29 March 2012

Tag 3 vor dem Supreme Court: Die Pferdefüße des Solidarsystems

Mit der heutigen Doppelsitzung endete das Verhandlungsmarathon um die Gesundheitsreform vor dem US Supreme Court. Am Montag war erörtert worden, ob der Supreme Court die Sache überhaupt entscheiden darf, bevor die ersten Bußgelder für die Missachtung der Versicherungspflicht fällig werden. Am Dienstag ging es dann um die Versicherungspflicht selbst, genauer um die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Gestern nun stellte sich am Vormittag die Frage, welche Folgen eine Verfassungswidrigkeit der individual mandate provision für den Rest des Gesetzes haben würde.

Take the bitter with the sweet

In erster Instanz hatte der District Court für North Florida befunden, das gesamte Gesetz müsse fallen; der 11th Circuit Court of Appeal dagegen hielt die Versicherungspflicht allein für vom Gesetz abtrennbar. Keine der Parteien teilt diese Ansicht; der Supreme Court hat daher mit dem Washingtoner Rechtsanwalt H. Bartow Farr III wiederum einen amicus curiae benannt, der die Position des 11th Circuit vortrug und für die Abtrennbarkeit der individual mandate provision argumentierte.

Die Bundesregierung hatte bereits in der gestrigen Verhandlung deutlich gemacht, dass für sie die Versicherungspflicht eng mit zwei anderen, deutlich beliebteren Regelungen zusammenhängt: der guaranteed issue provision, nach der Versicherungen niemanden wegen Vorerkrankungen ablehnen dürfen, und der community rating provision, nach der die Versicherungsprämien nicht nach dem individuellen, sondern nach dem (lokalen) Durchschnittsrisiko zu berechnen sind. Dies entspricht auch den Feststellungen des Congress. Solicitor General Verrilli hatte auf die Erfahrungen in New Jersey hingewiesen, wo dies ohne eine komplementäre Versicherungspflicht eingeführt worden war: Die Prämien seien aufs Doppelte oder Dreifache angestiegen, die Versichertenzahl von 180.000 auf 80.000 gesunken. Es geht also um ein echtes Solidarsystem: Nur über die Versicherungspflicht auch der Jungen und Gesunden ist ein diskriminierungsfreier Zugang der Kranken und Hinfälligen finanzierbar. „You’re going to have to take the bitter with the sweet,“ wie sich Klägervertreter Paul Clement ausdrückte.

Gewaltenteilung, oder: Half a loaf

Der Zusammenhang zwischen diesen drei Vorschriften wollte den Richtern und Richterinnen gerade noch einleuchten.

Die Kläger jedoch wollen nicht nur weder das Süße noch das Bittere, sie argumentieren, dass das Gesetz in Gänze verfassungswidrig sei. Ein Argument sind die Kosten; dies ist jedoch noch kein rechtliches Argument, und es reicht auch nicht weiter als das der Regierung. Clement trug vor, wenn man alle mit der Versicherungspflicht in einer Kette zusammenhängenden Regelungen herausnehme, bleibe nur noch eine leere Hülle. Richterin Sotomayor und Richterin Kagan fragten jedoch mehrfach nach, ob es in einer Demokratie mit Gewaltenteilung wirklich Aufgabe des Gerichts sein sollte, für den Kongress zu entscheiden, ob er das Gesetz auch ohne die Versicherungspflicht „retten“ wolle oder sich eine gänzlich neue Regelung zu entwickeln:

JUSTICE KAGAN: … the question is always, does Congress want half a loaf. Is half a loaf better than no loaf?

Auch die konservativen Richter Scalia, Kennedy und Chief Justice Roberts schienen wenig überzeugt, dass auch Vorschriften zum Stillen, zur Förderung der medizinischen Versorgung in unterversorgten Gebieten, oder zur Anthrakose (Black Lung disease) unbedingt mit der Versicherungspflicht fallen müssten. Am Ende des Gesprächs zog sich Clement darauf zurück, zumindest die Vorschriften zu den Gesundheitsbörsen, den Steuervorteilen, Medicare und Medicaid gehörten zum untrennbaren Paket mit dem Süßen und dem Bitteren.

