12 April 2017

Le Pen oder Macron? Scheinriesen werden sie beide sein

Der französische Präsident, so liest und hört man es anlässlich des Wahlkampfs derzeit in deutschen Medien, ist mit einer Machtfülle ausgestattet, die in der westlichen Welt ihresgleichen sucht. Das nährt die Angst vor einem Wahlsieg der Rechtspopulistin Marine Le Pen. Doch so berechtigt die Sorge vor der Symbolkraft eines Sieges der Führerin des Front National auch sein mag – sie wird Frankreich nicht im Alleingang umkrempeln können. Denn während sich die Präsidenten der 5. Republik politisch als Sonnenkönige gerieren konnten, solange sie über eine Mehrheit in der Nationalversammlung verfügten, entpuppten sie sich als verfassungsrechtliche Scheinriesen, sobald sich ihr politisches Lager in der parlamentarischen Opposition wiederfand.

Präsident ohne Mehrheit – König ohne Land

Dieses Schicksal eines Präsidenten, der sich einer „feindlichen“ Mehrheit in der ersten Parlamentskammer gegenüber sieht, wird von den Franzosen cohabitation, also „Zusammenleben“ genannt. Es widerfuhr zuerst François Mitterand, später Jacques Chirac, und es wird sehr wahrscheinlich auch Emmanuel Macron oder Marine Le Pen ereilen, sollte einer der beiden die Präsidentschaftswahl im Mai gewinnen. Denn auch wenn man nach Brexit und Trump-Wahl einen Moment zögert dies zu schreiben: Es scheint äußerst unwahrscheinlich, dass es Macron oder Le Pen gelingen könnte, bei den im Juni stattfindenden Wahlen zur Nationalversammlung eine Mehrheit zu erringen. Das gilt insbesondere für Emmanuel Macron, der sich derzeit auf keine Partei im herkömmlichen Sinne, sondern nur auf eine lose „Bewegung“ stützt, und dem es kaum gelingen wird, nach einer Wahl zum Präsidenten eine Koalition der Mitte aus liberalen Sozialisten, den versprengten Zentristen und dem progressiven Flügel der bürgerlichen Republikaner zu bilden. Doch auch der Front National Marine Le Pens würde nach einem Wahlsieg der Parteivorsitzenden sicherlich an Wählerstimmen gewinnen, voraussichtlich aber keine absolute Mehrheit erobern können, sondern letztlich am französischen Mehrheitswahlrecht scheitern, da er in der Fläche nicht ausreichend mit aussichtsreichen Kandidaten präsent ist.

Vom Auseinanderfallen politischer Macht und verfassungsrechtlicher Kompetenzen

Woran liegt es aber, dass den französischen Präsidenten immer wieder eine besondere Machtfülle zugeschrieben wird, obwohl sich diese letztlich als prekär erweist? Grund hierfür ist das Auseinanderfallen von politischer Macht und verfassungsrechtlichen Befugnissen. Der Modus einer Direktwahl in zwei Wahlgängen führt dazu, dass der gewählte Präsident aufgrund seiner starken demokratischen Legitimation zum zunächst unanfechtbaren Führer seines politischen Lagers wird. Auch die Autorität des General de Gaulle als erstem Präsidenten der 5. Republik hat das Amt in der Wahrnehmung der Franzosen nachhaltig geprägt. Es erschien daher lange Zeit selbstverständlich, dass ein Premierminister aus dem politischen Lager des Präsidenten seinen Rücktritt einreicht, sobald dies vom Präsidenten gewünscht wird. Zwingen kann der Präsident den Premierminister, der als Regierungschef nach der Verfassung der eigentlich bestimmende Akteur der Exekutive ist, jedoch nicht. Trotzdem musste sich François Fillon in seiner Zeit als Premierminister unter dem Hyperpräsidenten Sarkozy von diesem als „mein Mitarbeiter“ demütigen lassen. Je nach persönlichem Temperament nahmen die französischen Präsidenten auch auf die Gesetzgebung Einfluss, indem sie entweder zumindest die politischen Leitlinien vorgaben oder den Ministern im Ministerrat jeweils konkrete Hausaufgaben ins Heft diktierten.

