Warum ein Opt-out aus der EMRK für britische Streitkräfte eher unwahrscheinlich ist
„Ausstieg aus europäischen Menschenrechtsverpflichtungen für britische Truppen“ – so oder so ähnlich titelten verschiedene britische Blätter in der letzten Woche (zB hier, hier und hier). Und tatsächlich hat Großbritanniens Premierministerin angekündigt, in bewaffneten Konflikten Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auszusetzen, um Soldat*innen der britischen Streitkräfte vor „unberechtigten Klagen“ zu schützen. Der britische Verteidigungsminister Michael Fallon bestätigte:
So I can announce today that in future conflicts we intend to derogate from the Convention. That would protect our Armed Forces from many of the industrial scale claims we have seen post Iraq and Afghanistan. Now this isn’t about putting our Armed Forces above the criminal law or the Geneva Conventions. Serious claims will be investigated – but spurious claims will be stopped.
Das Vereinigte Königreich hat sich in den vergangenen Jahren mit einer Reihe von Vorwürfen systematischer Misshandlung und unrechtmäßiger Inhaftierung während des Irakkriegs auseinandersetzen müssen. 2012 hatte das britische Verteidigungsministerium eine Reihe von Schadensersatzklagen im Wege des Vergleichs mit einer Zahlung in Millionenhöhe beigelegt. Der EGMR hatte in bahnbrechenden Urteilen entschieden, dass die EMRK auch für Einsätze der britischen Truppen im Irak gilt und Großbritannien europäische Menschenrechte wegen unzureichender Ermittlungen in Todesfällen und wegen Inhaftierung ohne Anklage verletzt hat. Weitere Verfahren vor britischen Gerichten sind noch anhängig oder in Vorbereitung.
Abweichung von der EMRK
Bereits David Cameron hatte einige dieser Verfahren als „unberechtigte Anklagen“ der Streitkräfte kritisiert und angekündigt, harte Maßnahmen gegen die prozessführenden Kanzleien zu ergreifen. Theresa May möchte nun scheinbar die Streitkräfte ganz von den Verpflichtungen der EMRK befreien. Folgt daraus, dass Schadensersatzklagen von Opfern demnächst als unzulässig abgewiesen werden? Oder dass das Vereinigte Königreich nicht mehr an die EMRK gebunden ist, wenn es seine Streitkräfte in den Einsatz schickt? Wohl kaum. Denn abweichende Maßnahmen sind nach Artikel 15 der EMRK zwar grundsätzlich möglich. Allerdings wird sich an den materiellen Verpflichtungen aus der EMRK durch abweichende Maßnahmen nicht viel ändern. Und solange das Vereinigte Königreich nicht ganz aus der Konvention aussteigt, wird im Zweifel der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darüber entscheiden, ob die abweichenden Maßnahmen zulässig oder ob Konventionsrechte verletzt sind.
Weder Theresa May noch Michael Fallon haben einzelne Rechte benannt, von denen abgewichen werden soll. Es dürfte vor allem um das Recht auf Leben aus Artikel 2, das Folterverbot aus Artikel 3 und das Recht auf Freiheit aus Artikel 5 gehen. Von Artikel 3 kann nicht durch Notstandsmaßnahmen abgewichen werden: Auch im Krieg oder im Notstandsfall darf ein Land nicht foltern. Das Recht auf Leben darf nur eingeschränkt werden, soweit es das humanitäre Völkerrecht erlaubt. Beides steht explizit in Artikel 15 Abs. 2 der EMRK. Und der EGMR hatte erst vor zwei Jahren – in einem Fall gegen das Vereinigte Königreich – klargestellt, dass es für Abweichungen von Artikel 5 durch Bestimmungen des humanitären Völkerrechts nicht notwendigerweise einer expliziten Abweichungserklärung bedarf. Allerdings dürften, so das Gericht, die Garantien des humanitären Völkerrechts nicht verletzt werden, und im Zweifelsfall würde der EGMR selbst darüber entscheiden, ob der Kerngehalt des Artikel 5 noch eingehalten sei. Abweichende Maßnahmen zu Artikel 5 EMRK könnten also allenfalls Klarheit über die Inhaftierungspraxis der britischen Streitkräfte im Falle eines Auslandseinsatzes schaffen. Aber explizite Notstandsmaßnahmen nach Artikel 15 EMRK erlauben dem Vereinigten Königreich nicht, die Rechte der EMRK vollständig zu suspendieren. Und vor allem wäre der EGMR nach wie vor zuständig, über die Reichweite etwaiger abweichender Maßnahmen zu entscheiden (so auch andere Stimmen hier und hier).
Immunität für Streitkräfte?
Vielleicht kann man die Aussagen aber auch so deuten, dass in Zukunft Klagen auf Schadensersatz gegen das britische Militär in Auslandseinsätzen nicht mehr möglich sein sollen: eine Immunität für die Streitkräfte also. Denn sowohl Theresa May als auch Michael Fallon betonten den Schutz einzelner Mitglieder der Streitkräfte, die nicht mit „unberechtigten Klagen“ überzogen werden sollten.
Das wäre dann eine abweichende Maßnahme von Artikel 6 der EMRK, der unter anderem das Recht auf eine gerichtliche Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche festschreibt. Der EGMR geht davon aus, dass Artikel 6 Abs. 1 auf Schadensersatzklagen für Rechtsverletzungen durch die öffentliche Hand anwendbar ist (hier, Rz. 92). Eine pauschale abweichende Maßnahme, unter der Schadensersatzklagen und Ermittlungen gegen Streitkräfte von vornherein ausgeschlossen werden, dürfte dabei nicht zulässig sein. Zwar kann von Artikel 6 grundsätzlich im Notstandsfall abgewichen werden. Es ist aber schon fraglich, ob eine grundsätzliche Immunität der Streitkräfte überhaupt eine erforderliche Maßnahme nach Artikel 15 EMRK ist.