2700 Seiten: Wo ist das Herz, wo die Hülle?

Doch auch der Deputy Solicitor General, Edwin Kneedler, hatte es nicht leicht mit der Trennbarkeit; denn wie Richter Kennedy betonte, sind die „übrigen“ Bestimmungen immer auch Teil eines politischen Kompromisses, der ohne das „Herz“ des Gesetzes anders ausgefallen wäre. Kneedler hatte so auf Clements Argumente zu antworten. Doch was gehört bei einem Mammutgesetz wie dem ACA dazu und was nicht? Richter Scalia schien keine große Lust zu haben, das für jede einzelne Bestimmung entscheiden zu müssen:

MR. KNEEDLER: … we think that severability is a matter of statutory interpretation. It should be resolved by looking at the structure and the text of the Act, and the Court may look at legislative history to figure out what the text and structure mean with respect to severability. We don’t —

JUSTICE SCALIA: Mr. Kneedler, what happened to the Eighth Amendment? You really want us to go through these 2,700 pages?

(Laughter.)

JUSTICE SCALIA: And do you really expect the Court to do that? Or do you expect us to give this function to our law clerks?

(Laughter.)

JUSTICE SCALIA: Is this not totally unrealistic? That we’re going to go through this enormous bill item by item and decide each one?

MR. KNEEDLER: Well —

JUSTICE SOTOMAYOR: I thought the simple answer was you don’t have to because —

MR. KNEEDLER: Well, that is — that is the —

JUSTICE SOTOMAYOR: — what we have to look at is what Congress said was essential, correct?

MR. KNEEDLER: That is correct …

In Reaktion auf Richter Kennedys Einwand stellte Richterin Sotomayor klar, dass der Nachvollzug politischer Kompromisse nicht Aufgabe des Gerichts sein könne – und ließ sich einen kleinen Seitenhieb auf Richter Scalias Originalismus nicht nehmen:

JUSTICE KAGAN: I mean, we have never suggested that we’re going to say, look, this legislation was a brokered compromise, and we’re going to try to figure out exactly what would have happened in the complex parliamentary shenanigans that go on across the street and figure out whether they would have made a difference.

Instead, we look at the text that’s actually given us. For some people, we look only at the text. It should be easy for Justice Scalia’s clerks.

(Laughter.)

Zurück zu einer ernsteren Betrachtung, machte Kneedler klar, dass es nicht angehen könne, dass einfach alles für verfassungswidrig erklärt werde, nur weil es zu aufwändig wäre, jede Bestimmung im Einzelnen zu prüfen. Erneute milde Heiterkeit erntete Richter Breyer mit dem nicht unernsten Vorschlag, dass Clement und Kneedler sich zusammensetzen und die „peripheren“ Regelungen vom „Herzen“ des Gesetzes trennen.

Barton Farr, der amicus curiae, hatte dann noch einmal 30 Minuten Zeit zu erläutern, warum trotz der von der Regierung vorgetragenen Negativselektion mit der Folge steigender Preise die anderen Reformen des ACA auch ohne die Versicherungspflicht noch funktionieren würden. Das Gesetz enthalte neben der Versicherungspflicht noch andere Mechanismen, um die Negativselektion zu reduzieren, darunter Neuversicherungszeiträume, Subventionen bis zu 80 % der Prämien für Geringverdienende, und altersgestaffelte Prämienhöhen. Doch die Richter und Richterinnen zeigte sich besorgt, dass ohne die Versicherungspflicht die Kosten für die Versicherer und den Bund in die Höhe schießen, der Kongress aber keine Mehrheit für eine Gesetzesaufhebung finden würde – ob dies wirklich im Sinne der Gewaltenteilung sei?

JUSTICE SCALIA: Mr. Farr, let’s – let’s consider how — how your approach, severing as little as possible, thereby increases the deference that we’re showing to — to Congress. It seems to me it puts Congress in — in this position: This Act is still in full effect. There is going to be this deficit that used to be made up by the mandatory coverage provision. All that money has to come from somewhere.

You can’t repeal the rest of the Act because you’re not going to get 60 votes in the Senate to repeal the rest. It’s not a matter of enacting a new Act. You’ve got to get 60 votes to repeal it. So the rest of the Act is going to be the law. …

Do you really think that that is somehow showing deference to Congress and — and respecting the democratic process?

Geteilte Kosten: Medicaid

Am Nachmittag wurde die angesetzte Stunde um 20 Minuten überzogen, um eine Frage der Bundesstaaten zu verhandeln, die zuletzt in der Diskussion um die Versicherungspflicht ein wenig unterging:

Does Congress exceed its enumerated powers and violate basic principles of federalism when it coerces states into accepting onerous conditions that it could not impose directly by threatening to withhold all federal funding under the single largest grant-in-aid program, Medicaid?

