12 February 2017

Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat heute eine fulminante und bravouröse Rede zur Eröffnung der Bundesversammlung gehalten, mit einem starken Plädoyer gegen den Vormarsch nationalistischer und protektionistischer Politik in den USA, in Europa und nicht zuletzt auch Deutschland, gegen “America First” und für internationale Zusammenarbeit und die Europäische Union. Unüberhörbar war, wem Lammerts kritische Worte galten – einerseits dem frisch gewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump, andererseits aber auch der AfD und den von ihr entsandten Wahlmännern und -frauen. Dies zeigte gerade auch die Betonung der Holocaust-Erinnerungskultur für das internationale Ansehen Deutschlands, mit welcher sich Lammert indirekt auf die unsägliche Rede von Björn Höcke in Dresden bezog. Die  Regie der Übertragung auf Phoenix tat das Übrige, um deutlich zu machen, wer gemeint war: Immer wieder blendete sie während dieses Redeteils die Versammlungsmitglieder aus der AfD, Frauke Petry, Alexander Gauland etc. ein – und nicht zuletzt auch den von der AfD vorgeschlagenen Bundespräsidentenkandidaten Albrecht Glaser, seines Zeichens selbst Mitglied der AfD-Führungsriege.

In den Medien wird die Rede zu Recht als gelungene Kritik an dem gegenwärtig grassierenden Populismus in Amerika und Europa gefeiert. Nun scheint mir aber das Problem zu sein, dass mit Albrecht Glaser gerade ein Vertreter dieser kritisierten politischen Strömung zur Wahl zum Bundespräsidenten stand. Angesichts der deutlichen Kritik Lammerts an der gerade auch von Glaser und seiner Partei getragenen Politik stellt sich mir bei aller Sympathie die Frage: darf er das verfassungsrechtlich eigentlich?

Nach § 8 S. 1 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten leitet der Präsident des Bundestages die Sitzungen und Geschäfte der Bundesversammlung. Diese kann beschließen, dass die Geschäftsordnung des Bundestages für ihren Geschäftsgang sinngemäß gilt, was die heutige Bundesversammlung im Anschluss an die Eröffnungsrede getan hat  (mit der Abweichung, Anträge zur Geschäftsordnung und deren Begründung auf das Schriftliche zu beschränken). Nach § 7 Abs. 1 S. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages wahrt der Bundestagspräsident die Würde und die Rechte des Bundestages, fördert seine Arbeiten, leitet die Verhandlungen gerecht und unparteiisch und wahrt die Ordnung im Hause. Sinngemäß muss das Gebot der Unparteilichkeit daher auch für die Eröffnungsrede in der Bundesversammlung gelten. Lammert wird in Ausübung dieses Amtes zur weitgehenden politischen Neutralität verpflichtet. Dass die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages erst nach der Rede beschlossen wurde, ist für ihre Geltung schon während der Rede unerheblich: Bis zum Beschluss ihrer sinngemäßen Anwendung durch die Bundesversammlung gilt gemäß § 8 S. 2 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten ebenfalls Geschäftsordnung des Bundestages sinngemäß, die nur für den Fall eines abweichenden Beschlusses von eben dieser Regel endet.

Erfüllt Lammerts Rede nun dieses Gebot der Unparteilichkeit? Das kann man zumindest mit Blick auf bestimmte Teile kaum behaupten. Letztlich hat Lammert mit seiner Rede vor den Mitgliedern der Bundesversammlung Wahlwerbung gegen den Kandidaten der AfD betrieben.

Es ist davon auszugehen, dass sich Lammert als erfahrener Kenner der Formalien seines Amtes dieser Problematik bewusst war. Dass er die Rede gleichwohl so gehalten hat, verdient aus politischer Sicht großen Respekt. Aus rechtlicher Perspektive aber bleibt sie (leider) dennoch problematisch: Man stelle sich nur einmal vor, eine gleichartige Rede gegen die Politik der Großen Koalition hätte ein AfD-Mitglied als Präsident oder Präsidentin des Bundestags zur Eröffnung der Bundesversammlung gehalten: Der Vorwurf des Missbrauchs dieses Leitungsrechts zu politischen Zwecken würde ihm oder ihr sofort um die Ohren gehauen. So sehr man die Rede inhaltlich loben und die Auffassung Lammerts teilen kann und sollte: man muss sich dabei auch die Frage stellen, ob sich ein Hinwegsehen über einen solchen Verfahrensverstoß aufgrund politischer Sympathien in Zukunft, in der sich die Mehrheitsverhältnisse gegebenenfalls umkehren, nicht rächt.

Verfassungsrechtlich interessant ist die Frage, was die AfD jetzt unternehmen könnte. Denkbar wäre ein Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG. Die Wahl des Bundespräsidenten kann man zwar zumindest im Rahmen eines Organstreits nach dem Bundesverfassungsgericht (Rn. 63 ff.) nicht für ungültig erklären lassen. Ein Organstreitantrag könnte sich aber darauf richten, in Karlsruhe feststellen zu lassen, dass das passive Wahlrecht des Kandidaten der AfD aus Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG verletzt ist. Vor knapp drei Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, dass die Mitglieder der Bundesversammlung mit eigenen Rechten durch das Grundgesetz und andere Rechtsakte ausgestattet und daher parteifähig sind (Rn. 61). Dies gilt gerade auch für den hier indirekt von Lammert angegriffenen Kandidaten der AfD. Ein auch denkbarer Antrag, festzustellen, dass die Wahl wegen der Rede ungültig war, wäre wohl auch in dem dafür statthaften Verfahren schon unzulässig: Die Mehrheitsverhältnisse zumindest dieser Bundesversammlung waren derart eindeutig, dass die Aussichtslosigkeit der Wahl des AfD-Kandidaten auch bei Unterlassen der problematischen Redeteile offenkundig wäre, selbst wenn man davon ausginge, dass einige Wahlmänner und -frauen sich von der Lammertrede in ihrer Entscheidung beeinflusst hatten lassen.

