23 January 2018

Regime Shopping unter dem Schutz des Europarechts: Das Polbud-Urteil des Euro­päischen Gerichts­hofs

Die Freude über das Erzberger-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) währte nicht lange. Wir erinnern uns: Der EuGH hatte der Rechtsauffassung der Europäischen Kommission, die deutsche Unternehmensmitbestimmung beschränke die Arbeitnehmerfreizügigkeit, eine klare Absage erteilt (das Erzberger-Urteil C-566/15 vom 18. Juli 2017 findet sich hier). Zudem hatte der EuGH Zweifel an der Europarechtskonformität des Territorialitätsprinzips als Anknüpfungspunkt mitgliedstaatlichen Arbeitsrechts beseitigt und sich mit dem Sinn und Zweck, dem Telos, der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschäftigt. Ihr Ziel könne nicht darin bestehen, auf eine arbeitsrechtliche Neutralität des transnationalen Arbeitsplatzwechsels hinzuwirken, oder anders formuliert: die Unterschiede zwischen den Arbeitsmarkt- und Sozialordnungen der Mitgliedstaaten in nicht-harmonisierten Bereichen auf dem Wege der so genannten negativen Integration einzuebnen.

All das gab Anlass zur Hoffnung, in mehrerlei Hinsicht. Zunächst einmal durfte gehofft werden, das Spannungsfeld zwischen der Unternehmensmitbestimmung und den europäischen Marktfreiheiten sei mit Erzberger im Wesentlichen beseitigt. Über den Gegenstand der Arbeitnehmermitbestimmung hinaus schien der EuGH zudem Signale zu senden, nunmehr auf einen Pfad der weniger extensiven Interpretation der Grundfreiheiten einzuschwenken. Wer diese Hoffnungen teilte, wird das Polbud-Urteil C-106/16 vom 25. Oktober 2017 (hier) mit großer Enttäuschung lesen. Die dort vorgenommene Auslegung der Niederlassungsfreiheit kann man nur als verstörend bezeichnen, und die potenziellen Auswirkungen auf die Arbeitnehmermitbestimmung als verheerend.

Der öffentliche Widerhall auf Polbud ist noch recht verhalten (siehe aber hier und hier), was wohl an der Sperrigkeit der im Rechtsstreit verhandelten Sachverhalte liegt. Im Kern geht es um folgendes: Schon länger hatte der EuGH die in den Artikeln 49 und 54 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) niedergelegte Niederlassungsfreiheit weit ausgelegt. Sie schützt demnach die Möglichkeit, ein in Deutschland tätiges Unternehmen mit einer ausländischen, in anderen EU-Ländern legalen Rechtsform zu gründen, etwa als britische „Limited“. Eine deutsche Kapitalgesellschaft müsste einen mitbestimmten Aufsichtsrat einsetzen, würde sie über die mitbestimmungsrelevanten Schwellen von 500 (Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat) oder 2.000 Inlandsbeschäftigten (paritätische Beteiligung) hinauswachsen. Nicht so die Limited oder eine andere ausländische und mitbestimmungsfreie Rechtsform. Die Hans-Böckler-Stiftung dokumentiert regelmäßig, wie viele Unternehmen sich der Mitbestimmung durch die Wahl ausländischer Rechtsformen entziehen (zuletzt hier).

Über diesen Status quo geht der EuGH nunmehr noch hinaus. Bei Polbud ging es nämlich um die so genannte isolierte Satzungssitzherausverlegung, oder anders ausgedrückt: um den nachträglichen, ausschließlichen Rechtsformenwechsel. Dieser unterliegt ebenfalls, so der EuGH, dem Schutz des Europarechts und darf durch nationale Regelungen nicht „weniger attraktiv“ (das ist die Definition rechtfertigungsbedürftiger Beschränkungen der europäischen Marktfreiheiten) gemacht werden. Nicht nur ist es für den Rechtsformenwechsel nicht notwendig, auch den Verwaltungssitz der Gesellschaft in das Zielland zu verlegen. Auch eine wie auch immer geartete Verlagerung der wirtschaftlichen Tätigkeit in das Zielland, oder überhaupt eine realwirtschaftliche Betätigung dort, sind – anders als die EuGH-Generalanwältin Kokott vorgeschlagen hatte (hier) – nicht notwendig. Auch wenn die Sitzverlegung keinen anderen Zweck verfolgt, als, wie der EuGH in Randnummer 40 explizit herausstellt, „in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen“ (=Regime-Shopping), fällt sie in den Schutzbereich der europäischen Niederlassungsfreiheit. Wer sich für die Verortung des Polbud-Urteils in der längeren Linie der EuGH-Urteile zur Niederlassungsfreiheit interessiert, dem empfehle ich die ausführliche Besprechung von Johannes Heuschmid, die in Ausgabe 2/2018 der Zeitschrift „Arbeit und Recht“ erscheinen wird. Darin führt der Autor vor, in welche Widersprüche sich der EuGH etwa gegenüber seiner Daily Mail-Entscheidung (Rs. 81/87 vom 27. September 1988, hier) begeben musste, um zu den Ergebnissen des Polbud-Urteils zu gelangen.

