Fiktion versus Faktizität
Das mit der „Esra“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgeworfene Kernproblem der Kollision von Kunstfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht wurzelt in einer komplexen Mehrdimensionalität. Kunst und künstlerische Literatur sind als eine von der Realität abgehobene Dimension zu begreifen, die man – um die berühmte Formulierung der früheren Bundesverfassungsrichterin Rupp-von Brünneck aufzugreifen – nicht mit der „Elle der Realität“ messen dürfe (Sondervotum Rupp-von Brünneck, BVerfGE 30, 173 Tz. 113). Die andere Dimension bildet die reale Lebenswirklichkeit mit tatsächlichen Personen und Geschehnissen, die im Übrigen zulässigerweise als Vorbild für fiktionale Figuren herangezogen werden können. Fiktion versus Faktizität – auf diese Formel lässt sich das Spannungsverhältnis bringen, das aus dem scheinbar nicht aufzulösenden Konflikt von Abschottung und Verquickung beider Dimensionen und der schier nicht lösbaren Kollision zweier vorbehaltlos gewährter Grundrechte resultiert: der Kunstfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.
Eine anfängliche Verbindung beider Dimensionen ist zumeist genuiner Bestandteil des literarischen Schöpfungsprozesses. Fiktion – so lauten die vielfachen Beschreibungsversuche für diese Kunstgattung – werde aus der Realität im Wege der Inspiration entwickelt und hieraus im schöpferischen Prozess gestaltet, um schließlich reale Vorbilder als künstlerisch konturierte Figuren auf eine höhere Ebene der Kunst zu heben. Es werde – mit den Worten des damaligen Bundesverfassungsrichters Stein im Sondervotum zur „Mephisto“-Entscheidung – eine „wirklichere Wirklichkeit“ geschaffen, „in der die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Individuum bewußter erfahren“ werde. In der ästhetischen Realität sei „Faktisches und Fiktives ungesondert gemischt“ und bilde eine „unauflösliche Verbindung“. Beinahe enigmatisch mutet es an, wenn Stein weiter schreibt „alles ist freies ‚künstlerisches Spiel’“ (Sondervotum Stein, BVerfGE 30, 173 Tz. 77). Über dieses Hineinwirken von Realität in den Schaffensprozess von Fiktion mag mittlerweile recht schnell ein Konsens herzustellen sein.
Eine Verbindung beider Dimensionen von Fiktion und Faktizität ist jedoch auch zu einem späteren Zeitpunkt denkbar, wenn das fertige Literaturwerk der Öffentlichkeit überantwortet wird. Sie kann dadurch hergestellt werden, dass reale Persönlichkeiten durch die fiktiven Figuren gleichsam hindurchschimmern. Das Bundesverfassungsgericht knüpft an dieses Phänomen bei Erkennbarkeit von realen Personen als Vorbilder für Romanfiguren unter bestimmten Umständen rechtliche Konsequenzen. Gerade über die Anerkennung einer solchen Verbindung von Fiktions- und Faktizitätsdimension mit Rückwirkungen auf die reale, rechtliche Ebene lässt sich seit jeher kein Konsens erzielen. Stattdessen wird dem Bundesverfassungsgericht vorgeworfen, die Spezifik eines künstlerischen Romans als ein der Dimension der Fiktion zuzuordnendes Werk der Kunst zu negieren. Es sei nicht statthaft, die eine mit der anderen Dimension zu vermischen. Kunst dürfe nicht als Realität betrachtet und im Abwägungsprozess wie ein Tatsachenbericht rechtlich gewürdigt werden. Wollte man diesem Vorwurf ausnahmslos beipflichten, so würde dies allerdings bedeuten, die Kunst jeglicher Berührung mit der realen Welt zu entheben. Kunst wäre eine quasi „unantastbare“ Kategorie, eine alles erlaubende Ausdrucksform. Dies ist bereits nicht mit der verfassungsrechtlichen Dogmatik des Grundgesetzes zu vereinbaren, die eine beiden Grundrechten gerecht werdende Abwägung verlangt. Eine solche Position würde aber darüber hinaus auch nicht den sozialen Gegebenheiten gerecht. Denn Kunst entfaltet durchaus