09 March 2018

Who Watches the Watchmen? Die Kandidatenkür zum österreichischen Verfassungsgerichtshof

Die Bestellung neuer Verfassungsrichter_innen sorgt derzeit in Österreich für Diskussion. Neben der Ernennung des früheren Justizministers Wolfgang Brandstetter, der in manch künftigem Gesetzesprüfungsverfahren befangen sein könnte, betrifft sie vor allem Andreas Hauer, Wunschkandidat der FPÖ. Hauer ist Universitätsprofessor für Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre in Linz. Gleichzeitig ist er Mitglied des „Corps Alemannia Wien zu Linz“, einer schlagenden Studentenverbindung. Mit seiner Ernennung zum Verfassungsrichter erweitert sich der seit der Nationalratswahl 2017 ohnehin steigende Einflussbereich von schlagenden Verbindungen nun auch auf die Höchstgerichte. Die Debatte über das Bestellungsverfahren und die „Eignung“ von Verfassungsrichter_innen erhält vor diesem Hintergrund ihre aktuelle Brisanz, ihre historischen Wurzeln lassen sich bis zur Republiksgründung rückverfolgen.

Unbedachte Unvereinbarkeit

1920 wurde durch das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) begründet. Im Gegensatz zur Vorgängerinstitution, dem monarchischen Reichsgericht, erhielt der VfGH auch die Kompetenz zur generellen Normprüfung, z.B. kann er Gesetze wegen Verfassungswidrigkeit aufheben. Bereits bei der Redaktion der österreichischen Verfassung war das Bestellungsverfahren von VfGH-Richtern Gegenstand längerer Diskussion.((Heller, Der Verfassungsgerichtshof. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart (2010) 167-168, 177.)) Das B-VG normierte 1920 schließlich ein Ernennungsrecht der Legislative, nämlich von Nationalrat und Bundesrat zu gleichen Teilen; eine juristische Qualifikation war für die Tätigkeit als Höchstrichter nicht notwendig. Bestimmungen ((Durch die Verfassungsnovelle 1925 (BGBl. 1925/268) auch im B‑VG normiert.)), welche die Unvereinbarkeit des Richteramts mit Spitzenpositionen in der Exekutive und Legislative regelten, gab es zwar, sie galten aber nur für zwei Drittel der VfGH-Richter. Die Unvereinbarkeitsbestimmungen ließen also zum Teil eine Überschneidung von legislativen und höchstgerichtlichen Tätigkeiten zu. Diese Regelung sowie das Bestellungsverfahren an sich drückten die starke Stellung des Parlaments im Verfassungssystem der jungen Republik aus.

Bis 1930 waren unter den 29 ernannten Richtern (damals ausschließlich Männer) sechs Nationalratsabgeordnete und zwei Bundesratsmitglieder sowie zwei ehemalige Bundeskanzler.((Neschwara, Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld von Regierung und Parlament, ZRG GA 130/2013, 435‑453 (441, 450).)) Die offensichtlich parteipolitischen Bestellungen gerieten zunehmend in Kritik, der Ruf nach „Entpolitisierung der öffentlichen Gerichtsbarkeit“ wurde laut.((Heller, Der Verfassungsgerichtshof 200.)) Mit der B-VG Novelle 1929 wurden die Unvereinbarkeitsbestimmungen verschärft, eine juristische Ausbildung und Berufserfahrung für das Richteramt notwendig. Eine Funktion in legislativen Organen oder in Bundes- bzw. Landesregierung sowie in politischen Parteien war mit dem Amt eines Verfassungsrichters nicht mehr vereinbar. Diese Bestimmungen gelten bis heute (Art. 147 B‑VG).

