Ankerzentren – verdorbener Wein in neuen Schläuchen?
2002 errang das Wort „Ausreisezentrum“ den 2. Platz beim „Unwort des Jahres“. Die Begründung der Jury: „Dieses Wort soll offenbar Vorstellungen von freiwilliger Auswanderung oder gar Urlaubsreisen wecken. Es verdeckt damit auf zynische Weise einen Sachverhalt, der den Behörden wohl immer noch peinlich ist. Sonst hätte man eine ehrlichere Benennung gewählt.“ 2018 scheint sich die Geschichte zu wiederholen mit den Ankerzentren.
Anker, das ist im allgemeinen Sprachgebrauch eine Metapher für Sicherheit, Zuversicht und Bindung. Im Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU steht es für einen neuen Einrichtungstypus und ist ein Akronym, das für „Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung bzw. Rückführung“ steht. Wie diese Einrichtungen ausgestaltet werden, ist dort lediglich skizziert, und allseits wird gespannt die Veröffentlichung des selbstbetitelten „Masterplans“ von Innenminister Seehofer erwartet, die für den 12. Juni angekündigt ist weitere Details enthalten soll. Laut Koalitionsvertrag sollen in den Ankerzentren Asylverfahren „schnell, umfassend und rechtssicher bearbeitet werden“. BAMF, BA, Jugendämter, Justiz, Ausländerbehörden und andere sollen in den Ankerzentren unter einem Dach vereint werden und so Hand in Hand arbeiten.
Was wir jetzt schon wissen: Die oben genannten Ziele der Ankerzentren können – zumindest unter Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze – nicht erreicht werden. In einigen Bundesländern (u.a. Bayern, Saarland, Baden-Württemberg) existieren bereits Aufnahmeeinrichtungen, die Erfahrungen mit der Unterbringung einer großen Anzahl von Menschen in zentralen Einrichtungen und der Durchführung von Asylverfahren haben und als Blaupausen für die nun geplanten Ankerzentren gelten können. Der Bundesinnenminister kündigte am Rande der Innenministerkonferenz an, dass er nun mit jedem einzelnen Bundesland in Verhandlung treten wolle über die Errichtung von Ankerzentren. In einem nächsten Schritt soll eine eigene Rechtsgrundlage für die Errichtung geschaffen werden. Die Ankerzentren sind in vielerlei Hinsicht fragwürdig. Dieser Beitrag kann nur einige wenige Aspekte anreißen.
Asylverfahren – schnell, effizient, fair und qualitativ hochwertig – geht das überhaupt?
Die Vergangenheit hat wiederholt gezeigt: Die Beschleunigung der Verfahren und schnellere Abschiebungen können regelmäßig nur über eine Beschneidung des Zugangs zum Recht und unter Inkaufnahme von qualitativ schlechteren Verwaltungsverfahren erreicht werden. Das haben zum einen die sprunghaft angestiegenen (allein im Jahr 2017 eine Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr) und zum großen Teil erfolgreichen Rechtsverfahren gegen Asylbescheide gezeigt, zum anderen die öffentliche Kritik von Rechtsanwälten und in gewisser Form auch der Fall um den „falschen“ Asylantragsteller Franko A.: Die Qualität der Verfahren hat maßgeblich gelitten unter der Maßgabe, schnell viele Entscheidungen zu produzieren. Damit einhergeht auch eine nachvollziehbar geringe Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, die Voraussetzung eines funktionierenden Rechtsstaates ist. Daneben sagt die Etablierung beschleunigter Verfahren letztendlich nichts über die de facto Dauer der Verfahren und noch weniger über die letztendliche Aufenthaltszeit der Menschen in Deutschland aus. Dies scheint in der öffentlichen Debatte und in den konkreten Plänen immer wieder durcheinanderzugeraten. So betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer in Manching und Bamberg zwischen acht und neun Monaten und war damit nicht kürzer als anderswo, obwohl laut Gesetz über den Asylantrag innerhalb von einer Woche entschieden sein müsste, § 30a Abs. 2 AsylG. Zudem leben zahlreiche Menschen trotz abgeschlossener Verfahren noch jahrelang in Deutschland in dem prekären aufenthaltsrechtlichen Zustand der Duldung: Im Jahr 2016 betraf dies 21 000 Menschen mit über 10-jährigem Aufenthalt im Bundesgebiet und im Jahr 2017 25 318 Menschen mit mindestens 8-jährigem Aufenthalt.
Zu rechtsstaatlichen Verfahren gehört außerdem der Zugang zu effektivem Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 IV GG. Das bedeutet insbesondere, dass unabhängige Beratung gewährleistet sein muss, dass Dolmetscher zur Verfügung stehen müssen, dass für Kinder kindgerechte Beratungsangebote zur Verfügung stehen, Rechtsanwälte und Fachberatungsstellen vorhanden und erreichbar sind, im Sinne einer funktionierenden Infrastruktur. Das Festschreiben dieser Rechte auf dem Papier allein reicht nicht aus, sie müssen auch gelebt werden können.
Strukturelle Isolation und gewollte Hoffnungslosigkeit?
Bis zu 1500 Menschen sollen, fernab von Städten, in Ankerzentren untergebracht werden, wo sie eng zusammengepfercht auf das Ergebnis ihres Asylverfahrens oder die Abschiebung warten. Im Mittelpunkt scheint das Ziel zu stehen, Menschen zu isolieren und vom Rest der Bevölkerung abzuschirmen und damit deutliche Zeichen der Abschreckung nach außen zu setzen. Öffentlich wurde bereits mit der Idee gespielt, in diesen Unterkünften auch Außenstellen der Verwaltungsgerichte einzurichten. Das würde bedeuten, dass es wenig Anlässe und rechtliche Möglichkeiten für die dort lebenden Menschen gäbe, die Großunterkünfte überhaupt zu verlassen, denn andere soziale Zugangs- und Teilhaberechte sind für diese Gruppe so gut wie nicht vorhanden. Die strukturelle Isolation und damit einhergehende Segregation von Menschen ist höchst bedenklich und weckt Assoziationen mit lagerartigen Strukturen. Hannah Arendt nannte den Zustand des Flüchtlings einen „Zusammenbruch der privaten Welt“ und Lager eine „Irrsinnswelt“. Wollen wir so etwas?
