21 February 2018

„Wie in einem finsteren Film über den Kalten Krieg“ – Der völkerrechtliche Hintergrund der Eiszeit zwischen Vietnam und Deutschland

Wenn in der internationalen Politik „alle Optionen auf dem Tisch liegen“, ist das meistens ein sicheres Zeichen dafür, dass viel auf dem Spiel steht. Noch frisch ist die Erinnerung an Donald Trump, der im letzten August „alle Optionen auf den Tisch“ legte und so auf nordkoreanische Raketentests reagierte. Etwas abseits des internationalen Rampenlichts hatte Deutschland – das eher weniger für Trump’sche Rhetorik bekannt ist – einige Tage zuvor ebenfalls „alle Optionen auf den Tisch“ gelegt. Deutschland war allerdings nicht um eine mögliche nukleare Eskalation besorgt. Es reagierte auf die Entführung eines vietnamesischen Asylsuchenden, die Außenminister Sigmar Gabriel treffend als Methode bezeichnete, die man „ansonsten in finsteren Filmen über den Kalten Krieg sehen [kann].“

In diesem surreal anmutenden Fall geht es um Trinh Xuan Thanh, einen ehemaligen vietnamesischen Topmanager, der von Vietnam wegen Korruption mit internationalem Haftbefehl gesucht wurde und in Deutschland Asyl beantragt hatte. Zu seinem bereits anberaumten Anhörungstermin sollte Thanh jedoch nie auftauchen. Stattdessen war er einige Tage darauf deutlich mitgenommen im staatlichen vietnamesischen Fernsehen zu sehen. Vietnam ließ verlautbaren, Thanh habe sich freiwillig den Behörden gestellt. Deutschland dagegen präsentiert eine andere Version der Geschichte: Vietnam habe Thanh entführt. Zeugen zufolge soll Thanh in der Nähe des Berliner Tiergartens von bewaffneten Männern in einen Mietwagen gezerrt worden sein. Ermittlungen der deutschen Behörden zufolge, sei Thanh nach einem kurzen Zwischenstopp an der vietnamesischen Botschaft in einem Krankenwagen nach Osteuropa transportiert und von dort nach Vietnam geflogen worden. Laut dem Auswärtigen Amt bestünden keine „vernünftigen Zweifel“, dass vietnamesische Staatsbedienstete hinter dieser Entführung  steckten. Am fünften Februar 2018 endete in Vietnam das zweite Verfahren gegen Thanh. Auch wenn Thanh der drohenden Todesstrafe entkam, wurde er zweimal wegen Untreue zu lebenslanger Haft verurteilt.

Dies sind nur die zentralen Fakten dieser an weiteren thriller-artigen Facetten reichen Geschichte, die Deutschland dazu brachte, alle Optionen auf den Tisch zu legen. Deutschland hat unmittelbar nach der Entführung strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen, die bereits zu einer ersten Verhaftung geführt haben. Ein Mitarbeiter des BaMF wurde suspendiert, während seine mögliche Verwicklung in den Fall untersucht wird. Zwar erhärtete sich dieser Verdacht nicht. Wegen abfälliger Äußerungen zu dem Fall und anderen Vergehen wurde der Mitarbeiter allerdings trotzdem entlassen. Deutschland ließ keine Gelegenheit aus, die Entführung als „präzedenzlose(n) und eklatante(n) Verstoß gegen deutsches Recht und das Völkerrecht“ zu geißeln (siehe außerdem hier und hier). Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erklärte, es sei „schlicht inakzeptabel, dass ausländische Staaten auf deutschem Hoheitsgebiet unter deutscher Souveränität auf diese Art und Weise das deutsche Recht mit Füßen treten.“ Als Konsequenz verlangte Deutschland zunächst Thanhs Rückkehr, um die weitere Bearbeitung seines Asylgesuchs und des Auslieferungsgesuchs zu ermöglichen. Als sich abzeichnete, dass Vietnam dieser Aufforderung nicht Folge leisten würde, forderte die Bundesregierung eine Entschuldigung und eine Garantie der Nicht-Wiederholung. Zusätzlich wurden zwei Mitarbeiter der vietnamesischen Botschaft zur persona non grata erklärt. Zuletzt setzte Deutschland als Reaktion auf Vietnams Untätigkeit hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche die strategische Partnerschaft der beiden Länder aus.