Jedenfalls für den Kandidaten der AfD ließe sich mit einigem Argumentationsaufwand zumindest auch die notwendige Antragsbefugnis im Organstreit begründen, denn Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG gibt jedem und jeder Deutschen das passive Wahlrecht, wenn er oder sie das vierzigste Lebensjahr vollendet hat und das Wahlrecht zum Bundestages besitzt. Das geschäftsordnungsrechtliche Gebot der Unparteilichkeit des Bundestagspräsidenten bei der Leitung der Bundesversammlung ist insoweit verfassungsrechtlich zwingend: Die Bühne des Bundestagspräsidenten zur Eröffnung der Bundesversammlung genießt enorme öffentliche Aufmerksamkeit und ist damit ein einmaliges Forum. Sie zur Verbreitung der eigenen politischen Ansichten zu nutzen, ist wegen dieser Breitenwirkung besonders verlockend. Macht er im Rahmen dieser Eröffnungsrede Wahlkampf für oder gegen einzelne Kandidaten und Kandidatinnen, beeinflusst dies potenziell die Mitglieder der Bundesversammlung in ihrer Wahlentscheidung, was wiederum die Wahlchancen der jeweiligen Kandidaten und Kandidatinnen erhöht oder mindert – durch eine staatliche Maßnahme. Die Leitung der Bundesversammlung ist aber eine verwaltungstechnische, keine politische Aufgabe und der Bundestagspräsident daher aus gutem Grund zur politischen Neutralität verpflichtet. Politisch äußern darf er sich im Bundestag, dort jedoch auch nur in seiner Funktion als Abgeordneter aus dem Plenum heraus, nicht aber als Bundestagspräsident auf dem Stuhl des Präsidiums. Da abweichend hiervon die Wahl des Bundespräsidenten gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ohne Aussprache erfolgt, entfällt die Möglichkeit politischer Äußerungen des Bundestagspräsidenten als Mitglied der Bundesversammlung in eben dieser Institution in Gänze.

Hinzu kommt, dass die Wahl nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ohne Aussprache erfolgt. Sinn und Zweck der Norm soll sein, das Ansehen und die Autorität des oder der künftigen Bundespräsidenten oder -präsidentin zu schützen – das Staatsoberhaupt steht als Repräsentant des Landes eben über der Parteipolitik. Auch dieses Gebot könnte Lammert verletzt haben, indem er – und noch dazu auch gerade nur er – sich eben doch politisch in der Sache äußerte. Sollte wider Erwarten doch der unliebsame Kandidat gewählt werden, steht ja auch die Frage im Raum, ob dann tatsächlich konkret er oder sie als gewählter Präsident oder Präsidentin in Ansehen und Autorität beschädigt ist. Die Bundesversammlung ist letztlich anders als der Bundestag kein politisches Forum, sondern nach dem Bundesverfassungsgericht “reines Kreationsorgan” (Rn. 90).

Dass ein solcher Antrag begründet wäre, scheint mir dann aber doch eher unwahrscheinlich. Die Mitglieder der Bundesversammlung bleiben frei in der Entscheidung, welchen Kandidaten sie wählen, und der Einfluss der Rede des Bundestagspräsidenten auf diese individuelle Wahlentscheidung wäre wohl eher unerheblich. Verlangt man für eine Verletzung des passiven Wahlrechts des Kandidaten zur Wahl des Bundespräsidenten das Übertreten einer gewissen Erheblichkeitsschwelle, wäre zwar immer noch die Geschäftsordnung der Bundesversammlung, aber eben nicht das verfassungsmäßige Wahlrecht des Bundespräsidentenkandidaten aus Art. 54 GG verletzt.

Anders sähe es allerdings aus, wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin unter diesen Bedingungen tatsächlich gewählt würde – dann müsste er oder sie mit beschädigter Autorität ins Amt starten. Könnte das Bundesverfassungsgericht um einen entsprechenden Feststellungstenor herumkommen?

Folgt man meiner Argumentation, bleibt die Frage, was der Bundestagspräsident im Rahmen der Eröffnungsrede zur Bundesversammlungdann überhaupt sagen darf: historische Abrisse, Aufgaben und Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten beschreiben, die verfassungsrechtliche Lage und ihre Gründe darlegen, insbesondere etwa die zur nur indirekten Wahl des Bundespräsidenten. Er könnte auch allgemein verfassungsrechtlich garantierte Staatsstrukturprinzipien erörtern, wohl vor allem das Demokratieprinzip.

Keine Frage: die politische Auseinandersetzung mit dem Populismus und all seinen Gefahren soll und muss geführt werden, die Rede Lammerts war notwendig. Richtiger Ort hierfür ist nach dem Verfassungsgefüge des Grundgesetzes aber der Bundestag. Hier wird durch Verfahrensregeln wie der Festsetzung von Redeanteilen etc. eine strukturierte Debatte gewährleistet. Die Bundesversammlung vermag dies nach ihrer Konzeption nicht zu leisten: Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG verbietet gerade die mündliche Aussprache und damit die Möglichkeit zur Gegenrede. Äußert sich der Bundestagspräsident in der Bundesversammlung dann dennoch politisch, stört er die verfassungsrechtlich wohl austarierte Struktur des politischen Diskurses innerhalb der verfassungsmäßigen Institutionen.

nachträgl. Anmerkung: Unberücksichtigt gelassen hatte ich zunächst, dass im Rahmen des Organstreits nur organschaftliche Rechte geltend gemacht werden können. Ob das passive Wahlrecht aus Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ein solches organschaftliches Recht ist, ist zweifelhaft. Ob das Recht die Beschwerdebefugnis im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde begründet, ist aber ebenso unklar, da Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a) GG Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG anders als Art. 38 GG gerade nicht nennt. Wie steht es also um die Justiziabilität um das passive Wahlrecht der Kandidaten?


34 Comments

  1. Andreas Weiser Mon 13 Feb 2017 at 08:14 - Reply

    Ohne zunächst in eine mögliche, rechtliche Bewertung eintreten zu wollen, stellt sich mir nach der Lektüre der gestrigen Rede – die auch ich durchweg gelungen fand – die Frage, wo genau Herr Lammert den Kandidaten der AfD expressis verbis kritisiert habe. Ausweislich des veröffentlichten Manuskripts als auch der Aufzeichnungen in diversen Kanälen ist diese mithin ausdrücklich nicht festzustellen. Etwaige redaktionelle Bilder der jeweiligen Sender sind zugegebenermaßen effektvoll, aber nicht Herrn Lambert – dessen persönliche Einflussnahme auf die Regie dann wohl in concreto gering bis nichtig sein sollte – anzulasten.