Die Gefahr für die Beteiligungsrechte der Beschäftigten ist offensichtlich: Unternehmen können sich aus mitbestimmten Rechtsformen nunmehr unter dem Schutz des Europarechts friktionsfrei „hinausverlagern“. Der Punkt ist nun nicht, dass wir erwarten sollten, dass der mitbestimmte Aufsichtsrat durch Polbud in Kürze aus der deutschen Unternehmenslandschaft verschwindet. Wie Maximilian Waclawczyk und ich hier gezeigt haben, finden sich in den Unternehmen beteiligungsfreundlichere Haltungen als in den Industrie- und Arbeitgeberverbänden. Als BDI und BDA vor 10-15 Jahren eine Kampagne zur Einschränkung der Unternehmensmitbestimmung fuhren, verweigerten die Großunternehmen ihren Verbänden glatt die Gefolgschaft.

In Sicherheit sollten wir uns gleichwohl nicht wiegen. Denn je nach Sektor und Unternehmensgrößen finden wir recht unterschiedliche Konstellationen vor. Banken und Versicherungen etwa könnten in der Tat versucht sein, sich ihrer mitbestimmten Aufsichtsräte unter Berufung auf Polbud zu entledigen. Und allgemein sind gezielte „Hinausverlagerungen“ nunmehr vermehrt dort zu befürchten, wo Unternehmen die Überschreitung der mitbestimmungsrelevanten Schwellen erstmals bevorsteht (ein schon bei anderen Umgehungsmöglichkeiten häufig beobachtetes Phänomen).

Das Hauptproblem besteht aber in dem unverantwortlichen Eingriff in das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, den der EuGH hier vorgenommen hat. Man versetze sich in die Lage der Arbeitnehmerbank eines Aufsichtsrats, in dem gerade eine für die Beschäftigten wichtige Entscheidung ansteht, eine Verschärfung des unternehmensinternen Standortwettbewerbs etwa oder die Bestellung eines umstrittenen Personalvorstands. Dank des EuGH haben sich die Machtressourcen, die sich nunmehr gegen die Arbeitnehmerbank einsetzen lassen, vergrößert. Polbud bedeutet nichts anderes, als dass die Kapitalvertreter im Aufsichtsrat jederzeit mit dem Rechtsformenwechsel drohen können, um die Arbeitnehmervertreter gefügig zu machen. Hätte sich der EuGH ein paar Monate nach Erzberger nicht die Frage stellen müssen, ob ein solcher Eingriff Sinn und Zweck einer europäischen Marktfreiheit sein kann?

Kritische Juristinnen und Juristen mischen sich regelmäßig in den rechtswissenschaftlichen Diskurs ein, um aufzuzeigen, dass EuGH-Entscheidungen wie Polbud nicht tragbar sind und der Korrektur durch nachfolgende Rechtsprechung bedürfen. Das ist gut, genügt aber nicht. Die Auswüchse des europäischen Richterrechts werden sich im Modus der kollegialen Überredung nicht mehr beseitigen lassen, sondern nur noch im Modus der politischen Auseinandersetzung.