Wirkungen in der realen, sozialen Umwelt, ja, sie soll gerade – bei künstlerischem Anspruch des Urhebers – Umweltwirkungen bei den Rezipienten des betreffenden Literaturwerkes und damit in der Realität entfalten. Umgekehrt mag man den Kritikern der „Esra“-Rechtsprechung des BVerfG daher vorhalten (wie es auch Georg M. Oswald in seinem Blogbeitrag festhält), sie negierten die sozialen Wirkungen eines Romans. So scheint insgesamt, wenn man nicht einem (verfassungsrechtlich nicht zu begründenden) bedingungslosen Vorrang pro arte das Wort reden möchte, die Annahme einer Interdependenz von Fiktion und Realität einen gangbaren Lösungsweg zu weisen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner „Esra“-Entscheidung zu Recht wesentliche Forderungen aus den Sondervoten der damaligen Bundesverfassungsrichter Stein und Rupp-von Brünneck zur Mephisto-Entscheidung von 1971 aufgegriffen. So wird die gebotene kunstspezifische Betrachtungsweise (sogar auch im Rang eines Leitsatzes) hervorgehoben. Das künstlerische Werk dürfe nicht am Maßstab der Realität gemessen werden. Denn ein Kunstwerk strebe – ganz im Sinne Steins – „eine gegenüber der ‚realen’ Wirklichkeit verselbständigte ‚wirklichere Wirklichkeit’ an […]“ (BVerfGE 119, 1 Tz. 83). Die Kunstfreiheit schließe es ein, dass der Künstler bei seinem Schaffensprozess an realen Personen als Vorbilder für Romanfiguren anknüpfen darf; der Leser sei mündig und daher in der Lage, ein Werk der Literatur von einem Tatsachenbericht zu unterscheiden und demgemäß zu bewerten. Und noch einen Schritt weitergehend stellt das Bundesverfassungsgericht eine generelle Vermutung der Fiktionalität auf (BVerfGE 119, 1 Tz. 84). In einer umfassenden Wechselwirkungsprüfung verbindet das Bundesverfassungsgericht die Dimensionen von Fiktion und Faktizität mit dem Ziel, praktische Konkordanz herzustellen (BVerfGE 119, 1 Tz. 90 und 4. Leitsatz). Um beiden Grundrechten gerecht zu werden, ist im Grundsatz ein anderer Weg kaum vorstellbar. Soweit die Theorie. Wie aber sieht die Praxis aus?
Es bleibt der Vorwurf mangelnder Praktikabilität der Instrumente, die das Bundesverfassungsgericht in seiner „Esra“-Entscheidung entwickelt hat. Unabhängig davon, dass ein umfassender und komplizierter Abwägungsprozess auch in anderen grundrechtlichen Kollisionskonstellationen notwendig ist und dies damit nicht zwangsläufig ein Gegenargument mangelnder Praktikabilität stützt, sind die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Instrumente durchaus in der Praxis verwendbar. Die Wechselwirkungsprüfung läuft praktisch in erster Linie darauf hinaus zu ermitteln, „[…] in welchem Maße der Künstler es dem Leser nahelegt, den Inhalt seines Werkes auf wirkliche Personen zu beziehen […]“ und ob “[…] dem Leser deutlich gemacht wird, dass er nicht von der Faktizität des Erzählten ausgehen soll“ (BVerfGE 119, 1 Tz. 81 und 85). Erst wenn dies der Fall ist, kommt der rechtlichen Realität einer denkbaren (ebenfalls genau zu ermittelnden) Persönlichkeitsrechtsverletzung gegenüber der durch die Kunstfreiheit gesicherten Dimension Bedeutung zu. Gerade dieser Ermittlungsschritt wird nur mit literaturwissenschaftlichem Sachverstand sinnvoll zu unternehmen sein. Dies ist die geeignete Disziplin, mit deren Hilfe die „Autor-Leser-Kommunikation“ angemessen beurteilt werden kann. Dabei wird in der praktischen Umsetzung rasch entlarvt werden, dass es keineswegs darauf ankommen kann, ob der Autor sein Narrativ „aus eigenem Erleben“ darbietet. Die Verwendung eines Ich-Erzählers spielt augenscheinlich keine Rolle bei der Frage, ob der Autor seine Fiktionsübereinkunft mit dem Leser aufgegeben hat. Dies ist der zentrale wie auch berechtigte Kritikpunkt, welcher der Begründung der „Esra“-Entscheidung entgegenzuhalten ist.