  2. The Populist Mon 13 Feb 2017 at 08:27 - Reply

    Betrachtet man sich das gestrige Wahltheater, zu dem man 1260 echte und falsche Schauspieler angekarrt hat, um die Statistenrolle des sogenannten Souveräns zu kaschieren, dann kommen bei mir Erinnerungen an die Volkskammer auf.

    Man hätte sich letztendlich das ganze sparen können, da das Ergebnis dank Parteienklungel bereits Wochen vorher feststand, und damit kann dann auch Lammerts Fehlgriff die Sache nicht weiter runterziehen.

    Ich bin nächste Woche in Mainz. Dort werden Büttenreden deutlich besser formuliert als in Berlin.

    Präsident Gauck wird mir jedenfalls immer mit seinem bezeichnenden Satz in Erinnerung bleiben: “Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind das Problem.”

    qed

  3. Felix R. Mon 13 Feb 2017 at 08:36 - Reply

    Ich finde es etwas schade, dass Sie sich so sehr auf den (m.E. nachrangigen) prozessrechtlichen Teil konzentrieren.

    Die Frage, ob Lammert gegen eine (bestehende?) Neutralitätspflicht verstoßen hat bleibt leider unbeantwortet.

    Folgende Fragen stellen sich: Ergibt sich die Neutralitätspflicht wirklich aus der GOBT? Ist diese überhaupt justiziabel? Dann wohl doch eher direkt aus dem GG.

    Weiter stellt sich die (am Ende angedeutete) Frage, inwieweit die Betonung und Interpretation von Verfassungsprinzipien (Antinationalsozialismus-Wunsiedel-Erinnerungskultur, Repräsentation vs. Populismus(?)) gegen Neutralitätspflichten verstoßen können?

    Problematisch ist m.E. auch der Schluss von den Mehrheitsverhältnissen auf eine “Heilung“. Zugespitzt könnte so das BVerfG den Bundespräsidenten auch gleich selbst bestimmen. Eine Anlehnung an die Mandatsrelevant bei Parlamentswahlen geht m.E. fehl, da es sich in diesen Fällen um örtlich/zeitlich begrenzte Verstöße handelt.

    Trotzdem vielen Dank für den Beitrag, der auch den Bundestagspräsidenten an seine Neutralitätspflicht erinnert. Das bestehen solcher hat Lammert iÜ auf einer Veranstaltung der KAS vor einiger Zeit i.Ü. abgestritten. Er könne sich auch als BTPräs auf Art. 5 I GG berufen. #abstrus

  4. Stephan Mayer Mon 13 Feb 2017 at 10:08 - Reply

    @Felix R.
    “Antinationalsozialismus” als “Verfassungsprinzip” – das ist ja mal ne ganz neue, beängstigende Variante des Gesinnungsstaates….
    Hier scheint eine neue Generation furchtbarer Juristen heranzuwachsen.

  5. bec Mon 13 Feb 2017 at 10:16 - Reply

    Ihre Erinnerung an die Unparteilichkeit des Amts ist unterstützenswert, würde aber nach meiner Auffassung zu einer lebensfremden Leere des politischen Diskurses anlässlich der Wahl des Staatsoberhauptes führen. Es ist leider eine Folge der von Ihnen zitierten Rechtsprechung, dass jede staats- oder rechtspolitische Rede, wenn sie im Rahmen eines Amtes gehalten wird, in das Prokrustresbett der Maßstäbe eines Organstreitverfahrens gezwängt wird. Diese übertriebene Konstitutionalisierung der Neutralität hätte in diesem Fall zur Folge, dass die weithin auch medial wahrgenommene Bundesversammlung nur noch die technische Funktion der Wahl hätte.
    Dafür mag man zwar verfassungsrechtlich plädieren, nach meiner Auffassung ist die einfachgesetzlich verankerte Unparteilichkeit der Sitzungsleitung des Bundestagspräsidenten aber allein vor dem Hintergrund des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG zu sehen, demzufolge der Bundespräsident “ohne Aussprache” gewählt wird. Der Bundestagspräsident darf im Rahmen seiner Sitzungsleitung also in keiner Hinsicht für oder gegen einen der Kandidaten Partei ergreifen. Die Ausführungen Lammerts haben aber nicht persönlich einzelne Mitglieder der Bundesversammlung oder die Kandidaten adressiert. Auch sein Hinweis auf die Erinnerungskultur erreicht diese Schwelle m.E. nicht. Herr Höcke war kein Kandidat, und Lammerts Ausführungen entsprechen dem, auch vom Bundesverfassungsgericht zuletzt (im NPD-Verbotsverfahren) bestätigten, Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, an die zu erinnern nicht “parteilich” sein kann (siehe auch das angestrebte Parteiausschlussverfahren der AfD gegen Höcke).
    Es ist dem Bundestagspräsidenten also nicht verwehrt, aktuelle politische Fragestellungen (dazu gehörte ja etwa auch die Reform des Wahlrechts hinsichtlich der Zahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestags) anzusprechen. Dies geschieht z.B. auch im Rahmen der Konstituierung des Bundestags oder anlässlich von Gedenktagen, Nachrufen und ähnlichem im Bundestagsplenum. Ich sehe daher schon im Ansatz keinen Anlass, eine “Verfassungswidrigkeit” dieser – und dies ist selbstverständlich eine politische Wertung: sehr gelungenen – Rede anzunehmen.

  6. Hans Adler Mon 13 Feb 2017 at 10:28 - Reply

    Ich muss in diesem Zusammenhang an die Unterscheidung zwischen verfassungsfeindlich und verfassungswidrig denken. Wenn eine Partei wie die NPD klar verfassungsfeindlich aber nur wegen ihrer Chancenlosigkeit nicht verboten ist, kann man wohl gegen sie sprechen, ohne die Neutralität zu verletzen. Evt. wollte Herr Lammert hier die Grenzen erweitern, so dass das ab jetzt in der Praxis auch für eine Partei wie die AfD gilt, bei der die Verfassungsfeindlichkeit noch nicht festgestellt wurde.