Völkerrechtsverletzungen durch Vietnam

Unterstellt, Deutschlands Version entspreche der Wahrheit, lässt sich kaum bezweifeln, dass Deutschlands Empörung aus rechtlicher Sicht begründet ist.  Die Entführung durch vietnamesische Agenten auf deutschem Hoheitsgebiet verletzt Deutschlands Souveränität und territoriale Integrität, wie sie jedem Staat in Artikel 2(1) Charter der Vereinten Nationen zugesichert ist. Die Beteiligung der vietnamesischen Botschaft an der Entführung steht im klaren Widerspruch zu den Pflichten des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD). Nach Artikel 41 WÜD haben alle Personen, die Vorrechte und Immunitäten genießen, die Pflicht alle Gesetze und Rechtsvorschriften des Empfangsstaats zu beachten. Ferner sind sie verpflichtet, sich nicht in dessen inneren Angelegenheiten einzumischen. Und nicht zuletzt ist es ständige internationale Rechtsprechung, dass staatlich organisierte Entführungen das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit des Entführten nach Artikel 9(1) IPBürg verletzten – auch dann, wenn sie extraterritorial vonstatten gehen.

Und doch lässt sich die Frage nach einer Rechtfertigung Vietnams stellen. Zwei zugegebenermaßen kreative Überlegungen ließen sich hierfür anbringen: Zum einen ist Deutschland Vietnams Auslieferungsgesuchen nicht nachgekommen. Zum anderen ist zuzugestehen, dass Vietnam ein durchaus legitimes Strafverfolgungsinteresse wegen Korruption verfolgt, das auch Deutschland zu keinem Zeitpunkt bestritten hat. Doch keine dieser Erwägungen vermag Vietnam überzeugend zu rechtfertigen. Es lässt sich schon keine Verpflichtung für Deutschland herleiten, Thanh an Vietnam auszuliefern – zwischen Deutschland und Vietnam besteht kein Auslieferungsübereinkommen. Selbst wenn eine solche Pflicht bestünde, konnte Deutschland dieser nicht nachkommen, ohne gegen seine non-refoulement-Verpflichtung zu verstoßen – Thanh drohte bis zuletzt die Todesstrafe in Vietnam. Deutschland lehnte eine Auslieferung Thanhs auch nicht grundsätzlich ab. Vielmehr wurden Gespräche auf hochrangiger Ebene über die Möglichkeit einer Auslieferung im Einklang mit menschenrechtlichen Verpflichtungen geführt. (Dies erklärt möglicherweise auch, warum Deutschland von einem „extremen Vertrauensbruch“ spricht und bereit ist, so weitgehende Schritte zu veranlassen.) Und nicht zuletzt, selbst wenn Deutschland die Auslieferung rechtswidrig versagte und so Vietnams berechtige Strafverfolgung erschwerte, kann kein im modernen Völkerrecht anerkannter Rechtfertigungsgrund die archaische Selbsthilfe legitimieren, zu der Vietnam sich entschieden hat. Strafverfolgung muss nach geltendem Völkerrecht kooperieren oder abwarten. Rufe nach einer Durchbrechung des staatlichen Souveränitätspanzers, um Straflosigkeit zu bekämpfen, haben Staatsgrenzen bislang noch nicht, und richtigerweise nicht, überwunden (siehe zur Debatte zur Aufhebung von Staatenimmunität hier). Selbst Israels Entführung von Adolf Eichmann, einem der Hauptverantwortlichen des Holocausts, ließ Argentinien nachdrücklich gegen die Verletzung seiner Souveränität protestieren und den Sicherheitsrat anrufen. Der Sicherheitsrat stimmte mit Argentiniens Protest überein, stellte fest, solche die Souveränität beeinträchtigende Entführungen könnten, sollten sie zur gängigen Praxis werden, den internationalen Frieden und die Sicherheit gefährden, und forderte Israel auf, „angemessene Entschädigung“ zu leisten. Und auch Israel erkannte schließlich an, dass der Vorfall „fundamentale Rechte Argentiniens“ verletzt habe. An dieser Position des Völkerrechts hat auch die im Lichte des Kampfs gegen Terror entstandene Praxis der „extraordinary rendition“ nichts geändert, sodass Deutschland allen (rechtlichen) Grund hatte „alle Optionen“ auf den Tisch zu legen.