Das staatliche Versicherungsprogramm Medicaid ist bisher nur bestimmten Untergruppen von Geringverdienenden und Armen zugänglich, insbesondere Kindern, Schwangeren, Über-65jährigen und Behinderten. Jedes dritte Kind profitiert von Medicaid oder CHIP, dem Auffangprogramm für Kinder etwas besser verdienender Familien; gut 60 Millionen Menschen sind über Medicaid oder CHIP (zusatz)versichert. Der Affordable Care Act wird das Programm generell für alle öffnen, die weniger als 133% der Armutsgrenze verdienen, also derzeit 14.500 USD Jahreseinkommen oder weniger.

Das – optionale – Programm wird durch die Bundesstaaten in je unterschiedlicher Weise implementiert; darauf verzichten will kein einziger, denn Medicaid wird vom Bund zu bis zu 82% ko-finanziert. Das Prinzip der Ko-Finanzierung gilt jedoch auch für die Ausweitung, mit ihr ist also auch eine Ausgabensteigerung der Bundesstaaten verbunden. Die 26 klagenden Bundesstaaten stehen nun vor der Wahl, die Ausweitung zu akzeptieren oder gänzlich auf Medicaid zu verzichten – und damit auf die Bundesmittel, die das Programm subventionieren. Sie argumentieren wiederum, dass der Bund hier seine Kompetenzen überschreite und föderalistische Prinzipien verletze, bisher ohne Erfolg: Beide Vorinstanzen haben dieses Argument zurückgewiesen.

Ein wichtiger Präzedenzfall zur spending power, die der Steuererhebungskompetenz innewohnt, ist Dole. Darin hatte der Supreme Court es unter drei Bedingungen für verfassungsmäßig befunden, mit der Gewährung von Bundesmitteln an Staaten oder Gemeinden Bedingungen zu verknüpfen: Die Bedingungen dürfen nicht überraschend sein; sie müssen mit den Ausgaben inhaltlich zusammenhängen (germaneness); und der Anreiz darf nicht so gestaltet sein, dass er tatsächlich zum Zwang wird (coercion).

A boatload of money

Richterin Kagan ging sofort zum Angriff auf Paul Clement über: „[T]he Federal Government is here saying, we are giving you a boatload of money. … It doesn’t sound coercive to me, I have to tell you.“ Richter Breyer wandte ein, dass die streitige Regelung (42 U.S.C. § 1396c) bereits seit 1965 existiere und dem Bundesministerium die Wahl einräume, entweder die Bundesförderung ganz einzustellen oder auf bestimmte Bereiche zu beschränken, und dieses Ermessen müsse in angemessener Weise ausgeübt werden. So habe es sich bei jeder früheren Ausweitung von Medicaid verhalten. Zudem klagten hier nur 26 Staaten – damit seien 24 Bundesstaaten offenbar mit der Ausweitung von Medicaid durchaus zufrieden.

JUSTICE SCALIA: Mr. Clement, I didn’t take the time to figure this out, but maybe you did. Is there any chance that all 26 States opposing it have Republican governors, and all of the States supporting it have Democratic governors? Is that possible?

MR. CLEMENT: There’s a correlation, Justice Scalia.

JUSTICE SCALIA: Yes.

(Laughter.)

Richterin Ginsburg wies darauf hin, dass das Gericht noch nie ein Bundesprogramm für verfassungswidrig erklärt habe, weil es zu gut sei, um es aufzugeben. Und Richterin Kagan suchte vergeblich nach der Grenze, wann dies der Fall sei – müsste die Kompetenz des Bundes wirklich mit der Größe des Problems abnehmen? Richter Breyer fragte, ob dann nicht Medicaid seit 1964 verfassungswidrig sei – Clement entgegnete, neben dem Umfang des Programms sei an der hiesigen Regelung ihre Bindung an die Versicherungspflicht besonders, zudem bestand er auf der Paketpflicht. Dies sei ein Fall, in dem das Gericht einen Brückenkopf aufstellen könne, „say that coercion matters … and then you will have effectively instructed Congress that there are limits, and you will have laid down some administrable rules.“

Geld oder Leben?

Solicitor General Verrilli versuchte, den gezielten Nachfragen der Richter und Richterinnen nach einer coercion-Grenze dadurch auszuweichen, dass er immer wieder betonte, dass die Grenze hier nicht erreicht sei. Zurück zur Frage, ob der Bund tatsächlich sämtliche Medicaid-Finanzierung zurücknehmen könne, wenn die Bundesstaaten die neue Ausweitung ablehnten: Chief Justice Roberts machte deutlich, dass der Umstand, dass dies bisher nie passiert sei, ja gerade auf coercion beruhen könne:

CHIEF JUSTICE ROBERTS: Well, but that’s just saying that when, you know, the analogy that has been used, the gun to your head, “your money or your life,” you say, well, there’s no evidence that anyone has ever been shot.