    Das scheint mir tatsächlich sehr bedenklich – weil die Gefahr des Missbrauchs besteht (früher hätte so etwas früher oder später auch die Grünen getroffen), aber auch, weil es der AfD letztlich wohl eher nützen als schaden wird.

  7. Felix R. Mon 13 Feb 2017 at 10:30 - Reply

    @Stephan Mayer: Lesen Sie bitte erst mal https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/11/rs20091104_1bvr215008.html bevor Sie mit Gesinnungsjuristerei vorwerfen.

  8. Reci Mon 13 Feb 2017 at 10:37 - Reply

    Am Neutralitätsgebot gibt es ebenso wenig etwas hinein zu geheimnissen, wie in die Bundesversammlung als reinen Wahlakt.

    Das BVerfG ist auch nicht dazu gedacht die politische Kultur erzieherisch zu tadeln und schon gar nicht ist das Minimum der Verfassungsmäßigkeit eine gesunde Basis einer seriösen politischen Kultur. Analog zu persönlichen Verhältnissen, wo der Gang zum Anwalt, um einen Konflikt zu lösen, eine zwischenmenschliche Bankrotterklärung ist, möchte man nicht, dass unsere höchsten Amtsträger nur immer am verfassungsrechtlichen Minimum entlangschrammen.

    Ungeachtet kleinlicher Streits über die verfassungsrechtliche Rolle hätte er es IMHO einfach besser wissen und die Politik hier heraushalten sollen.

    Der Bundespräsident ist Staatsoberhaupt aller Deutschen. Selbst von Reichsbürgern, die ihn nicht anerkennen wollen. Wenn er irgend eine unabdingbare Funktion hat, dann das Überbrücken politischer Gräben. Ein Graben, wie ihn Herr L. in seiner Rede aufriß. Darum nein, sie war auch unjuristisch betrachtet falsch.

    Wenn wir kein Forum und kein Amt mehr haben, das vermittelnd über den politischen Untiefen der Tagespolitik bleibt, dann haben wir in dieser Republik ein Problem.

    Gut gemeint reicht nicht.

  9. Sebastian Leuschner Mon 13 Feb 2017 at 12:01 - Reply

    @ Andreas Weiser:

    eine ausdrückliche Hinwendung Lammerts zur AfD findet sich in der Rede tatsächlich nicht. Das war aber auch nicht notwendig, denn es war klar, an wen sie sich richtete. Lammert hat die Rede ja gerade als Antwort auf die gegenwärtigen populistischen Strömungen gehalten, und deren Vertreter ist hierzulande nun mal ganz zuförderst die AfD. Gerade hierfür wird die Rede ja auch gelobt.

    @ Felix R.: m.E. konkretisiert die GO des Bundestages bzw. ihre sinngemäße Anwendung auf die Bundesversammlung lediglich die verfassungsrechtliche Pflicht zur Neutralität des Bundestagspräsidenten in seinem Amt als Wahlleiter der Bundespräsidentenwahl. Insofern ist die GO juristisch lediglich der unmittelbare Anknüpfungspunkt für die in der Tat dahinter stehenden verfassungsrechtlichen Fragen.

    @ bec: Die Konstitutionalisierung des politischen Betriebes kann man mit guten Gründen kritisieren. Sie entspricht aber jedenfalls der deutschen Verfassungstradition unter dem Grundgesetz, die maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht geprägt wurde und auch gesellschaftliche Anerkennung gefunden hat. Ich halte sie aus demokratietheoretischen Gründen auch für wichtig, gerade mit Blick auf Verfahrensordnungen von Verfassungsorganen. Ohne starke verfassungsrechtliche Institutionen laufen wir langfristig Gefahr, unsere Demokratie (und auch andere Staatsstrukturprinzipien) aufzuweichen. Insofern stimme ich @Reci zu.

    @all: Sicher gibt es auch gute Gründe, die Rede letzlich als unproblematisch einzustufen. Insgesamt wirft sie einfach interessante staatsorganisationsrechtliche Fragen auf, die ich hier mal zur Sprache bringen wollte.

  10. VW Mon 13 Feb 2017 at 13:59 - Reply

    Hi,

    Vielen Dank für den aktuellen und informativen Artikel.
    Mich würde noch interessieren, inwiefern der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz wehrhafter/streitbarer Demokratie in die Argumentation muteinbezogen werden kann. Kann man Lammerts Appell dann als gerechtfertigt ansehen, wenn dem Grundsatz der wehrhaften Demokratie (oder einfach der fdgo) in einer Rechtfertigungsprüfung als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut dem Vorrang ggü der Unparteilichkeit des Bundestagspräsidenten zuzugestehen ist. Oder fehlt es bereits an Anhaltspunkten bzgl. des Eingreifens der wehrhaften Demokratie im vorliegenden Fall durch die fehlende Feststellung der Verfassungswidrigkeit der AfD durch das BVerfG?

  11. Adrian Heine Mon 13 Feb 2017 at 14:10 - Reply

    „So sehr man die Rede inhaltlich loben und die Auffassung Lammerts teilen kann und sollte: man muss sich dabei auch die Frage stellen, ob sich ein Hinwegsehen über einen solchen Verfahrensverstoß aufgrund politischer Sympathien in Zukunft, in der sich die Mehrheitsverhältnisse gegebenenfalls umkehren, nicht rächt.“ Inwiefern sollte sich das in Zukunft rächen? Eine AfD-Mehrheit wird sich ja wohl nicht in Abhängigkeit davon wie mit diesem etwaigen Verfahrensverstoß umgangen wird zu Verfahrensverstößen entscheiden.

  12. Chris Mon 13 Feb 2017 at 16:24 - Reply

    Ich bin mir nicht sicher, ob hier aus der “Neutralität” nicht zu viel gemacht wird. Die GOBT, wie sehr richtig zitiert wurde, gibt dem Bundestagspräsidenten “leitet die Verhandlungen neutral und unparteiisch”. Die erste Frage ist ja, ob eine Eröffnungsrede bereits ein Akt der Verhandlungsleitung ist, die zweite dann, inwieweit eine Rede “unparteiisch” sein kann und muss. Herr Lammert ist ja, wie allseits bekannt sein sollte, nicht nur Präsident des Bundestags, sondern auch ein CDU-Abgeordneter, dementsprechend seine politischen Positionen und Grundüberzeugungen sich im Unions-Spektrum bewegen, sonst hätte er dieses Amt ja nie erreicht. Er darf diese Positionen auch vertreten, denn von einer wirklichen und absoluten Unparteilichkeit, wie sie z.B. vom Speaker im britischen House of Commons erwartet wird, sind wir weit weg.
    Einem Bundestagspräsidenten vorzuschreiben, dass seine Überzeugungen nicht in einem gewissen Rahmen sein Handeln und Reden beeinflussen dürfen, halte ich nicht nur für unrealistisch, sondern auch nicht zweckmäßig und auch nicht gewollt. Und Herr Lammert hat ja nun nicht kund getan, man sollte die AfD nicht wählen.

