13 September 2017

Hat das Völkerrecht die (Atom-)Waffen gestreckt? Nordkorea und ein potentieller Militärschlag der USA

Der Konflikt um das nordkoreanische Atomprogramm spitzt sich immer weiter zu. Nachdem Nordkorea am 2. September 2017 seinen 6. Atomtest durchgeführt hatte, erließ der UN-Sicherheitsrat am Montag, den 11. September 2017, erneut eine Resolution aufgrund von Kap. VII der UN-Charta. Mit dieser Resolution (S/RES/2375 (2017)), wurden die bisher gegen Nordkorea verhängten, nicht-militärischen Sanktionen nochmals verschärft (allerdings nicht in dem ursprünglich von den USA gewünschten Ausmaß). Neben diesen Bemühungen des UN-Sicherheitsrats, die Nordkoreakrise zu lösen, gibt es immer wieder Äußerungen der US-Regierung – und auch von Trump selbst – dahingehend, dass die USA die Krise im Notfall selbst unilateral militärisch lösen könnten.

Ich möchte mich in meinen Beitrag der Frage widmen, wie es eigentlich um die Völkerrechtskonformität eines solchen potentiellen unilateralen Militärschlags der USA gegen das nordkoreanische Atom- und Raketenprogramm bestellt ist.

Die zentralen völkerrechtlichen Bestimmungen für Militärschläge finden sich in der UN-Charta. Diese sieht in Art. 2 Nr. 4 ein umfassendes Verbot zwischenstaatlicher Gewaltanwendung vor. Hiervon gibt es jedoch zwei Ausnahmen: die Anordnung militärischer Sanktionen durch den Sicherheitsrat als ultima ratio, wenn „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt“ (Art. 39 und 42 UNCh) sowie das Selbstverteidigungsrecht „im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“ (Art. 51 UNCh).

Können sich die USA auf ein Recht zur (präventiven) Selbstverteidigung berufen?

Damit ein potentieller Militärschlag der USA gegen das nordkoreanische Atom- und Raketenprogramm eine solche letztgenannte Ausnahme des Gewaltanwendungsverbots darstellt, muss also eine Selbstverteidigungslage vorliegen. Indes, ein gegenwärtiger bewaffneter Angriff Nordkoreas auf die USA besteht derzeit nicht.

Nach überwiegender Auffassung wird von Art. 51 UNCh aber auch ein unmittelbar bevorstehender Angriff umfasst. Wann ein solcher vorliegt, bestimmt sich nach der sog. Webster-Formel aus dem Jahre 1841: Der Angriff muss überwältigend sein und darf weder eine Wahl der Mittel, noch Zeit für weitere Beratungen zulassen („It will be for that Government to show a necessity of self-defence, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation.”). Aus meiner Sicht hat sich die von Nordkorea ausgehende allgemeine Bedrohungslage noch nicht zu einem solchen unmittelbar bevorstehenden Angriff verdichtet. Auch wenn Nordkorea im Hinblick auf die gestern verabschiedete Sicherheitsresolution angedroht hat, den USA the greatest pain and suffering zufügen zu wollen, wenn sie weiterhin neue Sanktionen gegenüber Nordkorea fordern, besteht doch immerhin noch Zeit für Beratungen. Dies entspricht auch grundsätzlich der derzeitigen Sichtweise der USA selbst (vgl. die Aussagen der amerikanischen UN-Botschafterin Nikki Haley am 11. September).

Wie soll das Völkerrecht mit der Bedrohungslage durch den Besitz von Atomwaffen durch einen Schurkenstaat umgehen?