Bei alledem handelt es sich jedoch um die Ausübung politischer Macht, die sich nicht aus der französischen Verfassung ergibt. Wenn die Mehrheitsfraktionen in der Nationalversammlung den Präsidenten nicht (mehr) als ihren natürlichen Führer anerkennen, zeigt sich, dass dieser aus der Nähe betrachtet nur das Normalmaß eines handelsüblichen Staatschefs aufweist, ein Sonnenkönig ohne Land. Denn die Gesetzgebung kann er in diesem Fall inhaltlich kaum mehr beeinflussen, sondern es bleibt ihm allein die Möglichkeit, nach dem Vorbild von Mitterand durch Geschäftsordnungstricks Sand ins Getriebe zu streuen. Sein Recht, den Premierminister zu ernennen, wird dadurch relativiert, dass eine Mehrheit in der Nationalversammlung die Regierung durch ein Misstrauensvotum stürzen kann, ohne sich dafür auf einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt einigen zu müssen. Und auch das voraussetzungslose Recht zur Auflösung des Parlaments kann vom Präsidenten nur einmal im Jahr ausgeübt werden und gibt ihm natürlich nicht die Macht, die Wahl der ihm genehmen Abgeordneten zu erzwingen. Schließlich ernennt der französische Präsident im Gegensatz zu seinem amerikanischen Amtskollegen nur drei der derzeit zehn aktiven Mitglieder des französischen Verfassungsgerichts.

Konstruktive und Destruktive Potentiale

Während ein Präsident Macron mutmaßlich versuchen würde, eine sich abzeichnende institutionelle Blockade dadurch zu überwinden, dass er einen überparteilichen Kandidaten zum Premierminister ernennt, bliebe einer Präsidentin Le Pen allein die Möglichkeit, beide Befugnisse in destruktiver Weise auszuüben – im schlimmsten Fall unter missbräuchlicher Heranziehung der Notstandbefugnisse –, um sich anschließend als von der Machtelite ausgebremste Märtyrerin zu gerieren. Ihre politische Agenda könnte sie allein im Wege des Referendums durchzusetzen versuchen, wofür sie aber wiederum von einem Vorschlag der Regierung abhängig wäre. Hierin allein könnte das Interesse Le Pens liegen, einmalig eine dem Misstrauensvotum geweihte Regierung zu ernennen, die dann postwendend ein Referendum über den Austritt aus dem Euro und vielleicht sogar der EU vorschlägt. Während sie ansonsten also weitgehend machtlos wäre, könnte Marine Le Pen jedenfalls den Frexit auf die politische Tagungsordnung setzen. Und hier bricht dann der Vergleich mit dem Scheinriesen, wie ihn Michael Ende im Kinderbuch „Jim Knopf“ erfunden hat. Denn dieser sieht zwar aus der Ferne furchterregend aus, stellt sich aber, sobald man sich ihm nähert, nicht nur als deutlich kleiner, sondern auch als äußerst liebenswürdig heraus. Dass dies auch für eine Präsidentin Le Pen gelten könnte, darauf sollten Franzosen wie Deutsche trotz aller medialen Überzeichnungen der präsidentiellen Befugnisse nicht hoffen.


5 Comments

  1. Dominic Schelling Thu 13 Apr 2017 at 19:28 - Reply

    Excellenter Artikel, welcher ein staatsrechtliches Thema vorzügliche mit einem politologischen verbindet. Meine Frage an den Verfasser: Inwieweit gleicht die Verfassung der fünften Republik der Weimarer Verfassung im Bezug auf die Regierungsbildung, sprich Einflussnahme des Staatsoberhauptes? Mir scheint es, dass es einige paraellen gibt, was die Stellung der obersten Regierungsgewalten anbelangt. Nach 1958 hat die Kadenz der Regierungswechsel in Frankreich ja bekanntlich stark abgenommen. Was könnte hier der Hauptgrund gewesen sein? War es die verfassungsmässig stark aufgewertete Stellung des Präsidenten, was ja die Intention, insbesonders von De Gaulle, war?

