegarantie und die Betonung ihres absoluten Charakters (Rn. 85 ff.) die Folge davon sind, dass das BVerfG seinen Neuansatz des Grundrechtsschutzes gegenüber Unionsrecht auf Art. 1 Abs. 1 GG bezieht und wegen Art. 79 Abs. 3 GG auch beziehen musste.

Die Betonung der zentralen Bedeutung des vom BVerfG im Bereich des Auslieferungsrechts doch beträchtlich relativierten gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten eingangs der Entscheidung (Rn. 76 ff.) weist unter Bekräftigung, dass allein das Unionsrecht – nicht gesagt, aber gemeint ist: nicht die nationalen Grundrechte! – Gründe für die Verweigerung einer Auslieferung aufgrund eines europäischen Haftbefehls enthalten, den europäischen Weg für das Grundrechtsproblem: An die Stelle des vom BVerfG vorgezeichneten nationalen Sonderwegs eines unbedingten Schutzes der Menschenwürde notfalls auch gegen das Unionsrecht tritt der Schutz der Menschenwürde und der übrigen Grundrechte durch das Unionsrecht, wobei dieser Weg ggf. unter Einschaltung des EuGH zu beschreiten ist. Darauf beschränkt sich die Vergemeinschaftung des Grundrechtsproblems aber nicht – vielmehr sichert der Gerichtshof seinen mit der materiellen Geltung der Unionsgrundrechte verbundenen institutionellen Vorrang verfahrensrechtlich recht ausgiebig ab: Zunächst einmal, und dies geht auch an die Adresse des OLG Düsseldorf, das sich seine Sache im Ausgangsfall der BVerfG-Entscheidung mit seiner mangelnden Sachaufklärung zu leicht gemacht hatte, muss sehr akribisch aufgeklärt werden, ob den Betroffenen in seinem konkreten Fall nach der Überstellung wirklich ein Grundrechtsproblem im ersuchenden Staat erwartet (Rn. 89 ff.). Dieser Aufklärungspflicht korrespondieren unionsrechtliche Informationspflichten (Rn. 97), die wiederum an die Adresse der italienischen Generalstaatsanwaltschaft im Ausgangsfall des OLG Düsseldorf gehen, die auf dessen Fragen nur unzureichend geantwortet hatte, wie es im Auslieferungsverkehr offenbar häufiger der Fall ist, aber nicht sein sollte. Besteht dann ein Konflikt zwischen der Auslieferung und den Unionsgrundrechten des Betroffenen, ist die Vollstreckung aufzuschieben, aber nicht aufzugeben. Und das hat zwei Konsequenzen: Erstens ist der Betroffene aus Verzögerungsgründen ggf. freizulassen, wobei die vollstreckende Justizbehörde sicherzustellen hat, dass sich der Betroffene der Auslieferung dann nicht entzieht (Rn. 100 ff.) – das macht diesen Weg, und das ist vielleicht auch intendiert, nicht eben attraktiv. Zweitens ist das Einzelproblem an Eurojust zu kommunizieren und wird im Fall wiederholter Verzögerungen in Bezug auf den gleichen Mitgliedstaat politisiert, indem der Rat damit zu befassen ist und sich des Kollisionsproblems zwischen europäischem Haftbefehl und Unionsgrundrechten annehmen kann (Rn. 99). Damit wird sichergestellt, dass systemische Probleme gelöst werden, bevor sie das europäische Auslieferungssystem massiv beeinträchtigen.

Alles in allem stellt der Gerichtshof ein enges verfahrensrechtliches Regime für Verweigerungen von Auslieferungen aus Gründen des Grundrechtsschutzes auf. Da mit dem Durchlaufen dieses Verfahrens der Befürchtung des BVerfG, bei der Vollstreckung europäischer Haftbefehle sei möglicherweise der Schutz der Menschenwürde materiell-rechtlich nicht hinreichend sichergestellt, begegnet werden kann, besteht für die deutschen Fachgerichte erst einmal kein Anlass dafür, unmittelbar den konfrontativen Weg der Begrenzung unionsrechtlicher Pflichten unter Verweis auf Art. 1 Abs. 1 GG zu beschreiten.

Natürlich wird sich dabei im Einzelnen erweisen müssen, ob dieses Verfahren unter Einschaltung des EuGH auch zu einem hinreichend wirksamen materiellen Grundrechtsschutzstandard führt. Es gibt aber angesichts der jüngeren Rechtsprechungsentwicklung und auch angesichts dieses Urteils, in dem der Schutz vor menschenwidrigen Haftbedingungen in jedem Einzelfall ja mit Recht stark gemacht wird, derzeit keinen Grund dafür, dies ernsthaft zu bezweifeln. Erst einmal nimmt der EuGH dem BVerfG recht geschickt den Wind aus den Segeln, denn man kann ihm nicht vorwerfen, sich nur um seine institutionelle Position, nicht aber um das Grundrechtsproblem gekümmert zu haben. Indem er sich mit dem Grundrechtsproblem auch um seine institutionelle Position kümmert, folgt er lediglich dem Vorbild des BVerfG.


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