Fraglich ist allerdings, ob auch eine allgemeine Bedrohungslage durch den Besitz von Atomwaffen in den Händen sog. rogue states ein Recht zur Selbstverteidigung gewähren kann. Besteht in einem solchen Falle ein Recht auf präventive Selbstverteidigung? Dies wird insbesondere von einigen US-amerikanischen Autoren gefordert. Deren Hauptargument ist, dass die Webster-Formel nicht auf die Bedrohung durch Atomwaffen in den Händen von Schurkenstaaten passe und daher weiterentwickelt werden müsse. Im Falle einer solchen Bedrohungslage bestehe schon im Vorfeld eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs ein Recht zur Selbstverteidigung. Dies folge u.a. daraus, dass durch den Abwurf einer Atombombe extreme Schäden drohten. Ein zu langes Abwarten könne dazu führen, dass man das begrenzte Zeitfenster des Schutzes der eigenen Zivilbevölkerung vor solchen Gefahren verpasst (so z.B. der Ansatz von John Yoo, einem ehemaligen Berater von George Bush im AJIL 2003, 563). Dies entspricht auch grundsätzlich dem Ansatz der nationalen Sicherheitsstrategie von George W. Bush aus dem Jahre 2002.

Die rechtliche Kernfrage ist allerdings, ob eine solche Weiterentwicklung des Selbstverteidigungsrechts tatsächlich stattgefunden hat. Es gibt zwei Möglichkeiten der Weiterentwicklung einer völkervertraglichen Norm. Sie kann einerseits durch eine spätere Übung der Vertragsparteien fortentwickelt werden. Nach Art. 31 Abs. 3 lit b) WVK ist bei der Auslegung eines Vertrags außer dem Zusammenhang auch „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“ zu berücksichtigen. Die zweite Möglichkeit besteht in der Entwicklung späteren Völkergewohnheitsrechts. Dieses kann den Inhalt eines völkerrechtlichen Vertrags derogieren. Hierzu ist eine entsprechende Übung der Staaten erforderlich, getragen von einer Rechtsüberzeugung (opinio juris). Ob im Einzelnen eine Weiterentwicklung eines völkervertraglichen Vertrags aufgrund späterer Praxis oder eine Derogation durch Völkergewohnheitsrecht erfolgt, ist schwer festzustellen und oft gewissermaßen „Geschmackssache“.

Die Staatenpraxis zu nuklearen Bedrohungslagen ist in Bewegung

Die existierende Staatenpraxis reicht hier aber weder für das eine noch für das andere. Das gilt, obwohl die Staatenpraxis mittlerweile in Bewegung geraten ist und das Recht zur präventiven Selbstverteidigung gegenüber nuklearen Bedrohungslagen nicht mehr so kategorisch abgelehnt wird, wie es beispielsweise noch 1981 der Fall war. Damals war die Staatenpraxis eindeutig. Israel hatte einen irakischen Atomreaktor in der Nähe von Bagdad zerstört und dies damit gerechtfertigt, dass der „teuflische“ Saddam Hussein nun gehindert werde, israelische Städte mit Atombomben anzugreifen. In der Sicherheitsratsresolution 487 aus dem Jahre 1981 wurde das israelische Vorgehen einstimmig als völkerrechtswidrig verurteilt.

Die derzeitige Staatspraxis zeigt sich hingegen ambivalenter, aber dabei noch viel zu uneindeutig und widersprüchlich, um aus ihr heute schon eine Erweiterung des Selbstverteidigungsrechts entnehmen zu können. Die nationale Sicherheitsstrategie George W. Bushs aus dem Jahre 2002, die das Recht der USA zur präventiven Selbstverteidigung u.a. bei nuklearen Bedrohungslagen durch Schurkenstaaten betont hat, wurde von zahlreichen Staaten kritisiert und von Barack Obama im Jahre 2010 schließlich weitestgehend zurückgenommen. Auch ein israelischer Angriff auf den damals im Bau befindlichen Atomreaktor Al Kibar in Syrien im Jahre 2007 führte zu keiner eindeutigen Staatenpraxis. Zwar schwieg die internationale Gemeinschaft schwieg hierauf. Aus diesem Schweigen kann aber weder eine Billigung des Militäreinsatzes selbst, noch die Befürwortung einer Erweiterung des Rechts auf Selbstverteidigung gefolgert werden. Dies liegt vor allem an den spezifischen Umständen des Angriffs selbst. Es drangen zunächst kaum Informationen an die Öffentlichkeit. Israel rechtfertigte den Angriff auch nicht, sondern hüllte sich sieben Monate lang nach dem Vorfall ebenso in Schweigen wie die USA. Auch Syrien zeigte sich sehr zurückhaltend und machte zunächst nur eine Verletzung seines Luftraumes geltend.