Richter Kennedy griff schließlich auf, was Klägervertreter Clement zu bedenken gegeben hatte: Dass es für die Bürger schwierig werde, die Verantwortung zwischen Bund und Bundesstaaten zu überschauen, da der Bund den Staat unter Druck setze, dieser aber den Bürgern gegenüber für die Umsetzung gerade stehen müsse.

Schließlich gelang es Verrilli, noch einen direkten Angriff auf die freiheitsrechtlichen Argumente der Gegenseite zu lancieren:

There is an important connection, a profound connection, between that problem [Nichtversicherte] and liberty. And I do think it’s important that we not lose sight of that.

That in this population of Medicaid eligible people who will receive health care that they cannot now afford under this Medicaid expansion, there will be millions of people with chronic conditions like diabetes and heart disease, and as a result of the health care that they will get, they will be unshackled from the disabilities that those diseases put on them and have the opportunity to enjoy the blessings of liberty. …

In a very fundamental way, this Medicaid expansion, as well as the provisions we discussed yesterday, secure of the blessings of liberty.

Paul Clement hielt entgegen:

But I would respectfully suggest that it’s a very funny conception of liberty that forces somebody to purchase an insurance policy whether they want it or not.

And it’s a very strange conception of federalism that says that we can simply give the States an offer that they can’t refuse, and through the spending power which is premised on the notion that Congress can do more because it’s voluntary, we can force the States to do whatever we tell them to. That is a direct threat to our federalism.

Entscheidung im Wahlkampf

Der Supreme Court hat nun viele Rechtsfragen zu entscheiden, die von massiver politischer Auswirkung sind. Sollte die Klage wegen des Anti-Injunction Act bis 2015 unzulässig sein, würde das Gesetz weiterhin den Präsidentschaftswahlkampf bestimmen. Ohne die Versicherungspflicht, das ist klar, ist das Gesetz jedoch ebenfalls nichts wert. Wird der Supreme Court die Entscheidungsfreiheit von 40 Millionen Nichtversicherten hochhalten, die häufig aus finanziellen oder diskriminierenden Gründen gar keine echte Entscheidung treffen können? Oder werden die USA 2014 endlich Anschluss an einen Versorgungsstandard finden, der in anderen Industrieländern selbstverständlich ist? Das Gericht ist bisher deutlich gespalten. Wird Richter Kennedy mit den Liberalen stimmen und vielleicht sogar den Vorsitzenden Richter Roberts mit sich ziehen, der in 90% der Fälle der Mehrheit des Gerichts angehört? Die Antwort wird in jedem Fall vor dem Ende des term im Juni 2012 fallen. Wie auch immer sie ausfällt: Ein abweichendes Votum ist sicher, und Chief Justice Roberts wird es nicht schreiben.

Take the bitter with the sweet

In erster Instanz hatte der District Court für North Florida befunden, das gesamte Gesetz müsse fallen; der 11th Circuit Court of Appeal dagegen hielt die Versicherungspflicht allein für vom Gesetz abtrennbar. Keine der Parteien teilt diese Ansicht; der Supreme Court hat daher mit dem Washingtoner Rechtsanwalt H. Bartow Farr III wiederum einen amicus curiae benannt, der die Position des 11th Circuit vortrug und für die Abtrennbarkeit der individual mandate provision argumentierte.

Die Bundesregierung hatte bereits in der gestrigen Verhandlung deutlich gemacht, dass für sie die Versicherungspflicht eng mit zwei anderen, deutlich beliebteren Regelungen zusammenhängt: der guaranteed issue provision, nach der Versicherungen niemanden wegen Vorerkrankungen ablehnen dürfen, und der community rating provision, nach der die Versicherungsprämien nicht nach dem individuellen, sondern nach dem (lokalen) Durchschnittsrisiko zu berechnen sind. Dies entspricht auch den Feststellungen des Congress. Solicitor General Verrilli hatte auf die Erfahrungen in New Jersey hingewiesen, wo dies ohne eine komplementäre Versicherungspflicht eingeführt worden war: Die Prämien seien aufs Doppelte oder Dreifache angestiegen, die Versichertenzahl von 180.000 auf 80.000 gesunken. Es geht also um ein echtes Solidarsystem: Nur über die Versicherungspflicht auch der Jungen und Gesunden ist ein diskriminierungsfreier Zugang der Kranken und Hinfälligen finanzierbar. „You’re going to have to take the bitter with the sweet,“ wie sich Klägervertreter Paul Clement ausdrückte.

Gewaltenteilung, oder: Half a loaf

Der Zusammenhang zwischen diesen drei Vorschriften wollte den Richtern und Richterinnen gerade noch einleuchten.