Deutschlands Reaktion

Zweifellos sind Deutschlands „Optionen auf dem Tisch“, aber durch das Völkerrecht begrenzt. Der Fall zeigt dabei auch, wie schwierig es ist, diese Grenzen klar zu ziehen. Bemerkenswert ist zunächst, dass Deutschland den vietnamesischen Prozess gegen Thanh akzeptiert. Es beschränkt sich darauf, den Prozess zu beobachten und ein rechtsstaatliches Verfahren zu fordern. Dadurch scheint Deutschland implizit die zwar stark kritisierte, aber wohl geltende Völkerrechtsdoktrin male captus bene detentus zu akzeptieren, nach der eine Entführung des Verdächtigen aus dem Ausland kein Verfahrenshindernis im Strafprozess darstellt. Vietnam das Recht abzusprechen, einen Prozess gegen Thanh zu führen, gehört damit scheinbar nicht zu Deutschlands „Optionen“. Des Weiteren bietet der Fall Anlass darüber nachzudenken, welchen völkerrechtlichen Schranken ein Staat bei der Wahl geeigneter Entschädigungsformen und bei seinen Reaktionen auf Völkerrechtsverletzungen unterliegt.

Wahl der Entschädigungsform

Seit der berühmten Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Chorzow-Factory-Fall steht fest, dass jede Völkerrechtsverletzung automatisch zur Verpflichtung führt, den Schaden, der durch diese Verletzung entstanden ist, zu ersetzen. Die Artikel zur Staatenverantwortlichkeit der UN-Völkerrechtskommission (Articles on the Responsibility of States, ARS) begründen dabei eine Hierarchie der Entschädigungsformen: Naturalrestitution (restitution) ist vorrangig gegenüber Entschädigung in Geld (compensation) und Genugtuung (satisfaction). Grundsätzlich kann der verletzte Staat diese Hierarchie durchbrechen, wenn er eine bestimmte, von ihm bevorzugte Entschädigungsform wählt. Dieses Wahlrecht gilt jedoch nur „in den meisten Fällen“. Und später, tief versteckt im ARS-Kommentar (Artikel 34 Rn. 4, Artikel 43 Rn. 6) führt die Völkerrechtskommission dazu aus: „Es gibt Fälle, in denen ein Staat nicht eine Geldzahlung einstecken und sich von einem ungelösten Problem abwenden darf, zum Beispiel wenn es um das Leben oder die Freiheit einer Person geht (…).“ (Ãœbersetzung der Autoren)

Deutschland hat – so scheint es – seine ursprüngliche Forderung nach Thanhs Rückkehr (Naturalrestitution) aufgegeben und beschränkt sich nun darauf, eine Entschuldigung und eine Garantie der Nicht-Wiederholung zu verlangen. „Geld eingesteckt“ hat Deutschland damit zwar nicht. Aber es fordert Genugtuung statt Naturalrestitution und wendete sich damit von Thanh ab, dem zu der Zeit, als Deutschland seinen Positionswechsel vollzog, noch die Todesstrafe drohte. Wie lässt sich dies mit dem Kommentar der Völkerrechtskommission vereinbaren?

Klar ist, dass Deutschland nicht völkerrechtlich verpflichtet ist, Thanhs Freilassung als Naturalrestitution zu fordern. Der verletzte Staat hat ein Recht auf Entschädigung, aber keine Pflicht, diese auch zu verlangen. Auch ist Deutschland nicht gegenüber Thanh verpflichtet, sich für seine Freiheit einzusetzen. Deutschland hat keine extraterritorialen Menschenrechtsverpflichtungen ihm gegenüber. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es positive Schutzpflichten gegenüber Thanh verletzt hat und auch seiner prozeduralen Verpflichtung, Menschenrechtsverletzungen auf deutschem Territorium zu untersuchen, ist Deutschland sogleich nachgekommen. Sonstige Verpflichtungen gegenüber Dritten sind nicht zu erkennen.

Trotzdem kann Deutschland, folgt man der Völkerrechtskommission, nicht frei entscheiden, welche Entschädigungsform es bevorzugt. Der Grund ist nachvollziehbar: Wählt ein Staat eine andere Form der Entschädigung als die Naturalrestitution in Fällen, die das Leben oder die Freiheit einer Person betreffen, verschlechtert das die Rechtsposition dieser Person. Dies wird am konkreten Fall deutlich: Indem Deutschland auf Naturalrestitution verzichtet, befreit es Vietnam von der Verpflichtung, Thanh freizulassen. Thanh blieb damit nur die Todesstrafe oder lebenslange Haft.

