Kalter Entzug: Auch Junkies haben Menschenrechte
Drogenabhängigen, die im Gefängnis sitzen, darf der Staat nicht ohne weiteres den Zugang zu Substitutpräparaten wie Methadon verweigern. Mit diesem Urteilsspruch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg der bayerischen Drogenbekämpfungs- und Justizvollzugspraxis heute ordentlich einen mitgegeben. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive finde ich an der Entscheidung aber vor allem etwas anderes interessant – nämlich, wie unterschiedlich die Welt aussieht, wenn man mit den Augen eines Menschenrechtsgerichtshofs bzw. einer bayerischen Strafvollstreckungskammer betrachtet.
Zum Fall: Geklagt hatte ein Häftling aus der JVA Kaisheim in Bayerisch-Schwaben, der seit über 40 Jahren schwerst heroinabhängig ist. Der Mann hatte bereits fünf erfolglose Entzugstherapien hinter sich und befand sich über 17 Jahre in einer Substitutionstherapie, bis er 2008 wegen Drogenhandels verhaftet wurde. Er wurde zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und erst mal in eine weitere Entzugstherapie gesteckt, die nach ein paar Monaten mit der Prognose beendet wurde, dass der Mann sowieso nicht von seiner Sucht loskommen werde. Die Therapie mit Drogensubstituten fortzusetzen, weigerte sich die Anstaltsleitung: das sei weder medizinisch noch zur Rehabilitation des Gefangenen angezeigt.
Nun steht ein Staat, der die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, nach Straßburger Rechtsprechung in der Pflicht, kranken Gefangenen medizinische Hilfe zukommen zu lassen, und wenn er diese Pflicht versäumt, dann kann das unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK sein. Er muss dafür sorgen, dass Spezialisten die Krankheit diagnostizieren und therapieren, auf dass den besonders verletzlichen Gefangenen nicht mehr Übel angetan wird als durch den Strafzweck angezeigt. Er muss alles Nötige und Angemessene tun, und das muss er nachweisen können.
Das konnte die bayerische Justiz in diesem Fall aber nicht, so die EGMR-Kammer. Warum einem seit 40 Jahren Abhängigen, dessen Sucht amtlich festgestelltermaßen unheilbar ist und der in Freiheit über 17 Jahre mit Drogensubstituten therapiert worden war, in der Haft kein anderer Weg als der kalte Entzug offenstehen soll, dafür kann die Kammer kein tragfähiges Argument entdecken. Im Gegenteil: nach den Richtlinien der Bundesärztekammer und einer vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Studie ist die Substitutionstherapie die beste Lösung. Zumal außerhalb Bayerns Drogensubstitute in Gefängnissen längst in großem Umfang eingesetzt werden. Und externe Ärzte die Wiederaufnahme der Substitutionstherapie eindringlich empfohlen hatten. Und der Gefangene, kaum war er entlassen, wieder eine bekam, was deshalb relevant ist, weil die EMRK den Staat verpflichtet, seinen Gefangenen die gleichen medizinischen Standards angedeihen zu lassen, die sie in Freiheit bekämen. Kurzum: da ist jemand, den der Staat in seiner Gewalt hat, krank und bekommt nicht, was er offenkundig braucht – das verstößt gegen das Verbot von unmenschlicher Behandlung nach Art. 3 EMRK.
So sieht das ein Menschenrechtsgerichtshof. Eine Strafvollstreckungskammer sieht aber keinen Menschen, der krank ist und etwas braucht. Sie sieht einen Strafgefangenen, der etwas will.
Aus Sicht von bayerischer Justiz und Justizvollzug stellt sich die Sache so dar: Da kommt einer und will, dass wir was anders machen, als wir es sonst machen. Ist das medizinisch nötig? Um das zu beurteilen, haben wir Gefängnisärzte. Die sagen, das sei nicht nötig, und wer sind wir, ihr Urteil anzuzweifeln? Ist das für den Erfolg des Strafvollzugs nötig? Der Mann ist im Gefängnis, damit er aufhört, Drogen zu nehmen, und das gelingt am besten, wenn er aufhört, Drogen zu nehmen. In der Freiheit mag ihm das nicht möglich sein, aber im Gefängnis ist er überwacht, da ist für ihn gesorgt, eine regelrechte “Rundumversorgung” (sic!) genießt er da. Wer in Kaisheim an Drogen kommen will, der kommt auch an welche? Ja, aber wenn er das tut, dann “sucht (er) bewusst die Illegalität”, und davon werde er sich auch nicht durch Substitute abhalten lassen.
