22 June 2017

Das italienische Wahlrecht nach deutscher Art reformieren – oder nicht?

In der langjährigen Debatte zur Reform des 2. Teils der italienischen Verfassung – inklusive des „perfekten“ Zweikammersystems und der als defizitär wahrgenommenen Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen dem Staat und den Regionen – hat das Wahlgesetz für das Abgeordnetenhaus und den Senat eine wesentliche Rolle gespielt. Die Instabilität der Wahlgesetze in den letzten 25 Jahren spiegelt die Fehler und verpassten Chancen des politischen Übergangs wider, der in der ersten Hälfte der 1990er Jahre begann.

Seit der Gesetzentwurf für die Verfassungsreform am 4. Dezember 2016 an einer Volksabstimmung scheiterte und der Verfassungsgerichtshof wichtige Vorschriften des Wahlgesetzes für das Abgeordnetenhaus für verfassungswidrig erklärte, dominiert die Diskussion zur Reform des nationalen Wahlrechts die Idee, ein Wahlsystem, das der deutschen personalisierten Verhältniswahl irgendwie ähnelt, in Italien einzuführen. Ende Mai schienen sich die vier in den Meinungsumfragen stärksten politischen Parteien auf ein auf italienische Verhältnisse angepasstes „deutsches“ Wahlsystem geeinigt zu haben. Zurzeit aber ist die parlamentarische Diskussion zu diesem Gesetzentwurf aufgrund der inzwischen aufgetauchten Unzufriedenheit einiger Kontrahenten unterbrochen worden.

Das Ziel dieses kurzen Kommentars ist nicht im Detail darzulegen, was der deutsch inspirierte Wahlgesetzentwurf vorsieht, sondern wie (und inwieweit) die spezifischen Aspekte des deutschen Bundestagswahlgesetzes in die italienische Verfassungsordnung umgesetzt worden sind. Zunächst soll aber die Vorgeschichte dieses (vorerst gescheiterten) Versuchs beleuchtet werden.

Seit dem Inkrafttreten des Wahlgesetzes Nr. 270/2005 (Calderoli-Gesetz) ist diese Diskussion um ein anderes Motiv erweitert worden: die Sorge für ein Wahlgesetz, die nicht offenbar verfassungswidrig ist. Im Calderoli-Gesetz stießen vor allem zwei Aspekte in weiten Teilen der Verfassungsrechtswissenschaft und der öffentlichen Meinung auf heftige Kritik: die automatische 55-Prozent-Quote der Abgeordnetensitze für die stärkste Parteiliste oder Koalition der Parteilisten unabhängig von seinem Wahlergebnis („Mehrheitsprämie“), und der Umstand, dass alle Parlamentsmitglieder über „lange“ und starre Parteilisten ihr Mandat erreichten. Außerdem erhöhten die erheblichen Unterschiede zwischen den Wahlsystemen für das Abgeordnetenhaus und den Senat das Risiko unterschiedlicher Kraftverhältnisse zwischen der beiden Kammern. Nach der herrschenden Meinung wurde der Verfassungsgerichtshof sogar dazu „gezwungen“, die wesentlichen Grundsätze für ein neues Wahlgesetz mit seinem Urteil Nr. 1/2014 zu diktieren. Mit dem Gesetz Nr. 52/2015 versuchte die Mitte-Links-Mehrheit, die Matteo Renzis Kabinett unterstützte, die offenbar problematischsten Aspekte des Calderoli-Gesetzes zu korrigieren. Dennoch hielt das neue Wahlgesetz klar am Konzept einer stark rationalisierten Verhältniswahl fest, in dem die stärkste Parteiliste (aber nicht mehr Koalition der Parteilisten) die 55-Prozent-„Prämie“ nur erhielt, wenn sie zumindest 40 Prozent in der ersten Wahlrunde oder 50 Prozent in der etwaigen zweiten Wahlrunde bekommen hatte. Besonders erwähnenswert ist, dass das Italicum-Gesetz nur das Wahlsystem für das Abgeordnetenhaus regelte, denn der Senat sollte in eine indirekt gewählte Versammlung der regionalen und lokalen Regierungen durch Verfassungsreform umgewandelt werden.