Die Kläger jedoch wollen nicht nur weder das Süße noch das Bittere, sie argumentieren, dass das Gesetz in Gänze verfassungswidrig sei. Ein Argument sind die Kosten; dies ist jedoch noch kein rechtliches Argument, und es reicht auch nicht weiter als das der Regierung. Clement trug vor, wenn man alle mit der Versicherungspflicht in einer Kette zusammenhängenden Regelungen herausnehme, bleibe nur noch eine leere Hülle. Richterin Sotomayor und Richterin Kagan fragten jedoch mehrfach nach, ob es in einer Demokratie mit Gewaltenteilung wirklich Aufgabe des Gerichts sein sollte, für den Kongress zu entscheiden, ob er das Gesetz auch ohne die Versicherungspflicht „retten“ wolle oder sich eine gänzlich neue Regelung zu entwickeln:

JUSTICE KAGAN: … the question is always, does Congress want half a loaf. Is half a loaf better than no loaf?

Auch die konservativen Richter Scalia, Kennedy und Chief Justice Roberts schienen wenig überzeugt, dass auch Vorschriften zum Stillen, zur Förderung der medizinischen Versorgung in unterversorgten Gebieten, oder zur Anthrakose (Black Lung disease) unbedingt mit der Versicherungspflicht fallen müssten. Am Ende des Gesprächs zog sich Clement darauf zurück, zumindest die Vorschriften zu den Gesundheitsbörsen, den Steuervorteilen, Medicare und Medicaid gehörten zum untrennbaren Paket mit dem Süßen und dem Bitteren.

2700 Seiten: Wo ist das Herz, wo die Hülle?

Doch auch der Deputy Solicitor General, Edwin Kneedler, hatte es nicht leicht mit der Trennbarkeit; denn wie Richter Kennedy betonte, sind die „übrigen“ Bestimmungen immer auch Teil eines politischen Kompromisses, der ohne das „Herz“ des Gesetzes anders ausgefallen wäre. Kneedler hatte so auf Clements Argumente zu antworten. Doch was gehört bei einem Mammutgesetz wie dem ACA dazu und was nicht? Richter Scalia schien keine große Lust zu haben, das für jede einzelne Bestimmung entscheiden zu müssen:

MR. KNEEDLER: … we think that severability is a matter of statutory interpretation. It should be resolved by looking at the structure and the text of the Act, and the Court may look at legislative history to figure out what the text and structure mean with respect to severability. We don’t —

JUSTICE SCALIA: Mr. Kneedler, what happened to the Eighth Amendment? You really want us to go through these 2,700 pages?

(Laughter.)

JUSTICE SCALIA: And do you really expect the Court to do that? Or do you expect us to give this function to our law clerks?

(Laughter.)

JUSTICE SCALIA: Is this not totally unrealistic? That we’re going to go through this enormous bill item by item and decide each one?

MR. KNEEDLER: Well —

JUSTICE SOTOMAYOR: I thought the simple answer was you don’t have to because —

MR. KNEEDLER: Well, that is — that is the —

JUSTICE SOTOMAYOR: — what we have to look at is what Congress said was essential, correct?

MR. KNEEDLER: That is correct …

In Reaktion auf Richter Kennedys Einwand stellte Richterin Sotomayor klar, dass der Nachvollzug politischer Kompromisse nicht Aufgabe des Gerichts sein könne – und ließ sich einen kleinen Seitenhieb auf Richter Scalias Originalismus nicht nehmen:

JUSTICE KAGAN: I mean, we have never suggested that we’re going to say, look, this legislation was a brokered compromise, and we’re going to try to figure out exactly what would have happened in the complex parliamentary shenanigans that go on across the street and figure out whether they would have made a difference.

Instead, we look at the text that’s actually given us. For some people, we look only at the text. It should be easy for Justice Scalia’s clerks.

(Laughter.)

Zurück zu einer ernsteren Betrachtung, machte Kneedler klar, dass es nicht angehen könne, dass einfach alles für verfassungswidrig erklärt werde, nur weil es zu aufwändig wäre, jede Bestimmung im Einzelnen zu prüfen. Erneute milde Heiterkeit erntete Richter Breyer mit dem nicht unernsten Vorschlag, dass Clement und Kneedler sich zusammensetzen und die „peripheren“ Regelungen vom „Herzen“ des Gesetzes trennen.