Das ist nur dann einigermaßen schlüssig, wenn man auf die Drogensucht allein als normwidriges Verhalten fokussiert und nicht als Krankheit. Wie nah beides für viele immer noch beieinander liegt, wird einem klar, wenn man wie ich in Bayern aufgewachsen ist und weiß, wie leicht man dort auch heute noch das Wort “Krüppel” als Schimpfwort im Munde führt (“Hundskrüppel, verreckter!”). Krank sein ist aus dieser Perspektive etwas, das nicht Mitgefühl, sondern Anstoß erregt, das verschwinden muss, das weg oder zumindest unsichtbar gemacht gehört. Diese Perspektive mit einer Gegenperspektive zu konfrontieren, in der der Mensch, um den es geht, wieder sichtbar wird, das ist die Aufgabe der Menschenrechte. Und diese Aufgabe hat Straßburg gegenüber der bayerischen Strafjustiz erfüllt.
Das Begriff „Hundskrüppel, verreckter!“ wird meiner Erfahrung nach selten auf “Krüppel” im medizinischen Sinne angewandt – eher auf unsympathische Zeitgenossen. Scheint mir eine Verwechslung zu sein, hier mit der Krankheit zu argumentieren.
Apropos kalter Entzug: Schön, dass Sie Ihre Sommerpause (so es eine war) beendet haben!
@Susi: Selbst wenn das Wort auf anderes angewandt wird als Behinderungen bzw. behinderte Menschen, “arbeitet” diese Verwendung dennoch mit einer behindertenfeindlichen Abwertung.
“Mit diesem Urteilsspruch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg der bayerischen Drogenbekämpfungs- und Justizvollzugspraxis heute ordentlich einen mitgegeben.” spielt wohl in derselben Kategorie wie “Die schallende Ohrfeige”, zu der sich Thomas Fischer in seiner Zeit-Kolumne äußerte.
http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-08/rechtsbeugung-instanzen-und-hierarchien-fischer-im-recht/seite-4
“Das Begriff „Hundskrüppel, verreckter!“ wird meiner Erfahrung nach selten auf „Krüppel“ im medizinischen Sinne angewandt – eher auf unsympathische Zeitgenossen.”
Das mag so sein. Aber einen anderen als “Drecksjuden”, “Kümmeltürken” oder “Spaghettifresser” zu beschimpfen, ist eine rassistische Äußerung, auch wenn der Beschimpfte weder Jude noch Türke noch Italiener ist. Einen männlichen Zeitgenossen als “Mädchen” zu beschimpfen, dürfte auch nicht unbedingt für gesteigerten Respekt für, nun, Mädchen verstanden werden. Dasselbe gilt für eine Beschimpfung als “Krüppel”.
@hannah&leser: Einen Polizisten als “Bullen” zu bezeichnen, beleidigt also auch Tiere?
Es gibt den Begriff “Sprach-Nazi” nicht ohne Grund (der beleidigt übrigens auch keine Nazis…).
@Petra: Nicht Ihr Ernst, oder? Der Gleichsetzung mit einem Tier ist eine Herabsetzung, weil wir davon ausgehen, das Tieren bestimmte kognitive und soziale Fähigkeiten fehlen, dass sie zu moralischem Handeln nicht fähig sind. Die Bezeichnung als Jude ergibt als Herabsetzung nur Sinn, wenn – und inpliziert daher, dass – Sie von Juden ähnlich denken. Im Übrigen waren die bisher genannten Beispiele allesamt darüber hinaus herabsetzend. Es ging nicht um behinderte Menschen, Türken, Italiener oder Juden, sondern um… (siehe oben).
Ihr Beispiel hätte also zumindest “Drecksbulle” lauten müssen. Dann wäre es nur noch ein Kategorienfehler gewesen: Tiere haben keine persönliche Ehre (siehe oben).