    Und selbst wenn er das getan hätte, bliebe noch immer das übrig, was mir hier fehlt: Die Auseinandersetzung oder zumindest der Hinweis auf das “Spinner”-Urteil des BVerfG vom 10. Juni 2014 – 2 BvE 4/13 (gibt es einen etablierten Kurznamen dafür?), nachdem auch ein Bundespräsident sagen darf, wie wenig er von gewissen Parteien in diesem Lande hält.
    Denn wenn man die Rede von Herrn Lammert tatsächlich als gegen die AfD gerichtet betrachten will, ist die Konstellation nicht sonderlich unterschiedlich: Ob nun der Bundespräsident gegenüber allen Bürgern die Wahlchancen einer Partei eventuell durch eine Aussage schmälert, oder aber der Bundesversammlungspräsident gegenüber den Wahlleuten in der Bundesversammlung, erscheint mir grob vergleichbar. Wobei ich den Maßstab für die Bundesversammlung dabei noch größer ansetzen würde, immerhin ist davon auszugehen, dass die Menschen, die von Parteien für die Bundesversammlung ausgewählt wurden, auch mit einer gefestigten Überzeugung dorthin gehen.

    Aus dem Bauch raus halte ich das also für rechtlich unproblematisch. Ob man das gut findet, sei mal dahin gestellt (ich tue es).

  13. Dr.Ulrich Brötzmann Mon 13 Feb 2017 at 18:07 - Reply

    Herr Lammert,genau wie Gauck,wollen stets belehren,Ihre eigene enge Sicht der Dinge vermitteln. Diese beide Herren merken jedoch nicht,wie auch der Verfasser des Beitrags,dass die deutsche Innenpolitik provinziell, in sich verschlossen ist. Es wird empfohlen das Vorbereitungspapier zur MSC zu studieren. Daraus ergeben sich die Herausforderungen der Politik.Die juristische Einordnung des Beitrags ist OK,nur entschuldigt sich der Autor überflüssigerweise ständig für seine Kritik an Lammert.Lammerts Rede war miserabel.

  14. Sebastian Leuschner Mon 13 Feb 2017 at 20:20 - Reply

    @ VW: Ein wichtiger Punkt. Das verfassungsrechtliche Leitbild der wehrhaften Demokratie ist aber eben darauf beschränkt, verfassungswidrige Bestrebungen abzuwehren. Die kann man Teilen der AfD zu Recht vorwerfen. Insoweit wäre es auch zulässig, vielleicht sogar geboten, diesen Bestrebungen mit der Rede entgegenzuwirken. Mir stellt sich aber die Frage, ob Lammert seine Kritik hierauf beschränkt. Ich meine nein: Etwa die Frage nach Freihandel oder protektionistischer Wirtschaftspolitik ist nicht im Bereich der Verfassungsfeindlichkeit zu verorten.

    @ Chris: Ebenfalls gute Frage. M.E. unterliegt auch die Eröffnungsrede dem Gebot der Unparteilichkeit, denn gerade mit ihr als einziger mündlicher Einlassung vor der Wahl des Bundespräsidenten kann ja doch Einfluss auf die Wahlentscheidung genommen werden. Wo anders kann man in der Bundesversammlung neben der Eröffnungsrede angesichts des Fehlens der mündlichen Aussprache politisch sein? Kann es deshalb wirklich sein, dass dieser Akt frei von jeder Verfahrensbestimmung ist?

    Richtig ist auch, dass Herr Lammert als Bundestagsabgeordneter der CDU politisch Haltung beziehen kann und soll. Aber das Amt des Bundestagspräsidenten ist eben gerade kein politisches. Herr Lammert hat insoweit eine Doppelfunktion. Politische Beiträge müssen aus der Abgeordneteneigenschaft heraus geäußert werden, nicht aber aus der Funktion des Wahlleiters heraus.

    Der Hinweis auf die Spinner-Entscheidung des BVerfG ist wichtig. Allerdings gilt m.E. für den Leiter der Bundesversammlung gerade ein strengerer Maßstab als für den Bundespräsidenten. Letzterer hat ein (mit Abstrichen) politisches Amt inne, ersterer aber insoweit ein rein verwaltungstechnisches. Der gewählte Bundespräsident darf nach meiner Einschätzung politisch mehr als der die Wahl zu gewährleistende Bundestagspräsident.

  15. Sebastian Leuschner Mon 13 Feb 2017 at 21:41 - Reply

    @ Adrian Heine: Rächen könnte sich das dann, wenn in hoffentlich nie so eintretender Zukunft eine AfD-Bundestagspräsidentin in ihrer Eröffnungsrede zur Bundesversammlung den Freihandel und die Europäische Union brandmarkt, ihr deshalb vorgeworfen wird, parteiisch zu sein und sie sich dann auf den politischen Charakter früherer Eröffnungsreden berufen könnte, die trotz ihrer Parteilichkeit nicht kritisiert wurden.

  16. Maria Tue 14 Feb 2017 at 23:04 - Reply

    Ob Lammerts historischer Verweis auf die Krönung Karls des Dicken im Jahr 881 n.C. so neutral war, kann man mit Blick auf den im Vergleich zu den übrigen Kandidaten fülligsten Frank -Walter Steinmeier mit etwas Chuzpe aber auch durchaus bezweifeln… ;)

  17. Winni Wed 15 Feb 2017 at 12:57 - Reply

    Da die AfD ja die einzige Partei ist, die die strikte Einhaltung des Grundgesetzes, und abseits von Moralspielen und Ansichten über Menschlichkeit, die Einhaltung des Rechtes als höchste moralische Instanz fordert, ist sie auch die einzige Partei die derzeit auf dem Boden des GG steht. Jegliche Kritk, im Namen des Rechtes und des Volkes, verbietet sich also von selbst.