Umpolitisierung statt Entpolitisierung

Als autoritative Reaktion auf die angespannte innenpolitische Lage((Vgl. dazu Lehner, Geschichte des österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht (2007) 304-307.)) beendete die B-VG Novelle 1929 die maßgebende Stellung des Parlaments, auch was die Zusammensetzung des VfGH betraf. Die Ernennung lag nunmehr in der Hand des Bundespräsidenten. National- und Bundesrat konnten nur noch die Hälfte der Mitglieder und Ersatzmitglieder vorschlagen, das Vorschlagsrecht für die restlichen Richter erhielt die Bundesregierung.

Die „Entpolitisierung“ war zugleich der Deckmantel für einen personellen Umbau des VfGH zugunsten der bürgerlich-konservativen Regierung: Es wurde ein Ausscheiden aller – eigentlich auf Lebenszeit ernannten – Verfassungsrichter mit 15. Februar 1930 vorgesehen. Nach Neubesetzung des VfGH wies der Gerichtshof eine deutliche Mehrheit von konservativen und bürgerlichen Richtern auf, der Einfluss der Sozialdemokratie schwand.((Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter. Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse, in Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen, Staatsrechtslehrer und Rechtsphilosoph (2005) 353-384 (377-378).)) Aus der geforderten Entpolitisierung wurde in Wahrheit eine Umpolitisierung.((Merkl, Der „entpolitisierte“ Verfassungsgerichtshof, Der österreichische Volkswirt 23/1930, 510.))

Vom Gleichheitssatz zum autoritären Staat

Mit der Umbesetzung änderten sich auch einige Judikaturlinien des VfGH. Die sogenannten „Dispensehen“, mit denen das konfessionelle Eheschließungsrecht des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für Katholik_innen bei erneuter Eheschließung umgangen werden konnte, wurden nun definitiv als ungültig angesehen.((Bis 1930 hatte der VfGH zum Missfallen der regierenden Christlich-Sozialen die zivilgerichtlich festgestellte Ungültigkeit der Dispens und damit der erneuten Eheschließung in der Regel mit dem Verweis auf einen Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Verwaltung kassiert; vgl. Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter 379, 383.)) In der Angelegenheit der Gleispach’schen Studentenordnung entfernte sich der VfGH implizit von seinem früheren Verständnis von Gleichheit. Den Inhalt dieser eindeutig antisemitischen Verordnung der Universität Wien zugunsten der „Deutschen Studentenschaft“ sah er – entgegen früherer Erkenntnisse zu religiösen oder ethnischen Minderheitenrechten – im Einklang mit dem Gleichheitssatz (Art. 7 B-VG).((Die Gleispach’sche Studentenordnung hob er wegen fehlender gesetzlicher Grundlage trotzdem auf, vgl. Wiederin, Jüdische Bevölkerung und verfassungsrechtliche Lage 1918 bis 1938, in Enderle-Burcel/Reiter‑Zatloukal (Hrsg.), Antisemitismus in Österreich 1933–1938 (erscheint 2018) 65-75 (72-73).))

Die innenpolitischen Umwälzungen 1933 brachten den VfGH noch einmal ins Zentrum des politischen Geschehens. Im März wurde durch die Bundesregierung unter Kanzler Dollfuß die Zusammenkunft des Parlaments verhindert. Die Regierung zog die Gesetzgebungskompetenz an sich und erließ nun eigenmächtig auf Basis des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917((Vgl. § 7 Abs. 2 Verfassungsübergangsgesetz 1920 BGBl. 1920/2.)) Rechtsakte, die das ursprüngliche Notverordnungsrecht offensichtlich überstiegen.((Lehner, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 320.)) Um deren Aufhebung durch den VfGH zuvorzukommen, legte die Regierung den Gerichtshof mit einer Notverordnung und unter Mithilfe einiger regierungsnaher Verfassungsrichter lahm: Nachdem ihnen im folgenden (autoritären) Staat Posten zugesichert worden waren, traten sie zurück und machten den VfGH damit handlungsunfähig.((Heller, Der Verfassungsgerichtshof 260-263.))