Damit gilt, dass keine völkerrechtlich valide Erweiterung des Selbstverteidigungsrechts auf abstrakte nukleare Bedrohungslagen stattgefunden hat. Ein unilateraler Militärschlag gegen Nordkorea würde derzeit einen Verstoß gegen das Gewaltverbot darstellen und damit völkerrechtswidrig sein.

Aber: Rechtliche Grauzone

Das Problem an der derzeitigen Rechtslage ist allerdings, dass wir uns in einer gewissen rechtlichen Grauzone befinden (wie bereits die US-amerikanische Völkerrechtlerin Monica Hakimi zutreffend bemerkt hat). Dies liegt daran, dass die Staatenpraxis in Bewegung ist und sich zu einer Befürwortung eines präventiven Selbstverteidigungsrechts verdichten könnte. Es ist schwer, vorherzusehen, wie die Welt auf einen präventiven Militärschlag der USA reagieren würde. Eine harsche und globale Verurteilung durch die Staatengemeinschaft scheint jedoch eher unwahrscheinlich.

Schließlich besteht die Gefahr, dass ein in der Staatenpraxis positiv bewerteter unilateraler Angriff der USA auf Nordkorea zu einer Neuinterpretation des Selbstverteidigungsrechts führt. Eine solche Fortentwicklung wäre aus meiner Sicht nicht wünschenswert. Es besteht erhebliches Missbrauchs- und Destabilisierungsrisiko, wenn das Selbstverteidigungsrecht auf eine abstrakte Bedrohungslage wie den tatsächlichen oder potentiellen Besitz von Nuklearwaffen in der Hand von Schurkenstaaten erweitert wird. Die unilaterale Einschätzung einer abstrakten Bedrohungslage bleibt aufgrund ihrer Fehlbarkeit und Missbrauchsanfälligkeit stets problematisch. Vielmehr sollte hier die Kompetenz allein beim Sicherheitsrat selbst liegen (so z.B. auch ein Expertengremium des Generalsekretärs der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2004, UN Secretary-General’s High-Level Panel on Threats, Challenges and Change (Rn. 188-191)). Dieser kann in einer solchen Situation Maßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta ergreifen.

Das atomare Dilemma

Allerdings ist vorliegend sogar fraglich, ob selbst der Sicherheitsrat im Rahmen von Kap. VII der UN-Charta berechtigt wäre, eine Gewaltanwendung gegenüber Nordkorea zu autorisieren. Dies folgt aus der Gefahr, dass auch ein Militärschlag zur Vernichtung der Atom- und Raketenanlagen in Nordkorea zu einem Atomkrieg führen könnte. Nordkorea könnte dann gerade geneigt sein, vorher noch mit Atomsprengköpfen versehene Raketen nach Japan oder Südkorea zu schicken. Es stellt sich hier mit großer Schärfe die Grundfrage, ob in einer Situation, in der ein Schurkenstaat bereits über Atomwaffen verfügt, die Autorisierung militärischer Sanktionen jemals eine gem. Art. 42 UNCh erforderliche Maßnahme zur Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens darstellen kann. Denn gerade ein kollektiver Militärschlag gegen einen Staat, der völkerrechtswidrig Nuklearwaffen besitzt, kann zu dem Atomkrieg führen, den es gerade abzuwehren gilt. Letztlich führt daher alles auf eine nicht lösbare Abwägung hin: Wie kann man einen aktuell möglichen Atomkrieg gegen einen zu einem späteren Zeitpunkt potentiell weitaus umfassenderen Atomkrieg gewichten?

Diese Frage ist aus meiner Sicht nicht zu beantworten. Sie zeigt aber deutlich, dass erstens solche nukleare Bedrohungsszenarien, wie wir sie heute im Fall von Nordkorea erleben, schon sehr früh bekämpft werden müssen. Eine solche Situation darf eigentlich gar nicht erst entstehen. Zweitens zeigt sie auch, dass die heutige Nordkoreakrise nur diplomatisch gelöst werden kann. Dies scheint auch die neueste UN-Sicherheitsresolution anzuerkennen. So betont der Sicherheitsrat in seiner Resolution 2375: „its commitment to a peaceful, diplomatic, and political solution to the situation” (Rn. 29).