  18. philipp Thu 16 Feb 2017 at 14:23 - Reply

    @sebastian leuschner:

    so interessant die erwägungen zu möglichen folgen einer verletzung der neutralitätspflicht auch sind – auf welche konkrete(n) passage(n) der rede stützt sich eigentlich der befund, lammert habe im hiesigen einzelfall “unüberhörbar” (auch) die AfD oder deren kandidaten gemeint?

    ich finde im redetext (www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2017/003/492714) klare andeutungen zu trump (“wer sich sprichwörtlich einmauert…”), aber allenfalls einen satz, der – allerdings interpretationsabhängig, nicht “unüberhörbar” – in richtung AfD gehen könnte: “Wer daran aus welchen Motiven auch immer rüttelt…”.

    sollte es statt um den text v.a. um die bildregie gehen, dürfte sich das lammert nicht zurechnen lassen müssen.

  19. Sebastian Leuschner Thu 16 Feb 2017 at 17:15 - Reply

    @philipp:

    Ich beziehe mich auf folgende Passagen:

    “Wer Abschottung anstelle von Weltoffenheit fordert, wer sich sprichwörtlich einmauert, wer statt auf Freihandel auf Protektionismus setzt und gegenüber der Zusammenarbeit der Staaten Isolationismus predigt, wer zum Programm erklärt „Wir zuerst!“, darf sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtun – mit allen fatalen Nebenwirkungen für die internationalen Beziehungen, die uns aus dem 20. Jahrhundert hinreichend bekannt sein sollten.

    [Das ist die Kritik der trump’schen Politik.]

    Noch schöner wäre, wenn wir dieser Botschaft selber auch gerecht würden.

    [Hier wird der Bezug zur deutschen Politik hergestellt.]

    Die wirklich großen Herausforderungen können unter den Bedingungen der Globalisierung allesamt nicht mehr von den Nationalstaaten allein bewältigt werden, nicht in der Finanzwelt, nicht im Umgang mit den weltweiten Migrationsbewegungen, nicht im Kampf gegen den Terror oder gegen den Klimawandel. Das gilt gewiss für jedes einzelne Land in Europa, aber auch für unser großes Partnerland jenseits des Atlantiks, in dem vor wenigen Wochen ein vom Volk direkt gewähltes Staatsoberhaupt zugleich die Regierungsverantwortung übernommen hat. Jeder Versuch, diese Herausforderungen je einzeln zu bewältigen, schafft mindestens so viele neue Probleme, wie damit angeblich gelöst würden.

    [Das ist eine klare politische Aussage und Auffassung, die in der gegenwärtigen Debatte seitens der AfD bestritten wird. Zudem dürfte auch die Linke ein Problem mit dem vorherigen Fürwort für Freihandel und gegen Protektionismus mit Blick auf die USA und der Konnex zur deutschen Politik haben]

    Wir Europäer werden nur durch das Teilen von Souveränität einen möglichst großen Rest von dem bewahren können, was früher die Nationalstaaten mit Erfolg reklamierten und heute allenfalls rückwärtsgewandte Zeitgenossen irrig für sich beanspruchen, nämlich unabhängig von anderen die eigenen Angelegenheiten selbstständig regeln zu können. Deshalb brauchen wir die Union der europäischen Staaten.

    [Auch das wird in der politischen Debatte derzeit bestritten. Hier wird sogar ein personaler Bezug mit der Bezeichnung “irrig rückwärtsgewandte Zeitgenossen” hergestellt. Wer ist damit gemeint wenn nicht die AfD?]

    Und wenn, meine Damen und Herren, weder der russische Staatspräsident noch der amerikanische Präsident ein Interesse an einem starken Europa erkennen lassen, ist dies ein zusätzliches Indiz dafür, dass wir selbst dieses Interesse an einem starken Europa haben müssen.

    [Hier ist nochmal das starke Fürwort für Europa, dieses Mal aber wohl an alle Parteien gerichtet].

    Man kann meine Einschätzen mit guten, vielleicht sogar noch mit den besseren Gründen, bestreiten und die Rede für unverfänglich halten. Ich schrieb in meinem Post auch, dass es einiges an Argumentationsaufwand erfordert. Wenn man die Rede aber nicht isoliert betrachtet, sondern den politischen Kontext, in dem sie gehalten wurde (massives Erstarken der AfD als nationalistischer Partei im letzten Jahr), wird die politische Botschaft noch deutlicher. Lammert hat sie bewusst als Gegenwort gegen aufkommende nationalistische Bestrebungen in Deutschland gehalten, und gerade dafür hat er – und das zu Recht – großen Applaus bekommen. Wie immer in solchen Fällen kommt es für die juristische Bewertung nicht nur auf das explizite Wort an – Lammert muss die AfD nicht direkt ansprechen – sondern auf den Gesamteindruck. Die Rede war eine politische. Das zeigt sich insbesondere im Vergleich dieser Rede mit der Eröffnungsrede Lammerts aus 2012, die keinerlei politische Botschaft enthielt.

    Dennoch gebe ich zu, dass die Argumentation sehr streitbar ist, genau das war mein Ziel. Die Rede lässt sich sehr gut als unverfänglich einordnen. Zumindest aber bleibt ein “Geschmäckle”. Hierauf hinzuweisen war mein Anliegen.

    Nun lebt ein Blog wie dieser hier von starken Thesen und Zuspitzung, daran habe ich mich gehalten. Man möge mir daher sehr gerne widersprechen :).

  20. Jessica Lourdes Pearson Thu 16 Feb 2017 at 17:35 - Reply

    Mit Verlaub, die Prämisse des Beitrags geht der Rhetorik von Trump und Co. auf den Leim: Wenn der Bundestagspräsident in einer Rede zentrale Elemente der Verfassungsordnung hervorhebt, dann ist das nicht parteiisch, sondern das Selbstverständlichste der Welt! Der liberale Rechtsstaat, die Achtung der Grundrechte etc. sind keine parteipolitischen Haltungen, sondern im Kern sogar der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen. Wer für sie eintritt, ergreift folglich nicht “Partei”. Und wer sich davon angegriffen fühlt, offenbart damit nur, dass er sich außerhalb des GG ansiedelt.