@schorsch: Wenn die Bezeichnung “Hundskrüppel” angewendet auf einen gesunden Menschen Kranke beleidigt, dann stellt sich mir die Frage, ob die Bezeichnung “Bulle” angewendet auf einen Polizisten Tiere beleidigt. Steinbeis scheint das zu meinen, ich bin mir da nicht so sicher.
@schorsch: Oder beleidigt es die Zahl, wenn ich Sie als “Null” bezeichne?
„Der Mann ist im Gefängnis, damit er aufhört, Drogen zu nehmen, und das gelingt am besten, wenn er aufhört, Drogen zu nehmen.“
Ist er im Gefängnis wegen seines Drogenkonsums? Er wurde wegen Drogenhandels verurteilt: vgl. Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 28.03.2012.
Im Übrigen: Es dürfte keinen großen Unterschied machen, ob jemand im selben Kontext, als Hundskrüppel oder als Behinderter bezeichnet wird. Ob in Bayern oder in anderen Teilen Deutschlands.
Und wegen der „Drecksjuden“, „Kümmeltürken“ oder „Spaghettifresser“ eine Frage an die Sprachkundler unter den Lesern des Verfassungsblogs: Gibt es ein Verzeichnis für die Bezeichnung von Deutschen mit negativer Konnotation in hebräischer, türkischer und italienischer Sprache (mit entsprechender deutscher Übersetzung)?
@Petra: Sie haben völlig Recht, und Ihre Frage beantwortet sich fast von alleine: Wenn jemand sich angewöhnt, seine Empörung über Leute, die er scheiße findet, mit “So ein Steinbeis, so ein verreckter!” zu artikulieren, dann würde mich das beleidigen. Sie mutatis mutandis nicht?
Das Bullen-Beispiel und noch viel mehr das Null-Beispiel bezieht seine Plausibilität allein daraus, dass Bullen und Nullen mangels persönlicher Ehre nicht beleidigbar sind, aber das ist bei “Krüppeln” doch ein wenig anders, oder sind Sie andrer Meinung?
@Weichtier: Was die Bezeichnung “behindert” betrifft, haben Sie völlig Recht. Ebenso mit der Beobachtung, dass der Mann wegen Drogenhandels verurteilt wurde. Dennoch geht halte ich die Formulierung wegen des Strafzwecks Rehabilitation schon für korrekt.
@Petra: Ich hab Sie schon verstanden. Und diese Ihre Frage habe ich bereits beantwortet: Nein. Sie vergleichen Äpfel mit Birnen.
Schönes Wochenende!
@Steinbeis: Sie haben mich nicht verstanden. Die Bezeichnung der zu beleidigenden Person mit einem Begriff beleidigt den ursprünglich bezeichneten Gegenstand nicht notwendig. Sonst ließen sich Begriffe aus bestimmten Sachbereichen gar nicht im Kontext von Beleidigungen verwenden (vgl. Bulle, Null).
@Petra: ich hab Sie, glaub ich, so wie Schorsch verstanden. Wenn das falsch ist, dann verstehe ich Sie tatsächlich nicht.
@Steinbeis: Sie sind halt ein Schorsch. Schönes Wochenende ;-)
@Petra,
mal abgesehen davon, dass sich ‘Bulle’ wohl ursprünglich nicht auf das Tier bezog, verstehen Sie den wichtigen Unterschied nicht.
Wenn ich einen Begriff als Schimpfwort nutze, zeigt das erstmal, dass ich von der Sache keine hohe Meinung habe.
Bezeichnet jemand andere Menschen bspw als ‘Ratten’ oder ‘Ungziefer’, überträgt er eigenschaften dieser Tiere auf Menschen (etwa ‘unhygienisch’ oder ‘überträgt Krankheiten).
Wie korrekt das ist, darüber lässt sich mit Tierschützern und Biologen wahrscheinlich nicht sehr lang diskutieren; Um Ihnen aber zu widersprechen: Am Anfang bleibt, dass ich von den Tieren keine hohe Meinung habe.