Die gegenwärtige Debatte: Grundrechte im Fokus

Im Jahr 1945 wurde der VfGH auf Basis des novellierten B-VG von 1929 wiedererrichtet, der politische Einfluss beim Bestellungsverfahren blieb damit bestehen und wurde 1994 insofern verschärft, als nun der Bundespräsident bei der Ernennung nicht mehr aus Dreiervorschlägen((Der Nationalrat sowie der Bundesrat schlugen dem Bundespräsidenten für jede zu besetzende Richter_innenstelle jeweils drei Kandidat_innen vor.)) von Nationalrat und Bundesrat auswählen kann, sondern je Stelle nur ein_e Kandidat_in vorgeschlagen wird. Die aktuelle Neubesetzung des VfGH wird gerade deshalb kritisiert, weil bereits vor dem Kandidat_innen-Hearing im Parlament klar war, wen die Regierungsparteien nominieren würden. Zweifel an der Eignung für das Amt wurden, wie erwähnt, vor allem betreffend Andreas Hauer laut.((Vgl. Klenk, Andreas Hauer darf nicht Verfassungsrichter werden, Falter 9/18, 7.)) Dabei geht es – anders als manche meinen – nicht darum, dass Hauer Rechtsansichten vertritt, über die sich streiten lässt, sondern es geht um Grundsätzliches.

Hauer hat zwar Werke publiziert, die als qualitätsvoll gelten.((Vgl. die im Ergebnis positive Besprechung von Hauers Habilitationsschrift „Ruhe, Ordnung, Sicherheit?“ aus dem Jahr 2000 von Theuer in juridikum, 2/2002, 24.)) Jedoch gibt es von ihm auch andere juristische Texte, die – gelinde gesagt – irritierend sind.((Vgl. zum Folgenden Hauer, Die Liste der Delikte der Demonstranten – und die Konsequenzen, 28.1.2014 sowie Hauer, Sicherheitsverwaltung und EMRK, in Vogl/Wenda (Hrsg.), Grundrechte – Rechtsschutz – Datenschutz. 8. Rechtsschutztag des BM.I am 5. November 2010 (2012) 67-82.)) Sprachwahl („Terror der Straße“, „Hass-Versammlungen“) und polemische Behauptungen ohne empirischen Beleg („der EGMR […] als mitverantwortlich für die multikriminelle Gesellschaft“)((Hauer in Vogl/Wenda 73. Ebenfalls ohne Beleg heißt es z.B. auch, strafgerichtliche Sanktionen würden „für nicht unerhebliche Bevölkerungskreise nur noch geringen Abschreckungscharakter haben“ (74).)) deuten auf Tieferliegendes. Hauer stellt nämlich die liberale Grundrechtskonzeption auf den Kopf. Mithilfe des grundrechtlichen Schutzpflichtenkonzepts redet er letztlich einem autoritären (Polizei-)Staat das Wort. Argumentativ bewerkstelligt er dies vor allem, indem er die Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Nebensächlichkeit verkommen lässt.((Bei der Forderung, stärker gegen Demonstrationsteilnehmer_innen durchzugreifen, wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kein einziges Mal erwähnt. In Zusammenhang mit dem Gesetzesvorbehalt in Art. 8 EMRK („in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“) wird die damit verbundene Abwägung verschiedener Interessen zunächst ebenfalls unterschlagen (Hauer in Vogl/Wenda 71), um an anderer Stelle in einem sehr begründungsarmen Interessensvergleich zum Ergebnis zu kommen, dass Ausländer_innen bei gerichtlich strafbaren Handlungen ausnahmslos abgeschoben werden müssen (Hauer in Vogl/Wenda 80f).)) Die freiheits- und demokratiesichernde Funktion der Grundrechte verschwindet aus dem Blickfeld. Ãœbrig bleibt die Pflicht des Staates, seine Bürger_innen (und deren Eigentum) voreinander zu schützen.