    Bitte lesen:
    http://www.hoheluft-magazin.de/2016/04/na-logisch-der-fehlschluss-der-goldenen-mitte/

  21. Sebastian Leuschner Thu 16 Feb 2017 at 17:54 - Reply

    @Jessica Lourdes:

    Genau das ist der Kasus Knaxus: Achtung, offene Frage! Gehört etwa die Frage nach Freihandel oder Protektionismus zu den Grundelementen unserer Verfassungsordnung? Ich meine mich an eine Entscheidung des BVerfG zu erinnern, in der es heißt, dass das GG keine Wirtschaftsordnung vorgibt, und nach der sogar ein sozialistisches Wirtschaftsmodell verfassungsrechtlich zulässig wäre. Wenn das so ist, gibt es dann eine konkrete Außenhandelspolitik vor? Wenn nicht, gehört die Frage wenigstens zum demokratischen Grundkonsens? Da bin ich mir unsicher. Und wenn doch, ist der demokratische Grundkonsens selbst verfassungsrechtlich eigentlich geschützt oder sind es die Werte, von denen er sich inspirieren lässt? Mutet uns das GG nicht eher zu, für den demokratischen Grundkonsens politisch zu streiten?

    Wenn wir die juristische Brille aufsetzen, müssen wir sehr genau hinschauen, was verfassungsfest ist und was nicht.Das das aber nicht die einzige Brille sein sollte ist mir schon klar. M.E. ist es hier nur wichtig, juristische von politischen Argumenten zu trennen. Nur dann werden wir eine politische Debatte bekommen, die nationalistischen Bestrebungen entgegenwirken kann.

  22. Jessica Lourdes Pearson Thu 16 Feb 2017 at 18:15 - Reply

    Naja, aber der Passus zum Protektionismus zielte doch ganz offensichtlich nicht auf die AfD!? Und Herr Trump stand nicht zur Wahl, oder? Und wenn uns das GG zumutet, für den demokratischen Grundkonsens zu streiten, warum sollte dann ausgerechnet der Bundestagspräsident nicht mitmachen dürfen?

  23. Sebastian Leuschner Thu 16 Feb 2017 at 18:30 - Reply

    @Jessica Lourdes:

    Zur ersten Frage: Es würde ja gerade der Bogen von Trump zur deutschen Politik geschlagen, insofern kann man die Aussagen m.E. gerade nicht trennen. Die Aussage war gegen den Nationalismus im Allgemeinen und damit gerade auch gegen die AfD gerichtet. Zudem: Auch wenn die Aussage nicht gegen die AfD gerichtet gewesen wäre, hätte sie als politische Aussage nicht trotzdem gegen das Neutrslitätsgebot verstoßen? Zudem: Die Bundesversammlung ist kein politisches Forum, anders als der Bundestag, und zwar aus historischen Gründen. Das war ein bewusster Akt des Verfassungsgebers.

    Alles, was Lämmer sagt, soll und muss gesagt werden – aber im Bundestag.

    Zur zweiten Frage: Die Antwort habe ich in meinem Post gegeben: Der Bundestagspräsident hat im Bundestag wie in der Bundesversammlung einen Doppelhut auf: Er ist einerseits Abgeordneter bzw. Mitglied der Bundesversammlung und dann politisch, hier darf und soll er für den Grundkonsens streiten. Er muss das aber aus dem Plenum heraus tun – so zumindest auch ein großer Gtundgesetzkommentar. Er ist eben andererseits auch politisches Neutrum im Amt des Leiters des jeweiligen Verfassungsorgans und dort zur strikten Neutralität verpflichtet.

    Nur wenn wir schon jetzt auf diese notwendige objektive Organpflege achten, werden sich unsere Verfassungsinstitutionen in politisch schwierigeren Zeiten als standfest erweisen.

  24. Jessica Lourdes Pearson Thu 16 Feb 2017 at 19:16 - Reply

    “…hätte sie als politische Aussage nicht trotzdem gegen das Neutrslitätsgebot verstoßen?”

    Sie meinen also im Kern, der Leiter der Bundesversammlung müsse sich jeglicher politischen Aussage enthalten? Mit anderen Worten: Was über das Vorlesen der Abstimmungsmodalitäten hinausgeht, ist rechtswidrig?

    Es gibt einiges an Rechtsprechung zu parteipolitischen Neutralitätspflichten diverser Staatsorgane. Warum sollte ausgerechnet der Leiter der Bundesversammlung – eines Gremiums, in dem (wie Sie richtig anmerken) gerade keine diskursive Willensbildung stattfindet (und wo folglich prima facie auch weniger die Gefahr der Beeinflussung droht) – sehr viel weitergehenden (und völlig unrealistischen) Neutralitätsplichten unterliegen als alle anderen?

  25. Jessica Lourdes Pearson Thu 16 Feb 2017 at 19:27 - Reply

    Übrigens: Ich halte es im Gegenteil für der “Organpflege” äußerst abträglich, wenn man – auf Grundlage ziemlich gewagter Konstruktionen des einfachen Rechts und ohne Rückbindung an die BVerfG-Rechtsprechung – irgendwelche “Amtspflichten” statuiert, die dann – natürlich – in der Realität ständig “gebrochen” werden.

  26. Sebastian Leuschner Fri 17 Feb 2017 at 08:05 - Reply

    @Jessica Lourdes:

    Nein, das meine ich nicht. Welche Themen ich für zulässig halte, habe ich in dem Blog ja bereits ausgeführt. Ein schönes Beispiel für eine schöne Rede, die sich nicht auf die Abstimmungsmodalitäten beschränkt, hat Herr Lammert z.B. 2012 gehalten. Ebenso hat er sie auch hier gehalten, abgesehen von den vielleicht problematischen Teilen, die ich zitierte. Die Rede war ja wesentlich länger. Deshalb werden “irgendwelche Amtspflichten” in der Realität auch nicht “ständig gebrochen”.

    Zudem leite ich die Neutralitätspflicht nicht aus dem einfachen Recht ab, sondern schreibe, dass dieses das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot nur konkretisiert. Ob das so in der GO steht oder nicht, ist für die Geltung daher egal, sie diente mir hier nur als Anknüpfungspunkt, weil sie das Neutralitätsgebot explizit benennt.