Der Gedanke der Völkerrechtskommission lässt sich am besten mit der Figur des Rechtsmissbrauch erklären: Auch wenn ein Staat kein bestimmtes Verhalten schuldet, darf er seine Rechte nicht so ausüben, dass die rechtmäßigen Interessen Dritter grundlos beeinträchtigt werden. Dies führt dazu, dass das Recht, zwischen verschiedenen Entschädigungsformen zu wählen, einer Interessenabwägung unterliegt. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes deutete darauf hin, dass es Deutschland für zu schwierig befindet, Thanhs Freilassung zu erreichen: Man müsse den Fakten ins Auge sehen, es laufe jetzt ein Verfahren. Sollte dies der einzige Grund für Deutschlands Wahl der Genugtuung statt Naturalrestitution sein, hielte dies einer Interessenabwägung wohl nicht stand. Immerhin war bzw. ist die Freiheit und das Leben einer Person in Gefahr.

Zusammenfassend stellt sich die Situation damit folgendermaßen dar: Es ist Deutschlands souveräne Entscheidung, ob es überhaupt Entschädigung von Vietnam fordert. Genauso ist es Deutschlands souveräne Entscheidung, mit welchen Mitteln und Anstrengungen es versucht, diese Entschädigungsforderung durchzusetzen. Deutschland kann sein Recht auf Entschädigung aber nicht dergestalt durchsetzen, dass es sich selber – wenn auch nur immateriell – bereichert und dadurch rechtmäßige Interessen Dritter grundlos beeinträchtigt. Deswegen braucht Deutschland – auch wenn es versucht, die Konsequenzen für Thanh zu „mildern“ und ihm ein rechtstaatliches Verfahren ohne Todesstrafe zu sichern – in unserem Fall einen guten Grund, um von der Forderung auf Naturalrestitution abzurücken, sich mit Genugtuung zufrieden zu geben, und Thanh seinem Schicksal zu überlassen.

Unter dem Mantel des Agentenkrimis befindet sich also ein Thema, das in der Völkerrechtswissenschaft bisher stiefmütterlich behandelt wurde. Eine systematische und gründliche Analyse der Staatenpraxis steht noch aus, und auch dieser Beitrag kann und soll nicht mehr als erste Anregungen bieten. Doch soll noch einmal der Bogen zum Eichmann-Fall geschlagen werden: Bemerkenswerterweise verlangte auch Argentinien nicht Eichmanns Rückkehr. Angesichts der zentralen Stellung des Individuums im Völkerrecht und der Fortentwicklung der Menschenrechte erscheint es aber zumindest nicht fernliegend, dass ein ähnlicher high-profile Fall heute wohl anders gehandhabt werden würde. Beispielsweise verlangte Libyen in einem neueren Fall die Rücküberführung von Abu Anas al-Liby, der von den USA im Rahmen des Kriegs gegen den Terror auf libyschem Staatsgebiet entführt wurde.

Die Aussetzung der Strategischen Partnerschaft  – Was wird durchgesetzt?

Nicht zuletzt legte Deutschland die 2011 mit der Erklärung von Hanoi feierlich verkündete strategische Partnerschaft mit Vietnam auf Eis. Mit Blick auf konkrete daraus folgende Maßnahmen gibt es leider nur spärlich verlässliche Informationen.  Wurde lediglich die Hanoi-Erklärung ausgesetzt, besteht guter Grund zur Annahme dass es sich bei der Aussetzung nur um einen zwar unfreundlichen, aber nicht völkerrechtswidrigen Akt der Retorsion handelt. In der Hanoi-Erklärung wird lediglich der Wille zur Vertiefung der deutsch-vietnamesischen Freundschaft und Kooperation betont – harte, rechtlich bindende Verpflichtungen lassen sich aber wohl nicht entnehmen. Die Aussetzung ist somit nicht mehr als ein deutliches, politisches Ausrufezeichen, aber keine Gegenmaßnahme.