Grundlegend ist in diesem Zusammenhang die Einsicht, dass der normative Gehalt und der Anwendungsbereich der europäischen Marktfreiheiten der politischen Steuerung zugänglich sind. Die derzeitige EU-Reformdebatte muss sich daher dringend von ihrer Fixierung auf die Aufteilung der politischen Kompetenzen zwischen der EU und ihren Mitgliedern lösen und sich der Frage zuwenden, wie die europäischen Marktfreiheiten eigentlich einmal gemeint waren und was sie in Zukunft sein sollen. Hieraus können dann Reformstrategien hervorgehen. Am überzeugendsten scheint mir derzeit die von Jürgen Bast, Florian Rödl und Jörg Philipp Terhechte (hier) sowie von Johannes Heuschmid (in diesem Band, dort §11, Rn. 110f.) aufgezeigte Möglichkeit, ausgewählte Bereiche wie das kollektive Arbeitsrecht zwar weiterhin einem Diskriminierungsverbot zu unterwerfen, sie aber vom Beschränkungsverbot auszunehmen. Diese Vorschläge sind Posten eines größeren Optionsraums (siehe den Überblick hier). Wie auch immer: Notwendig wäre in einem ersten Schritt, die Politik zu der Einsicht zu ermuntern, dass Entscheidungen über den Gehalt und die Reichweite der europäischen Marktfreiheiten fundamentale Entscheidungen über die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt sind, die in die politische Sphäre statt in die Diskretion der EuGH-Richter gehören.

Darüber hinaus bestehen Handlungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene. Eine von ihnen sei hervorgehoben. Längst überfällig ist nämlich ein Mitbestimmungserstreckungsgesetz, das in Deutschland tätige ausländische Rechtsformen der Pflicht unterwirft, entweder einen mitbestimmten Aufsichtsrat einzusetzen, oder aber Vertreter der Beschäftigten an den anders gearteten Leitungsorganen zu beteiligen. So ein Erstreckungsgesetz wäre so auszugestalten, dass es sowohl nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaften umfasst, die ihren Verwaltungssitz nach Deutschland verlegen, als auch nach inländischem Recht gegründete Gesellschaften, die – das ist die Polbud-Konstellation – ihren Satzungssitz unter Umwandlung in die dortige Rechtsform ins Ausland verlagern.

Ein solches Gesetz fordern die Gewerkschaften schon lange, und hier und da gab es positive Signale aus der Sozialdemokratie. Nicht auszuschließen ist, dass die Kommission die Europarechtskonformität eines solchen Gesetzes erst einmal bestreiten und Deutschland vor dem EuGH verklagen würde – aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Gerade angesichts der positiven Aussagen zur Territorialität des Arbeitsrechts im Erzberger-Urteil dürfte sich die Kommission ausrechnen können, dass sie sich mit einem Kampf gegen ein Erstreckungsgesetz ebenso blamieren würde wie schon mit ihren fragwürdigen Eingaben zu Erzberger.

Allerdings tickt die Uhr. Was es nicht in den nächsten, ab sofort in Verhandlung begriffenen Koalitionsvertrag schafft, werden die Gewerkschaften auch nicht kriegen. In Richtung vor allem der in Mitbestimmungsfragen responsiven SPD, aber auch der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker aus CDU und CSU wird daher nun maximale Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit notwendig sein. Denn leider geben die Ergebnisse der zurückliegenden Sondierungen wenig Anlass zum Optimismus. Dort findet sich kein Bekenntnis zu einem Mitbestimmungserstreckungsgesetz, sehr wohl aber ein Bekenntnis zu der bisher von Deutschland wegen der Möglichkeiten zur Mitbestimmungsvermeidung blockierten Europäischen Privatgesellschaft („Europa GmbH“), und zwar gut versteckt auf Seite 18 im Kapitel zur Innenpolitik, dort im Unterpunkt „Recht“, und hier in einem eigentlich von der Digitalisierung handelnden Spiegelstrich (sehen Sie selbst). Würden also die derzeit vorliegenden Sondierungsergebnisse 1:1 in einen Koalitionsvertrag überführt, würden die Möglichkeiten zur Mitbestimmungsvermeidung nicht beseitigt, sondern sogar zusätzlich maximiert.

Bei diesem Text handelt es sich um die ergänzte und aktualisierte Fassung eines Kommentars, der zuerst auf dem heterodoxen Wirtschaftsportal Makroskop erschien. Ich danke Johannes Heuschmid, Norbert Kluge und Florian Rödl für wertvolle Hinweise.


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