    Nochmal zum besseren Verständnis: Die Bundesversammlung wurde als reines Wahlgremium für den Bundespräsidenten geschaffen. Warum? Der Bundestag schien dafür als nicht geeignet, da zu klein und nicht die föderalistische Struktur der Bundesrepublik abbildend. Zudem sollte der Bundespräsident überparteilich sein. Man schuf deshalb die Bundesversammlung, wollte damit aber gerade kein zweites Parlament neben dem Bundestag.

    Wenn man die Bundesversammlung politisieren will, bitteschön. Aber dann aber auch voll und ganz mit Möglichkeit der Aussprache, Recht zur Gegenrede etc.Das bedarf dann einer Grundgesetzänderung. Gegenwärtig sind die Voraussetzungen einer politischen Bundesversammlung nicht gegeben: Reden darf allein der Bundestagspräsident als Vertreter einer bestimmten Partei, sonst niemand. Der Bundestag hingegen sieht aus guten Gründen eine strukturierte Debatte vor. Diese Struktur wird angekratzt, wenn ein einzelner Vertreter einer Partei ein anderes Verfassungsorgan mit einem anderen Sinn und Zweck zur politischen Rede nutzt. Er schafft sich damit eine zusätzliche Bühne, die nur er betreten kann und die das Verfassungsgefüge gerade deshalb nicht vorsieht.

    Wenn wir eine politische Bundesversammlung wollen, gerne, dafür gibt es gute Gründe. Dann aber nicht durch Amtspraxis einzelner nach eigenem Gusto, sondern durch Verfassungsänderung.

  27. Sebastian Leuschner Fri 17 Feb 2017 at 08:08 - Reply

    @Jessica Lourdes:

    Zur Frage, wieso gerade der Bundestagspräsident in der Bundesversammlung anders als andere Staatsorgane einer gesteigerten Neutralitätspflicht unterliegt:

    Weil er Wahlleiter der Bundesversammlung ist. Der Bundeswahlleiter kann vor Beginn der Bundestagswahl auch nicht eine Art Wahlempfehlung abgeben, er äußert sich aus guten Gründen politisch schlicht gar nicht.

    Die Rede wäre die perfekte Antrittsrede für den gewählten Bundespräsidenten, nicht aber für den Leiter gewesen, der die ordnungsgemäße Wahl des Bundespräsidenten gewährleisten soll.

  28. Jessica Lourdes Pearson Fri 17 Feb 2017 at 10:29 - Reply

    1. Der Bundeswahlleiter ist ein Beamter. Der Leiter der Bundesversammlung ist Vorsitzender eines Verfassungsorgans und nicht zuletzt ein vom Volk gewählter Abgeordneter. Ich denke nicht, dass diese Entscheidung ein bloßes Versehen der Mütter und Väter des Grundgesetzes war.

    2. Wir drehen uns im Kreis: Lammert hat eben keine Wahlempfehlung abgegeben.

    3. Stellen Sie sich mal einen Moment vor, Lammert hätte folgenden Text vorgetragen:

    “Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. […]
    Die Würde des Menschen ist unantastbar. […]
    Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit […].
    Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. […].
    Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. […]
    Politisch verfolgte genießen Asylrecht. […]
    Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit […].”

    Dürfte er das?

  29. Sebastian Leuschner Sat 18 Feb 2017 at 08:37 - Reply

    @ Jessica Lourdes:

    Ja, dürfte er.

  30. Gumbo Koenig Sat 18 Feb 2017 at 12:41 - Reply

    “Unüberhörbar war, wem Lammerts kritische Worte galten – einerseits dem frisch gewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump, andererseits aber auch der AfD”

    “Erfüllt Lammerts Rede nun dieses Gebot der Unparteilichkeit? Das kann man zumindest mit Blick auf bestimmte Teile kaum behaupten. Letztlich hat Lammert mit seiner Rede vor den Mitgliedern der Bundesversammlung Wahlwerbung gegen den Kandidaten der AfD betrieben.”

    An dieser Stelle habe ich dann wegen der kompletten Ausblendung von Logik zugunsten von Parteilichkeit aufgehört zu lesen: man kann nicht Wahlwerbung ohne Parteilichkeit betreiben.

  31. Paul-Julian Wilke Sat 3 Jun 2017 at 14:41 - Reply

    Interessant sind vor allem die prozessrechtlichen Fragen. Ich studiere in Passau im 2. Semester Jura und habe heute über genau dieses Thema eine Klausur geschrieben. Allerdings wurde dort – soweit ich das überblicken kann – eine andere Rede zu Grunde gelegt. In unserem Fall rief der Bundestagspräsident mehr oder weniger unverhohlen dazu auf, den Kandidaten der AfD nicht zu wählen.
    Problematisch war weiterhin: Die AfD als Partei stellte den Antrag für das Organstreitverfahren. Daher die Frage: Kann sich eine Partei im Organstreit auf die Rechte der Abgeordneten in der Bundesversammlung berufen (dann wohl Art.38 GG)? Oder muss sie ihre parteispezifischen Rechte gem. Art. 21 GG einfordern? Denkbar wäre es vielleicht auch, beide Artikel verbindend geltend zu machen. Wie würden sie diese “Abwandlung”, vor allem die Problematik der Geltendmachung der Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung durch ihre Partei, bewerten?

  32. Paul-Julian Wilke Thu 27 Jul 2017 at 10:48 - Reply

    Hallo, hier ist wieder PJ!
    Haben die Klausur heute besprochen. Die AfD kann sich als Partei nicht auf Artikel 38 GG berufen.

    • Amira Thu 10 Aug 2017 at 13:23 - Reply

      Hallo Paul-Julian Wilke,
      ich schreibe zu deinem Klausurthema gerade teilweise meine Hausarbeit. An Art. 38 I 2 GG als Recht der Bundesversammlungsmitglieder habe ich auch schon gedacht. Allerdings wird dies ja abgelehnt, zumindest bezüglich des Rede-/Antragsrechts. Aus welcher Norm wurden in deiner Klausur die Rechte hergeleitet?
      Würde mich sehr über eine Antwort freuen!
      Viele Grüße

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