Und doch lässt sich hier die Frage stellen, welche der von Vietnam verletzten Pflichten Deutschland durchsetzen möchte. Man kann wohl davon ausgehen, dass Deutschland in erster Linie das Sekundärrechtsverhältnis (also die oben diskutierte geforderte Entschädigung) durchsetzen möchte, das durch Vietnams Verletzung der Pflicht, Deutschlands Souveränität zu wahren, begründet wurde. Ohne jeden Zweifel schuldet Vietnam diese Verpflichtung Deutschland individuell. Deutschland ist im Einklang mit Artikel 42 ARS mithin berechtigt, die Verantwortlichkeit Vietnams diesbezüglich geltend zu machen. Dabei könnte Deutschland – wenn gewünscht – ohne weiteres auch klassische Gegenmaßnahmen ergreifen. Das Gleiche gilt mit Blick auf Vietnams Verletzungen des Diplomatenrechts. Auch diese Verpflichtungen werden u.a. Deutschland individuell  geschuldet. Dem steht auch nicht die besondere Natur des Diplomatenrechts als sogenanntes „self-contained regime“ entgegen. Das in sich abgeschlossene  Rechtsregime des Diplomatenrechts schließt nur eine Reaktion auf Rechtsbrüche gegen Diplomaten oder Missionen selbst aus (mit Ausnahme der in dem WÜD vorgesehenen Maßnahmen, wie zB die Erklärung einer persona non grata – die Deutschland ebenfalls ergriffen hat). Durchsetzungsmaßnahmen, sei es Retorsion oder gar Gegenmaßnahmen, wegen Verstößen gegen das WÜD  sind dagegen weiterhin zulässig.

Zuletzt ließe sich Deutschlands Reaktion aber auch als Versuch lesen, Vietnams Einhaltung von Thanhs Menschenrechten, insbesondere des während der Gefangenschaft fortdauernd verletzte Artikels 9(1) IPBürg, zu forcieren. Deutschland würde damit die Menschenrechte eines vietnamesischen Staatsbürgers gegen seinen Heimatstaat durchsetzen – eine Situation, die neben der Frage, ob Deutschland dies wirklich anstrebt, kontroverse völkerrechtliche Fragen zu Deutschlands Berechtigung und zu den dann zulässigen Maßnahmen aufwirft. Während man sich mit der Aussage, Deutschland sei nach Artikel 48(1) ARS berechtigt Vietnams völkerrechtliche Verantwortlichkeit hier geltend zu machen, wohl noch auf sicherem Terrain befindet, betritt man bei der Frage nach den dann zulässigen Maßnahmen außerhalb der nach Artikel 48(2) ARS zulässigen Forderungen äußerst unsicheres Gelände: Die umstrittene Frage der Zulässigkeit von Gegenmaßnahmen bei erga-omnes-Verletzungen wurde von der UN-Völkerrechtskommission bewusst und explizit offen gelassen (siehe Artikel 54 ARS). Und auch Deutschland lässt diese Frage hier unbeantwortet. Indem Deutschland nur politische Maßnahmen ergreift und das Ziel der Durchsetzungsmaßnahmen vage und unbestimmt belässt, tritt Deutschland (wahrscheinlich unbeabsichtigt, aber doch elegant) nicht durch die Tür, die es geöffnet hat, als es „alle Optionen“ auf den Tisch gelegt hat. Und doch zeigt der Fall, wie eng die Durchsetzung von staatlicher Souveränität und internationalen Menschenrechten verknüpft sein, und wie schnell ein primär souveränitätsorientiertes Denken auch internationalen Menschenrechten zu Geltung verhelfen kann.

Fazit

Diese surreal anmutende Geschichte, die einem düsteren Krimi zur Zeit des kalten Krieges entsprungen scheint, ist ein weiteres Beispiel für das komplexe und vielschichtige Zusammenspiel von staatlicher Souveränität und internationalen Menschenrechten. Gleichzeitig verdeutlicht es einmal mehr die Notwendigkeit, Rechtsfolgen von grenzüberschreitenden Entführungen auszuleuchten. Während es über jeden Zweifel erhaben scheint, dass solche Entführungen, gleich welchen Motivs, eine so eindeutige wie schwere Verletzung staatlicher Souveränität darstellen, ringt die internationale Gemeinschaft noch immer mit der Frage, wie darauf angemessen zu reagieren ist. In dieser Hinsicht scheint sich seit dem Eichmann-Fall nicht viel verändert zu haben: damals stellte der Sicherheitsrat eine Völkerrechtsverletzung fest. Er vermied jedoch – abgesehen von der Forderung angemessener Entschädigungen – eine konkrete Festlegung mit Blick auf die Frage der Rechtsfolgen – eine Frage, die noch immer unbeantwortet ist.

Der Beitrag ist zunächst auf englischer Sprache auf EJIL: Talk! erschienen.

 


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