  2. Dominic Schelling Mon 17 Apr 2017 at 11:43 - Reply

    Dieser Artikel macht nach meiner Meinung auch noch deutlich, dass im westlich orientierten Verfassungsstaat das Parlament ausnahmslos die Hauptrolle spielt. Egal ob in einem Präsidial- oder parlamentarischen System, gegen eine Parlamentsmehrheit ist eine aktive Politikgestaltung nicht möglich. Der US-Präsident kann zwar sein Veto einlegen und Dekrete erlassen aber ohne Kongress kann er fast nichts gesetzlich ungebundenes Ausgeben, geschweige denn Reformen umsetzen. Zwar hat ein Regierungschef/in mit absoluter Mehrheit, solange er der unumstrittene Leader seiner Partei ist, sehr viel Macht, insbesonders in Großbritannien, aber wenn er das Vertrauen des Parlaments verliert, ist er sehr schnell sein Amt los. Natürlich ist in einem parlamentarischen System, wo eine Partei oder eine Koalition mit absoluter Mehrheit dominiert, die Kontrolle durch das Parlament natürlich eingeschränkt. In so einem Fall spielen die Gerichte eine grosse Rolle und können Rechtsverletzungen der Regierung gegebenenfalls korrigieren, solange natürlich die Zusammensetzung der Gerichte und ihr Ernennungsprozess nicht zu stark aus ideologischen Gründen beeinflusst ist. Diese Tendenz ist ja leider momentan in einigen Ländern wieder verstärkt zu beobachten.

  3. Nikolaus Marsch Tue 18 Apr 2017 at 14:53 - Reply

    Herzlichen Dank für Ihre Kommentare und Fragen, auf die ich wegen der Feiertage erst jetzt und nur knapp antworten kann.
    Parallelen zur WVR gibt es, wobei die Direktwahl des französischen Präsidenten erst 1962 durch ein – prozedural verfassungswidriges – Verfassungsreferendum auf Betreiben von de Gaulle eingeführt wurde und zwar gegen den Widerstand des Parlaments.
    Die relative Stabilität der französischen Regierungen seit 1958 würde ich weniger auf das Verfassungsrecht als auf das verhältnismäßig stabile französische Parteiensystem zurückführen. Was ein Wahlsieg Macrons in dieser Hinsicht bedeuten würde, scheint mir besonders spannend und unabsehbar.

  4. Manfred Tue 18 Apr 2017 at 17:08 - Reply

    Egal wer die Wahlen in Frankreich gewinnt, jeder wird scheitern. Frankreich ist nicht reformierbar.

  5. Dominic Schelling Tue 18 Apr 2017 at 21:49 - Reply

    Verfassungaväter- und mütter dachten wohl bei der Konstruktion von zweiten Wahlgängen/Stichwahlen damit eine Sicherungsfunktion eingebaut zu haben gegen extremistische Kandidaduren. Was ist nun aber wenn das gemäßigte Lager geschwächt und aufgesplittert ist, wie momentan in Frankreich, und “Dummerweise” ein Linksradikaler sowie eine Rechtsradikale in die Stichwahl kommen? Die dazu noch nicht einmal die Mehrheit der Wähler repräsentiert? Die Folgen wären dramatisch für Frankreich und Europa! Hier sollte es doch auf Ebene der Verfassung Korrekturen geben, z.B. in Form von zweit und dritt Stimmen die ein Wähler abgeben kann. Eine allfällige Stichwahl wäre dann demokratisch legitimierter. 2002 als Chirac und Le Pen in der Stichwahl standen, repräsentierten diese beiden nur ca. 37 Prozent der gesamten Wählerschaft. Das gleiche kann jetzt wieder passieren, was ich verfassungsrechtlich für sehr problematisch halte, da dann eben eine Minderheit entscheidet wer in die Stichwahl kommt und es eben eine gefährliche Kombination sein kann.

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