04 January 2012

Wir urteilen unbelesen: Amerikanische Debatten über Juristenausbildung

Da war der Vater der amerikanischen Juristenausbildung ganz entschieden: nicht der Gerichtssaal schärft den Sinn für die feinen Unterschiede, sondern der Blick in Gesetz und Urteil, Fälle und Entscheidungen. Die Bibliothek sei für den Juristen, was das Labor den Chemikern sei und das Naturkundemuseum den Zoologen. Darum sei es auch nicht Erfahrung in einer Anwaltskanzlei oder vor Gericht, die für den Rechtsunterricht qualifiziere, sondern Erfahrung im Studium des Rechts.

Christopher Columbus Langdell, der 1870 zum Dekan der Harvard Law School ernannt wurde, setzte mit seiner case method die nachhaltigste Reform der Juristenausbildung seit den Zeiten der Glossatoren ins Werk – und forcierte eine Auseinandersetzung mit dem Recht, die Studierende zunächst einmal befähigen sollte, wie Juristen zu denken, bevor sie sich in der Rechtspraxis erproben. Seine induktive Fallmethode, zunächst kritisch beäugt, bestimmt seit neunzig Jahren die amerikanische Juristenausbildung. Angehende Richter und Anwälte brüten über abstrakten Fragen und hypothetischen Fallvarianten, in sokratischer Manier werden noch die kleinsten Details eines Rechtsfalls kontrovers ausgeleuchtet, oft im Kontext der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Kommt dabei die Rechtspraxis zu kurz? Versäumen Law Schools die Vermittlung des juristischen Handwerkszeugs, mit dem sich ihre Absolventen auf einem Arbeitsmarkt behaupten müssen, der härter umkämpft ist als je zuvor? Über diese Fragen tobt in den Vereinigten Staaten seit Monaten ein hitziger Streit, neben dem sich hiesige Diskussionen um Reformen der Juristenausbildung (F.A.Z. vom 14. Dezember 2011; leider ist der exzellente Konferenzbericht aus der Feder von Miloš Vec nicht frei im Netz verfügbar, eine auschlußreiche Tagungsreportage lässt sich aber auch bei Klaus F. Röhl nachlesen, sogar mit Fortsetzung) wie ein Sturm im Wasserglas ausnehmen.

In einem vielbeachteten Leitartikel, flankiert von einer Reihe alarmistischer Artikel des Journalisten David Segal, verkündete unlängst gar die “New York Times” den Abschied von Langdells Fallmethode und forderte eine effizientere Verbindung von Theorie und Praxis. Das Recht werde heute nicht mehr als „Zweck an sich“, sondern als Mittel, als Werkzeug der Problemlösung angesehen.

Der Literaturwissenschaftler Stanley Fish, der seit Jahrzehnten an juristischen Fakultäten lehrt, konterte prompt mit einem Plädoyer für den Eigensinn der Rechtswissenschaft. Die Praxis des Rechts sei mehr als eine technisch-strategische Übung, in der man Dogmatik, Präzedenzfälle, Regeln und Beispiele in den Dienst des Mandanten stelle. Wäre dem so, liesse sich daran zweifeln, dass sein gerade beendetes Yale-Seminar über Recht, Freiheit und Religion für künftige Praktiker von Nutzen sei, so Fish. Doch Recht sei mehr als die Summe seiner Teile, es stelle Fragen nach Grund und Grenzen staatlicher Autorität, nach Pflichten und Rechten der Bürger, nach dem Verhältnis unterschiedlicher Rechtskulturen. Um das Spiel selbst zu verstehen und nicht nur seine Regeln – darum sei die Lektüre von Berlin, Locke und Rawls, Kant, Unger und Rorty auch für angehende Anwälte von Nutzen.

Nützlichkeitserwägungen sind in der Debatte schon deswegen prominent, weil der Krise der Juristenausbildung eine Krise des juristischen Arbeitsmarktes entspricht. In den vergangenen Jahren sind in den Vereinigten Staaten Law Schools wie Pilze aus dem Boden geschossen, zweihundert Rechtsschulen sind inzwischen bei der American Bar Association akkreditiert. In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise entlassen viele davon ihre Absolventen ohne Jobaussichten, doch mit einer erdrückenden Schuldenlast, der Studiengebühren halber. Und der Senat beschäftigt sich mit der Frage, welche Law Schools Studienbewerber über die Karrierewege ihrer Alumni getäuscht haben.