Barton Farr, der amicus curiae, hatte dann noch einmal 30 Minuten Zeit zu erläutern, warum trotz der von der Regierung vorgetragenen Negativselektion mit der Folge steigender Preise die anderen Reformen des ACA auch ohne die Versicherungspflicht noch funktionieren würden. Das Gesetz enthalte neben der Versicherungspflicht noch andere Mechanismen, um die Negativselektion zu reduzieren, darunter Neuversicherungszeiträume, Subventionen bis zu 80 % der Prämien für Geringverdienende, und altersgestaffelte Prämienhöhen. Doch die Richter und Richterinnen zeigte sich besorgt, dass ohne die Versicherungspflicht die Kosten für die Versicherer und den Bund in die Höhe schießen, der Kongress aber keine Mehrheit für eine Gesetzesaufhebung finden würde – ob dies wirklich im Sinne der Gewaltenteilung sei?

JUSTICE SCALIA: Mr. Farr, let’s – let’s consider how — how your approach, severing as little as possible, thereby increases the deference that we’re showing to — to Congress. It seems to me it puts Congress in — in this position: This Act is still in full effect. There is going to be this deficit that used to be made up by the mandatory coverage provision. All that money has to come from somewhere.

You can’t repeal the rest of the Act because you’re not going to get 60 votes in the Senate to repeal the rest. It’s not a matter of enacting a new Act. You’ve got to get 60 votes to repeal it. So the rest of the Act is going to be the law. …

Do you really think that that is somehow showing deference to Congress and — and respecting the democratic process?

Geteilte Kosten: Medicaid

Am Nachmittag wurde die angesetzte Stunde um 20 Minuten überzogen, um eine Frage der Bundesstaaten zu verhandeln, die zuletzt in der Diskussion um die Versicherungspflicht ein wenig unterging:

Does Congress exceed its enumerated powers and violate basic principles of federalism when it coerces states into accepting onerous conditions that it could not impose directly by threatening to withhold all federal funding under the single largest grant-in-aid program, Medicaid?

Das staatliche Versicherungsprogramm Medicaid ist bisher nur bestimmten Untergruppen von Geringverdienenden und Armen zugänglich, insbesondere Kindern, Schwangeren, Über-65jährigen und Behinderten. Jedes dritte Kind profitiert von Medicaid oder CHIP, dem Auffangprogramm für Kinder etwas besser verdienender Familien; gut 60 Millionen Menschen sind über Medicaid oder CHIP (zusatz)versichert. Der Affordable Care Act wird das Programm generell für alle öffnen, die weniger als 133% der Armutsgrenze verdienen, also derzeit 14.500 USD Jahreseinkommen oder weniger.

Das – optionale – Programm wird durch die Bundesstaaten in je unterschiedlicher Weise implementiert; darauf verzichten will kein einziger, denn Medicaid wird vom Bund zu bis zu 82% ko-finanziert. Das Prinzip der Ko-Finanzierung gilt jedoch auch für die Ausweitung, mit ihr ist also auch eine Ausgabensteigerung der Bundesstaaten verbunden. Die 26 klagenden Bundesstaaten stehen nun vor der Wahl, die Ausweitung zu akzeptieren oder gänzlich auf Medicaid zu verzichten – und damit auf die Bundesmittel, die das Programm subventionieren. Sie argumentieren wiederum, dass der Bund hier seine Kompetenzen überschreite und föderalistische Prinzipien verletze, bisher ohne Erfolg: Beide Vorinstanzen haben dieses Argument zurückgewiesen.

Ein wichtiger Präzedenzfall zur spending power, die der Steuererhebungskompetenz innewohnt, ist Dole. Darin hatte der Supreme Court es unter drei Bedingungen für verfassungsmäßig befunden, mit der Gewährung von Bundesmitteln an Staaten oder Gemeinden Bedingungen zu verknüpfen: Die Bedingungen dürfen nicht überraschend sein; sie müssen mit den Ausgaben inhaltlich zusammenhängen (germaneness); und der Anreiz darf nicht so gestaltet sein, dass er tatsächlich zum Zwang wird (coercion).

A boatload of money

Richterin Kagan ging sofort zum Angriff auf Paul Clement über: „[T]he Federal Government is here saying, we are giving you a boatload of money. … It doesn’t sound coercive to me, I have to tell you.“ Richter Breyer wandte ein, dass die streitige Regelung (42 U.S.C. § 1396c) bereits seit 1965 existiere und dem Bundesministerium die Wahl einräume, entweder die Bundesförderung ganz einzustellen oder auf bestimmte Bereiche zu beschränken, und dieses Ermessen müsse in angemessener Weise ausgeübt werden. So habe es sich bei jeder früheren Ausweitung von Medicaid verhalten. Zudem klagten hier nur 26 Staaten – damit seien 24 Bundesstaaten offenbar mit der Ausweitung von Medicaid durchaus zufrieden.