Problematisch wird es dann, wenn sich das Schimpfwort ursprünglich auf Menschen bezog, wie das Beispiel ‘Krüppel’. Wer andere so nennt, überträgt eigenschaften, die er mit schwer versehrten Menschen in Verbindung bringt (vll. ‘nutzlos’ oder ‘aussetzig’).
Die Logik ist die gleiche, wie bei den Tieren. Der Unterschied ist, dass es Menschen herabsetzt, die nichts weiter sind als krank oder schwer verletzt (wie ja schon im Text steht).
@Stephan: deswegen erklärte ich das unter Hinweis auf “Null”.
oder haben Sie eine schlechte Meinung von dieser Zahl?
Was wollen Sie denn ausdrücken, wenn Sie jemanden eine ‘Null’ nennen?
Wohl kaum, dass jemand den Wert von irgendwas verzehnfacht, wenn er/sie hinzukommt. Sondern doch eher im Sinne von ‘nichts’ (wert).
Mein Punkt war, das derjenige, der es als Schimpfwort benutzt eine schlechte Meinung davon hat. Das ist die Logik hinter einer Beleidigung. ‘Sprach-Nazi’ nennen Sie jemanden, weil Sie Nazis schlecht finden usw.
Bei abstrakten Sachen juckt das niemanden weiter (außer den so betitelten), bei Begriffen die Menschen beschreiben, ist das problematisch.
Wer ‘Jude’ als Schimpfwort nutzt, drückt auch aus, dass an Juden etwas verwerflich/abstoßend sein soll. Analog ist es bei ‘Schwuchtel’ und all den Beispielen, die hier schon genannt wurden.
Und dass das mehr als nur Haarspalterei und Spitzfindigkeit ist, war mein Verständnis von dem Beispiel im Artikel.
Sie haben echt eine schlechte Meinung von der Zahl Null? Kann ich kaum glauben. Aber wenn Die es sagen!
@Petra: Was für eine sachliche entgegnung. Mit dem Lesen klappts wohl noch nicht so.
Der entscheidenden Frage weichen Sie aus…was wollen Sie aussagen, wenn Sie jemaden als ‘Null’ bezeichnen?
Man will jemanden beleidigen, zB “Steinbeis, die Null, hat mal wieder Sprachkritik geübt”.
Sind sie kein Muttersprachler?
Oh doch…und ich mach mir sehr viele Gedanken über unsere Sprache.
„Steinbeis, die Null […]” was soll das heißen? Steinbeis der Verzehnfacher?
Ok. Muttersprachler. Der Duden definiert “Null” als “gänzlich unfähiger Mensch; Versager”. Und: Dieses Wort gehört zum Wortschaft des Zertifikats Deutsch ;-)
Überlegen Sie einfach mal, wie Sie einem Nicht-Muttersprachler erklären würden, warum “Steinbeis, die Null […]” eine Beleidigung ist.
Vielleicht wird dann klar, was nach der selben Logik “Krüppel” “Spasti” “Schwuchtel” usw problematisch macht (abgesehen davon, dass es Beleidungen sind)
Ich habe Ihnen gerade den Duden hier reingepastet. Wenn Sie das jetzt noch immer nicht verstehen, müssen wir das wohl einfach akzeptieren. Sie Deutsch-Null ;-)
Und ich finde, Sie widersprechen sich selber. Aber stimmt… Die Argumente sind ausgetauscht.
…Sie Logik-Null ;)
@Norbert Fiedler und auf die Gefahr hin den Troll zu füttern: Nein. Das sind hier gänzlich andere Vorzeichen als im nationalen Instanzenzug, auf den Fischer – übrigens auch in einem ganz anderen Zusammenhang – abstellt.
Ich wäre auf die Reaktion des vortrefflichen MS gespannt, wenn sich jemand über die gepflegte Ausdrucksweisen von kulturbereichernden, mobilen ethnischen Minoritäten ähnlich generalisierend erhitzen würde, wie er es im Hinblick auf jene seiner bajuwarischen Heimat tut.
Ein dreifaches “Hate Speech”, mindestens ein Rassismusvorwurf sowie ein leidenschaftlicher Hilferuf in Richtung Heiko Maas wären das Mindesterwartbare, was seine unbestechliche moralische Doppelsicht hervorbringen würde …