Staatliche Schutzpflichten sind Teil einer Grundrechtskonzeption, die Grundrechte nicht mehr nur als Abwehrrechte betrachtet, sondern dem Staat auch positive Handlungspflichten auferlegt.((Berka, Verfassungsrecht (2016) 462-463.)) Dies kann auch die Pflicht zu effektiver Strafverfolgung bedeuten, etwa beim Schutz vor häuslicher Gewalt.((Vgl. EGMR 9.6.2009, 33401/01, Opuz/Türkei.)) Was sich konkret aus dem Schutzpflichtenkonzept ergibt, wirft schwierige mehrdimensionale Abwägungsfragen auf.((Vgl. Calliess, Schutzpflichten, in Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd II (2006) 963-992; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht – Ansatz einer Dogmatik (2012) 275-341.)) Bei Hauer liest sich das jedoch schlicht so: „Eine Verletzung von Art 8 EMRK wäre etwa unter anderem dann zu bejahen, wenn in jemandes Wohnung eingebrochen wird und sich späterhin herausstellt, dass der einschlägig vorbestrafte Einbrecher entgegen fremdenpolizeilichen Vorschriften nicht ausgeschafft wurde.“((Hauer in Vogl/Wenda 80.)) Hauer, mittlerweile angelobt als VfGH-Richter, entkleidet die Grundrechte dergestalt ihrer machtbeschränkenden Dimension und stellt sie in den Dienst einer repressiv auftretenden Staatsgewalt. Aufenthaltsbeendigende Maßnahmen und Demonstrationsverbote werden in dieser Logik zu einem Gebot der Menschenrechte.

„Who watches the watchmen?“

Um auf die Eingangsfrage „Who watches the watchmen?“ zurückzukommen: Die Kontrolle liegt beim VfGH selbst. Dieser entscheidet, ob in einem Verfahren Befangenheitsgründe bestehen. Sofern sich ein Mitglied „der Achtung und des Vertrauens, die sein Amt erfordert, unwürdig gezeigt“ hat, kann der VfGH das Mitglied sogar seines Amtes entheben. Unter welchen Umständen diese Vorgangsweise gewählt werden müsste, ist fraglich,((2002 prüfte der VfGH, ob ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten wäre und verneinte dies, vgl. VfGH 6.1.2002, DV1/01.)) zumal es sich um einen Akt handelt, der von seiner politischen Dimension nicht zu trennen ist.

Die Geschichte des VfGH und ihre Wendungen im Angesicht autoritativer Maßnahmen mahnen, die Entwicklungen der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit kritisch zu verfolgen. Die Ernennung Hauers zum VfGH-Richter ist jedenfalls Anlass, genau hinzusehen. Denn Hauers rechtsdogmatische Schriften und seine politischen Zwischenrufe weisen zu enge inhaltliche Verbindungen auf, als dass sich dies einfach ignorieren ließe.


2 Comments

  1. Alexander Somek Sat 10 Mar 2018 at 09:59 - Reply

    Das ist ein wirklich interessanter Beitrag, der ein grundrechtsdogmatisches Problem ganz präzise benennt: Kann man sich auf Schutzpflichten berufen, um den Staat zu Eingriffen verpflichtet zu sehen, die aus der Sicht der Eingriffsabwehr sich als unverhältnismäßig darstellen würden? Muss nicht die “Freiheit durch Eingriffsabwehr” (Schling) Vorrang vor einer Art verfassungsrechtlichem Ordodenken genießen? Food for thought.

  2. as Thu 15 Mar 2018 at 11:12 - Reply

    Hochinteressant! Danke für den Beitrag! Die Pervertierung der staatlichen Schutzpflichten macht tatsächlich gegenwärtig Karriere: so auch beim Ruf nach dem Ãœberwachungsstaat oder der Verhängung von Bekleidungsregeln im öffentlichen Raum – auch hier wird teilweise mit der Schutzpflichtdimension des Staates argumentiert. Scheint ein gefährlicher Mix aus Populismus und Paternalismus

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