JUSTICE SCALIA: Mr. Clement, I didn’t take the time to figure this out, but maybe you did. Is there any chance that all 26 States opposing it have Republican governors, and all of the States supporting it have Democratic governors? Is that possible?

MR. CLEMENT: There’s a correlation, Justice Scalia.

JUSTICE SCALIA: Yes.

(Laughter.)

Richterin Ginsburg wies darauf hin, dass das Gericht noch nie ein Bundesprogramm für verfassungswidrig erklärt habe, weil es zu gut sei, um es aufzugeben. Und Richterin Kagan suchte vergeblich nach der Grenze, wann dies der Fall sei – müsste die Kompetenz des Bundes wirklich mit der Größe des Problems abnehmen? Richter Breyer fragte, ob dann nicht Medicaid seit 1964 verfassungswidrig sei – Clement entgegnete, neben dem Umfang des Programms sei an der hiesigen Regelung ihre Bindung an die Versicherungspflicht besonders, zudem bestand er auf der Paketpflicht. Dies sei ein Fall, in dem das Gericht einen Brückenkopf aufstellen könne, „say that coercion matters … and then you will have effectively instructed Congress that there are limits, and you will have laid down some administrable rules.“

Geld oder Leben?

Solicitor General Verrilli versuchte, den gezielten Nachfragen der Richter und Richterinnen nach einer coercion-Grenze dadurch auszuweichen, dass er immer wieder betonte, dass die Grenze hier nicht erreicht sei. Zurück zur Frage, ob der Bund tatsächlich sämtliche Medicaid-Finanzierung zurücknehmen könne, wenn die Bundesstaaten die neue Ausweitung ablehnten: Chief Justice Roberts machte deutlich, dass der Umstand, dass dies bisher nie passiert sei, ja gerade auf coercion beruhen könne:

CHIEF JUSTICE ROBERTS: Well, but that’s just saying that when, you know, the analogy that has been used, the gun to your head, “your money or your life,” you say, well, there’s no evidence that anyone has ever been shot.

Richter Kennedy griff schließlich auf, was Klägervertreter Clement zu bedenken gegeben hatte: Dass es für die Bürger schwierig werde, die Verantwortung zwischen Bund und Bundesstaaten zu überschauen, da der Bund den Staat unter Druck setze, dieser aber den Bürgern gegenüber für die Umsetzung gerade stehen müsse.

Schließlich gelang es Verrilli, noch einen direkten Angriff auf die freiheitsrechtlichen Argumente der Gegenseite zu lancieren:

There is an important connection, a profound connection, between that problem [Nichtversicherte] and liberty. And I do think it’s important that we not lose sight of that.

That in this population of Medicaid eligible people who will receive health care that they cannot now afford under this Medicaid expansion, there will be millions of people with chronic conditions like diabetes and heart disease, and as a result of the health care that they will get, they will be unshackled from the disabilities that those diseases put on them and have the opportunity to enjoy the blessings of liberty. …

In a very fundamental way, this Medicaid expansion, as well as the provisions we discussed yesterday, secure of the blessings of liberty.

Paul Clement hielt entgegen:

But I would respectfully suggest that it’s a very funny conception of liberty that forces somebody to purchase an insurance policy whether they want it or not.

And it’s a very strange conception of federalism that says that we can simply give the States an offer that they can’t refuse, and through the spending power which is premised on the notion that Congress can do more because it’s voluntary, we can force the States to do whatever we tell them to. That is a direct threat to our federalism.

Entscheidung im Wahlkampf

Der Supreme Court hat nun viele Rechtsfragen zu entscheiden, die von massiver politischer Auswirkung sind. Sollte die Klage wegen des Anti-Injunction Act bis 2015 unzulässig sein, würde das Gesetz weiterhin den Präsidentschaftswahlkampf bestimmen. Ohne die Versicherungspflicht, das ist klar, ist das Gesetz jedoch ebenfalls nichts wert. Wird der Supreme Court die Entscheidungsfreiheit von 40 Millionen Nichtversicherten hochhalten, die häufig aus finanziellen oder diskriminierenden Gründen gar keine echte Entscheidung treffen können? Oder werden die USA 2014 endlich Anschluss an einen Versorgungsstandard finden, der in anderen Industrieländern selbstverständlich ist? Das Gericht ist bisher deutlich gespalten. Wird Richter Kennedy mit den Liberalen stimmen und vielleicht sogar den Vorsitzenden Richter Roberts mit sich ziehen, der in 90% der Fälle der Mehrheit des Gerichts angehört? Die Antwort wird in jedem Fall vor dem Ende des term im Juni 2012 fallen. Wie auch immer sie ausfällt: Ein abweichendes Votum ist sicher, und Chief Justice Roberts wird es nicht schreiben.