Nachdem die Wähler klar gegen die Verfassungsreform stimmten, erklärte der Verfassungsgerichtshof mit dem Urteil Nr. 35/2017 bedeutende Aspekte des Italicum-Gesetzes für verfassungswidrig, u.a. die „unvernünftige“ Regelung der Zwei-Runden-Wahl. Wie C. Caruso und M. Goldoni vor einigen Wochen festgestellt haben, ist der dem Italicum-Wahlsystem zugrundeliegende Leitgedanke – d.h. ein stark rationalisiertes Verhältniswahlsystem, das dem Sieger eine klare Mehrheit der Parlamentssitze zusichert – von den Verfassungsrichtern demontiert worden.

Obwohl der Verfassungsgerichtshof in den beiden zitierten Urteilen eine durchaus aktivistische Haltung eingenommen hat, hat er am Ende des Urteils Nr. 35/2017 den Gesetzgeber eingeladen, ein anderes Problem selbst zu lösen, die mit der geforderten „Harmonie“ zwischen den Wahlsystemen der beiden Kammern zu tun hat. Die italienische Verfassung schreibt zwar nicht vor, dass sich der Gesetzgeber für „identische Wahlsysteme“ für das Abgeordnetenhaus und den Senat entscheidet, aber „sie fordert, dass die ausgewählten Systeme, trotz ihrer möglichen Unterschiede, die Bildung homogener Parlamentsmehrheiten infolge der Wahl nicht verhindern“ (§ 15.2 des Urteils).

Diese Umstände liegen der jüngsten Diskussion zur Wahlreform zugrunde und zeigen, warum die parteipolitischen Eliten vom Konzept einer stark rationalisierten Verhältniswahl vorläufig Abschied genommen haben.

Der Vorsitzende der italienischen Vereinigung der Verfassungsrechtslehrer M. Luciani hat die fundamentalsten Grundsatzentscheidungen, die der Wahlgesetzgeber treffen müsste, synthetisch zusammengefasst: Regierbarkeit (oder Regierungsstabilität), Repräsentativität, Stabilität, Logizität und Verfassungskompatibilität (mit besonderem Bezug auf die Wahlgleichheit). All diese Sorgen trügen dazu bei, die Verdienste des deutschen Wahlsystems hervortreten zu lassen, denn dieses kombiniert die Verhältniswahl, mit der die Parteien und ideologischen Strömungen vor die Wähler treten, die Einerwahlkreise, die die direkte Verbindung zwischen den Abgeordneten und „ihren“ Wählern fördern, und die 5-Prozent-Hürde, die Splitterparteien vom Einzug in den Parlament ausschließt und die Handlungsfähigkeit und Stabilität der Regierungsmehrheit verstärken soll. Ein weiterer Vorzug der deutschen personalisierten Verhältniswahl ist, dass es mit der Vergabe von Erst- und Zweitstimmen den Wählern ermöglicht, nicht nur ihre Lieblingspartei, sondern auch ihren Wunschkoalitionspartner zu wählen.

Entspricht der Inhalt des Gesetzentwurfes zur Einführung eines deutsch inspirierten Wahlsystems diesem grundsätzlichen Konzept?

Ein erster bedeutsamer Unterschied zwischen dem italienischen Gesetzentwurf und der deutschen Bundeswahlgesetz ist direkt mit dem Wortlaut der Verfassung verbunden. Nach den Artikeln 56 Abs. und 57 Abs. 2 der Verfassung sind die beiden Kammern des Parlaments beziehungsweise aus 630 Abgeordneten und 315 Senatoren zusammengesetzt. Wie S. Ceccanti gezeigt hat, ist es in Deutschland möglich, die Kraftverhältnisse unter den im Parlament vertretenen Parteien genau widerzuspiegeln und zugleich allen erfolgreichen Direktkandidaten Mandate zu geben. Unter den heutigen verfassungsrechtlichen Umständen wäre es ganz schwierig, diese beiden Merkmale des deutschen Modells nach Italien zu verpflanzen.