Brian Leiter, Juraprofessor an der University of Chicago und einflussreicher Blogger, weist die Frage nach Wert und Nutzen des juristischen Studiums indes scharf zurück. „Entscheidendes Kriterium der Wissenschaft ist, ob sie zu Wissen und Verstehen beiträgt – nicht, ob sie ‘hilft’“. Nützlichkeit gibt es ohnehin nicht, glaubt man Chief Justice John Roberts, der der Rechtswissenschaft im vergangenen Juni zum wiederholten Mal abschätzig ins Stammbuch schrieb, dass sie für den Praktiker weder von Nutzen noch von Interesse sei. Er könne sich gar nicht entsinnen, so der Oberste Richter, wann er zuletzt einen Aufsatz in einer juristischen Fachzeitschrift gelesen habe. Die Wissenschaft lässt solche Despektierlichkeit nicht auf sich sitzen: In einer empirischen Studie haben die Rechtsprofessoren Lee Petherbridge und David Schwartz nachgewiesen, dass der Supreme Court in den vergangenen sechs Jahrzehnten häufig auf die Ergebnisse rechtswissenschaftlicher Forschung zurückgegriffen hat, insbesondere bei schwierigen und richtungsweisenden Entscheidungen. John Roberts wird ihren Aufsatz wohl nicht zur Kenntnis nehmen. Der Keil, den er mit seinen Anwürfen zwischen Wissenschaft und Praxis treibt, untergräbt das öffentliche Vertrauen in das Recht und seine Anwender.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 04.01.2012,  Seite N5 (Forschung und Lehre)

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In seiner oben zitierten Kolumne in der “New York Times” fragt Stanley Fish, ob die Austrockung der Geisteswissenschaften in der amerikanischen Universitätslandschaft nun auch auf die Rechtswissenschaft übergreife:

“The emphasis on practical short-term payoffs has already laid waste to the traditional project of the liberal arts, which may not survive. Is the law next?”

Ob dem wirklich so ist, fragte ich unlängst die Philosophin Martha Nussbaum, als die nach einem glamourösen Auftritt in der Enquete-Kommission “Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität” im Deutschen Bundestag auf einer Berliner Tagung über die “Zukunft der Geisteswissenschaften” einen ziemlich enttäuschenden Vortrag hielt (»Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities«). Nussbaum, die an der University of Chicago Law School Juristen ausbildet, wies das scharf zurück. An Eliteinstitutionen wie ihrer Universität werde über Änderungen des Curriculums nicht nachgedacht. In der Krise seien gegenwärtig nur weniger etablierte Law Schools, die ihren Studenten in betrügerischer Absicht rosige Arbeitsmarktchancen vorgegaukelt hätten. Im Übrigen sei die ganze Debatte wieder mal ein Ausdruck des in der amerikanischen Gesellschaft verbreiteten Antiintellektualismus. Da macht es sich die amerikanische Starintellektuelle, mit Verlaub, doch etwas zu einfach.

 

Foto: Langdell Hall, Harvard Law School (Berkman Center for Internet & Society, Flickr Creative Commons)

 

 


3 Comments

  1. Thomas Flint Wed 4 Jan 2012 at 14:13 - Reply

    Ja, eine Rechtspraxis ohne gegenseitigen Austausch mit der Rechtswissenschaft ist ein Trauerspiel.

    Das gilt zumal für die juristische Methodik: Sie “muss auch Grundlagen- und Nachbardisziplinen verarbeiten – auf heutiger Anspruchshöhe der Humanwissenschaften und zugleich mit dem Blick auf die internationale Debatte”. Sie muss “viel an Theorie einbeziehen, um diese dann mit den Bedingungen der alltäglichen Rechtsarbeit vermitteln zu können” (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Vorwort, S. 7).

    Ein anspruchsloseres Ausbildungskonzept mag einfacher zu realisieren und preiswerter sein. Das Niveau der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft aber würde es in einer Weise drücken, die sich mit solchen Vorteilen nicht aufwiegen lässt.

  2. […] reformation and revolution, full of drama and tragedy, high hopes and empty promises. On this blog, I have recently sketched the current debate in the US. In a pointed posting, Christoph Möllers has outlined the scientific core of legal scholarship […]

  3. […] knüpfte Koh an eine Debatte an, die intensiv in den Vereinigten Staaten geführt wird. Wissenschaftliche Abhandlungen seien immer weniger problemorientiert, sondern breiteten Dinge aus, […]

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