7 Comments

  1. Thomas Flint Thu 29 Mar 2012 at 15:14 - Reply

    Vielen Dank für diese informative und präzise Berichterstattung über die Verhandlungen des Supreme Court! Ich habe alle ihre Teile mit großem Gewinn und mit Freude gelesen.

  2. Johannes Fri 30 Mar 2012 at 11:16 - Reply

    Liebe Frau Markard,

    vielen Dank für die detaillierten und zeitnahen Berichte, samt passender Links.

    Ich schließe mich meinem Vorredner gerne an, die Lektüre war ein Gewinn.

    Hier noch ein Kommentar aus “Der Freitag” zum “Obamacare”-Verfahren, der im Original aus dem Guardian stammt.

    http://www.freitag.de/politik/1212-ein-wirklicher-offenbarungseid

    http://www.guardian.co.uk/profile/jasonfarago

  3. Michael Wrase Fri 30 Mar 2012 at 12:02 - Reply

    Es wäre einmal interessant, die Art der Kommunikation/ Argumentation in mündlichen Verhandlungen von U.S. Supreme Court und BVerfG zu vergleichen.

    Obwohl die Verhandlungen beim BVerfG deutlich länger dauern (wenn sie überhaupt mal stattfinden), gibt es keinen so intensiven Austausch der rechtlichen Argumente zwischen den Richtern und Prozessvertretern und schon gar nicht der Richter und Richterinnen untereinander in der Öffentlichkeit, dafür sind die senatsinternen Beratungen wohl deutlich intensiver als beim Supreme Court (die “Fragerunde” ist wohl ein Ausgleich dafür). Und bei den Verhandlungen vorm BVerfG wird auch viel seltener gelacht…

    Lesenswert dazu der Blogeintrag von Klaus F. Röhl: http://www.rsozblog.de/?p=1505

    Von entsprechenden Studien zum BVerfG ist mir jedenfalls nichts bekannt ;)

  4. Nora Markard Sat 31 Mar 2012 at 13:25 - Reply

    Vielen Dank, Michael, für diese interessanten Hinweise! Die ganz andere Verhandlungskultur ist wirklich bemerkenswert, und es macht großen Spaß, sich die Verhandlungen anzuhören. Es knistert förmlich vor Energie.

    Die Konsenskultur in Karlsruhe hat sicher einiges für sich, aber es ist schön zu sehen, dass die Würde des Gerichts unter einigen Scherzen nicht leidet!

  5. MW Sat 31 Mar 2012 at 15:04 - Reply

    Wenn du dir das alles liveangehört hast, waren es bestimmt lange aber unterhaltsame Nächte/ Morgenstunden… ;-)

    Vielleicht sollte sich das BVerfG daran wirklich mal ein Beispiel nehmen und am „Tag der offenen Tür“ statt ein oder zwei Mammutsitzungen tatsächlich mal vier oder fünf Verfahren à ein- oder anderthalb Stunden verhandeln. Auf der Webseite könnten die Verfahren mit einer kurzen Einführung in den Sachverhalt angekündigt werden, dann müsste man sich in der Verhandlung nicht mit Präliminarien aufhalten und könnte quasi direkt ins Rechtsgespräch einsteigen. So könnten die Beschwerdeführer und Verfahrensvertreter/innen auch mal an der „herausragenden“ Diskussionskultur der Richterinnen und Richter teilhaben, die aus den Beratungszimmern des BVerfG ja immer kolportiert wird (vgl. Kranenpohl 2010).

    Es ist mE schon sehr bedenklich, dass das „Mündliche“ beim BVerfG eigentlich fast nur noch hinter verschlossenen Türen stattfindet. Im Vergleich zum Anfang der 2000er ist in den letzten 5-6 Jahren sogar ein deutlicher Rückgang der mündlichen Verhandlungen zu verzeichnen: http://www.bverfg.de/organisation/gb2011/A-II-4.html

    Aber wahrscheinlich passt das einfach nicht zur deutschen Rechtskultur. Lachen auch nicht. Frei nach Oscar Wilde: Was gibt es ernsteres als Verfassungsrecht?

  6. Stefan Sun 1 Apr 2012 at 09:28 - Reply

    Vielen Dank für die sehr gute Zusammenfassung der drei Verhandlungstage. Lesenswert, informativ und top aktuell – was will man mehr. :-)

  7. […] mündliche Verhandlung und die Bedeutung des Gesetzes habe ich im März hier, hier, hier und hier […]

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