Um dieses Problem zu lösen, haben die Befürworter des Gesetzesentwurfes vorgeschlagen, dass die italienischen Wähler nur über eine Stimme verfügen sollen. Außerdem enthält der Wahlzettel eine Liste der Kandidaten des jeweiligen Einerwahlkreises und eine Liste der Kandidaten der starren Parteilisten. Für jede Parteiliste, die mehr als 5 Prozent der gültigen Stimmen erhält, bestimmt der Anteil der erhaltenen Stimmen auch den Anteil ihrer Haus- oder Senatssitze. Um dem „Geist“ des deutschen Modells treu zu bleiben und die Besonderheiten der italienischen Rechtsordnung zu respektieren, stellt der Gesetzentwurf (Art. 1 Abs. 20) im Detail die Reihenfolge fest, in der die Kandidaten jeder Parteiliste ein Abgeordneten- oder Senatorenmandat erhalten. Zuerst werden jene Kandidaten ausgewählt, die in den Einerwahlkreisen als Sieger mit mehr als 50 Prozent der gültigen Stimmen hervorgegangen sind. Danach wird der Spitzenkandidat der lokalen Parteiliste ausgewählt, und dann die verbliebenen Gewinner der Einerwahlkeise. Sollte eine Partei noch andere Sitze erhalten, würden diese den übrigen Kandidaten der Parteiliste und den unterlegenen Kandidaten der Einerwahlkreisen zuerkannt. Wenn eine Partei aber weniger Sitze bekäme als sie Einerwahlkreise gewonnen hat, werden die „schwächsten“ Gewinner der Einerwahlkreise nicht berücksichtigt. Dies erlaubt, den proportionalen Charakter der Wahl zu gewährleisten und die in der Verfassung vorgeschriebene Nummer der Parlamentsmitglieder nicht zu überschreiten. Insoweit kann man sagen, dass der Versuch, das deutsche Modell auf das italienische Wahlrecht anzupassen, nur teilweise gelungen ist. Im Lichte der Vorschriften zur Reihenfolge der auszuwählenden Kandidaten ist die Personalisierung dieses Verhältniswahlsystems begrenzt, denn nicht alle Gewinner in den Einerwahlkreisen haben wirklich Anspruch auf ein Abgeordneten- oder Senatorenmandat.

Ein weiterer, tief verankerter Grund der Skepsis gegenüber diesem Gesetzentwurf hat mit den starren Listen zu tun. Im letzten Jahrzehnt hat sich in der Wahlreformdebatte die Ablehnung der starren Listen in der öffentlichen Meinung immer mehr verbreitet. Das „deutsche“ Wahlsystem, das das Parlament in den letzten Wochen diskutiert hat, sichert den Spitzenkandidaten der starren Parteilisten eine privilegierte Stellung zu. Den Kritikern nach präjudiziert diese Entscheidung den Versuch, die Verbindung zwischen den Wählern und ihren Vertretern nach einem Jahrzehnt der Politikverdrossenheit erneut zu verengen. Meiner Meinung nach sind aber einige der Mängel, die den starren Listen immer wieder vorgeworfen werden, keine direkte oder unvermeidbare Konsequenz der Entscheidung für das Verhältniswahlrecht: das gilt vor allem für die immer wiederkehrende Behauptung, dass jene Parlamentsmitglieder, die über die starren Parteilisten ins Parlament einziehen, nicht wirklich von den Bürgern gewählt, sondern von den Parteiapparaten „nominiert“ werden. Diese Probleme, die immer wieder mit der Diskussion zur Wahlreform assoziiert werden, liegen vielmehr an den Demokratiedefiziten in der inneren Struktur der gegenwärtigen italienischen politischen Parteien. Aber zu einem Parteiengesetz im Sinne des Art. 49 der Verfassung ist es bisher nicht gekommen.


One Comment

  1. Christian Schmidt Wed 28 Jun 2017 at 16:53 - Reply

    Vielleicht sollten die Italiener nicht nach Deutschland schauen, sondern in die Schweiz – genauer gesagt nach Zuerich.

    Offene Listen pro Region, festgelegte Anzahl von Abgeordneten pro Region, kombinierbar mit 5% Huerde – die Biproportionale Divisorverfahren ist Ideal fuer Italien.

    Das exakt selbe System kann man fuer beide Kammern anwenden, was die Wahrscheinlichkeit von unterschiedlichen Mehrheiten doch ziemlich reduzieren sollte.

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