Jedenfalls dürfte nicht erlaubt sein, durch solche Maßnahmen zwingende Rechte auszusetzen. Das hat der Menschenrechtsausschuss in Bezug auf das parallele Recht auf ein faires Verfahren aus Artikel 14 des Paktes über zivile und bürgerliche Rechte explizit festgestellt: Soweit das humanitäre Völkerrecht bestimmte Verfahrensgarantien – etwa eine Überprüfung der Inhaftierung durch ein unabhängiges Gremium – vorsieht, können diese nicht durch abweichende Maßnahmen unterlaufen werden (Rz 16).
Wenn der EGMR also in der Vergangenheit festgestellt hat, dass die Verpflichtungen aus dem Recht auf Leben auch umfassende Ermittlungspflichten der Vertragsstaaten bei Todesfällen beinhalten, oder dass auch im Rahmen eines bewaffneten Konflikts Personen nicht willkürlich inhaftiert werden dürfen, sondern jede Festnahme einer Rechtsgrundlage bedarf und durch eine unabhängige Instanz überprüfbar sein muss, dann können wohl kaum Gerichtsverfahren, die die Verletzung einer solchen Pflicht zum Gegenstand haben, grundsätzlich ausgeschlossen werden. Und auch für Artikel 6 gilt: jede abweichende Maßnahme wäre ihrerseits möglicher Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung, wiederum durch den EGMR. Es zeigt sich also: Hinter der harten Rhetorik verbergen sich nur eingeschränkte rechtliche Handlungsspielräume.
Signal nach Straßburg
Worum geht es also Theresa May und Michael Fallon in ihren scharfen Aussagen, das Militär vor „falschen Anschuldigungen“ und einem „Missbrauch der Menschenrechte“ zu schützen? Sicher darum, ein politisches Signal Richtung Straßburg zu senden, auf dass es seine Kompetenz nicht zu weit ausdehne – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Debatte um einen Austritt aus der EMRK und der Verabschiedung einer „britischen Grundrechtecharta“.
Die Bemerkungen sind aber vor allem vor dem Hintergrund verschiedener britischer Untersuchungskommissionen zum Irakkrieg zu sehen, die als Folge einer Reihe gerichtlicher Verfahren eingerichtet wurden. Hier sind die Ergebnisse, und entsprechend auch die öffentliche Debatte, gespalten: Während die Untersuchungskommission zum Tode von Baha Mousa dem britischen Militär grundlose Gewalt und systematisches Verschweigen vorwarf, befand die Untersuchungskommission zu einem anderen Vorfall (die sog. Al-Sweady-Kommission), dass die Folter- und Mordvorwürfe, die unter anderem zur Einrichtung der Kommission geführt hatten, auf frei erfundenen Geschichten basierten (in der Folge stellte einer der Hauptakteure in beiden Untersuchungskommissionen, die Public Interest Lawyers, nach einer Kürzung öffentlicher Gelder ihre Arbeit ein). Allerdings rügte auch diese Kommission die Inhaftierungspraxis der britischen Streitkräfte im Irak. Fragen des Schadensersatzes wurden nicht abschließend geklärt.
Wann können Opfer von Menschenrechtsverstößen überhaupt auf Schadensersatz klagen?
Hierin zeigt sich das eigentliche Problem des derzeit geltenden Rechts: Es gibt keine klaren völkerrechtlichen Regeln für den individuellen Schadensersatz bei systematischen schweren Menschenrechtsverstößen oder Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht. Erst in der letzten Woche hat der BGH entschieden, dass das Völkerrecht keine allgemeine Regel kennt, nach der einer Einzelperson bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ein Anspruch auf Schadensersatz oder Entschädigung zusteht (die Urteilsgründe sind noch nicht veröffentlicht).
Zwar sehen etwa die 2005 verabschiedeten Grundprinzipien und Leitlinien betreffend das Recht der Opfer von groben Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auf Rechtsschutz und Wiedergutmachung vor, dass Opfer grundsätzlich eine angemessene und wirksame Wiedergutmachung erhalten sollen (Abs. 15). Allerdings sind die Grundprinzipien, die durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurden, selbst nicht bindendes Recht, sondern allenfalls eines von verschiedenen Instrumenten im Rahmen einer völkerrechtlichen Entwicklung, die zwar immer mehr individuelle Entschädigungsregeln bereithält – aber immer nur jeweils im Kontext einzelner Institutionen oder auf der Grundlage individueller Rechtsakte oder Verträge.
Aus einer Gesamtschau all dieser einzelnen Instrumente lässt sich möglicherweise ein grundsätzlicher Anspruch von Opfern auf Entschädigung und gerichtliche Aufarbeitung ableiten. Wer aber von wem im konkreten Fall Entschädigung verlangen kann – muss die einzelne Person sich unmittelbar an die schädigende Person wenden, oder an den Staat, oder an nichtstaatliche Gewaltakteure, welche Gerichte sind zuständig, soweit kein internationaler Mechanismus eingerichtet wurde? – all diese Fragen werden bislang institutionenspezifisch und auf Einzelfallbasis entschieden. Ein wichtiger Akteur in dieser Entwicklung ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Er wird es auch in Zukunft bleiben, und zwar auch, wenn das Vereinigte Königreich abweichende Maßnahmen erklärt. Von einem klar konturierten individuellen Rechtsanspruch auf Entschädigung ist das allerdings weit entfernt.