4 Comments

  1. Dominic Schelling Wed 13 Sep 2017 at 16:47 - Reply

    Im Jahr 2003 kurz vor dem Einmarsch der USA in den Irak, habe ich in der NZZ einen Artikel einer Völkerrechtlerin gelesen, die den angekündigten Angriffskrieg der USA als klar wiederechtlich bezeichnete. Es lag ja weder eine unmittelbare Bedrohungssituation der USA und ihrer Verbündeten vor, noch gab es eine Ermächtigung des Sicherheitsrates. Trotzdem fand der Angriffskrieg statt und es hatte für George Bush jr. keine rechtlichen Konsequenzen. Ich teile die oben gemachten Überlegungen aber die Erfahrungen von 2003 zeigen doch, solange eine Vetomacht des Sicherheitsrates einen Angriffskrieg führt, hat es de facto nie rechtliche Konsequenzen, wie auch das Beispiel Krim 2014 deutlich zeigte. Könnte man ketzerisch sagen, eigentlich existieren diese völkerrechtlichen Bestimmungen über Krieg und Frieden de facto nur, wenn sich die Vetomächte einig sind, also praktisch nie. Nur der Sicherheitsrat kann ja eine potenzielle Rechtsverletzung effektiv als solche feststellen und Massnahmen anordnen, denn keine andere Instanz wäre dazu effektiv in der Lage. Oder?

    • S. Harnisch Wed 13 Sep 2017 at 23:00 - Reply

      Die völkerrechtliche Argumentation der USA (und des Vereinigten Königreichs) zur Legitimation der Invasion im Irak beruhte auf dem Bruch der Waffenstillstandsvereinbarung von 1991 und den darin enthaltenen Abrüstungsverpflichtungen des Irak. Aus Sicht der USA konnten sie als den Bruch der Vereinbarung selbst feststellen, zumal der UN-Sicherheitsrat als Kollektiv nicht Unterzeichner des Waffenstillstandes war. Schon aus diesem Grund ist ein Vergleich zwischen der völkerrechtlichen Situation zwischen dem nordkoreanischen und Irak ein Vergleich von Äpfel und Birnen!

  2. Dominic Schelling Thu 14 Sep 2017 at 09:03 - Reply

    @ S. Harnisch: Ich halte ihre Argumentation für sehr abwegig und zwar aus folgenden Gründen: Sollte die USA einen Präventivschlag gegen Nordkorea ausführen brauchen sie eine Ermächtigung des Sicherheitsrates oder die USA oder ihre Verbündeten würden unmittelbar von Nordkorea kriegerisch bedroht werden. So habe ich die Argumentation von Fr. Polzin verstanden. Auch im Fall des Irak gab es keine Ermächtigung des Sicherheitsrates für einen Angriff und die USA war keiner kriegerischen Bedrohung durch den Irak ausgesetz. Wenn schon hätte der Sicherheitsrat die von ihnen genannten Gründen feststellen und ein kriegerisches Eingreifen anordnen müssen. So weit ging der Sicherheitsrat aber nie, was ihnen sicher bekannt ist. Auch im Fall von Nordkorea wird das nach meiner Meinung nie der Fall sein und somit würde ein Präventivschlag der USA immer in einer rechtlichen Grauzone bleiben, da auch die kriegerische Bedrohung der USA und ihrer Verbündeten immer hypothetischer Natur sein wird. Dem Regime in Nordkorea ist wohl klar, wie weit sie gehen dürfen, ohne den rechtlichen Grund für einen Angriff zu liefern. Im Fall des Irak wäre übrigens ein Bruch des Waffenstillstands kriegerische Handlungen des Irak gegenüber Kuweit gewesen und dann wären Verteidigungshandlungen der USA korrekt gewesen, da Kuweit dies sicher gewollt hätte. Es gab diese kriegerischen Handlungen, die eine Invasion gerechtfertigt hätten, aber nie.

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