Besondere Auswirkungen von Ankerzentren auf Kinder
Die Konsequenzen dieser Entrechtung zeigen sich insbesondere bei Kindern. Für diese Gruppe sind die Pläne des Innenministeriums besonders besorgniserregend und stehen im Widerspruch zu geltenden Kinder- und Teilhaberechten.
Problematisch erscheint insbesondere die Frage des Bildungszugangs für Kinder. Das Recht auf Bildung ist in zahlreichen völkerrechtlichen Regelwerken enthalten: Die UN-Kinderechtskonvention (KRK) bestimmt in Art. 28 in Verbindung mit Art. 22, dass jedes Kind ein Recht auf Schule hat. Nach Art. 22 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sowie Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK darf niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden; der Anspruch der in der Konvention anerkannten Rechte ist ohne Diskriminierung wegen der nationalen Herkunft zu gewährleisten (Art.  14 EMRK). Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union legt in Art. 14 Abs. 1 und 2 zudem fest, dass jede Person das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung hat. Dieses Recht umfasst auch die Option, unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen. Es umfasst zudem das Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern und damit insbesondere auf Zugang zu Regelbeschulung. Letzteres ist in Art. 3 lit. E des UNESCO Übereinkommens gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen von 1960 (UDÜ) verbindlich festgelegt. Daneben enthält das Europarecht migrationsspezifische Vorgaben in der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33): Der Zugang zum Regelschulsystem muss danach nach drei Monaten erfolgen.
Die Realität in den Vorbildern der Ankerzentren zeigt: Kinder, die in den existierenden bayerischen Transitzentren untergebracht sind, wird der Besuch von Regelschulen regelmäßig verwehrt. Die etwa 200 Kinder in Manching, Deggendorf und Regensburg wurden – trotz oft über drei Monate hinausgehender Aufenthalte – mit unterkunftsinternem „Ersatzunterricht“ abgespeist. Das reicht nicht, entschied nun das Verwaltungsgericht München in sechs Fällen (vgl. PM Pro Asyl). Und auch in Erstaufnahmeunterkünften in anderen Bundesländern sind Kinder immer weiter ausgeschlossen vom regulären Schulbesuch und müssen mit altersgemischten Gruppen und abgespeckten Bildungsangeboten vorlieb nehmen, obwohl dies völker- und europarechtswidrig ist. In manchen Bundesländern sind Kinder sogar gesetzlich von der Schulpflicht ausgenommen, solange sie in der Aufnahmeeinrichtung leben. Das hat langfristige und katastrophale Folgen für die Kinder: Sie verlieren wertvolle Bildungsjahre, zusätzlich zu den bereits verlorenen Jahren durch die Flucht.
Selbst beim Kinderschutz gibt es kein Halt: So sollen auch unbegleitete Minderjährige, die seit 2005 in der Primärzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe verortet sind, zunächst in solchen Zentren untergebracht werden (Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe). Dies widerspricht nicht nur den klaren Vorgaben der UN Kinderrechtskonvention, wonach geflüchteten Kindern im Einklang mit den in der UN Kinderrechtskonvention enthaltenen Grundsätzen (Art. 20 i.V.m. Art. 22) „[…]derselbe Schutz zu gewähren [ist] wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist,“ sondern auch dem klaren Gesetzeswortlaut des SGB VIII. Die Alterseinschätzung ist dabei immanenter Teil der jugendhilferechtlichen Zuständigkeit (§ 42f SGB VIII). Vergegenwärtigt man sich die prekären Situationen, die herrschten, als allein flüchtende 16- und 17-Jährige ohne ausreichende pädagogische Versorgung in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und weitgehend sich selbst überlassen wurden, so ist klar, warum die aktuelle Gesetzeslage nicht nur rechtlich konsequent, sondern richtig und wichtig ist.
Fazit: Die Geschichte wiederholt sich – alter Wein in neuen Schläuchen
Es ist also nicht verwunderlich, dass die niedersächsischen Ausreisezentren schließlich wieder aufgegeben wurden. Auch andere Vorläufer der Ankerzentren wie die sog. Bayernkaserne wurden schließlich wieder abgeschafft, nachdem es dort zu erschütternden Ereignissen kam. Dazu zählt beispielsweise der Hungerstreik von 20 Jugendlichen im Jahr 2012, um auf ihre dortige Situation aufmerksam zu machen. Wir waren also schon einmal weiter!
Der Anker ist ein Symbol für Hoffnung und Treue. Die Ankerzenten dagegen vermitteln in erster Linie Hoffnungslosigkeit. Universelle Menschenrechte, subjektive Rechtspositionen, Menschenwürde und Kinderrechte werden dabei über Bord geworfen. Die Folgen dieser Entrechtung werden nicht nur die dort untergebrachten Menschen spüren, sondern letztlich auch wir als Gesellschaft – diese Entscheidung wird uns alle moralisch prägen.
Der Beitrag wäre m. E. erfreulicher, wenn er zwischen politischer Meinung und Gefühlen einerseits, wissenschaftlicher Bewertung andererseits differenzieren würde.
Man mag zu “Ankerzentren” stehen, wie man will; ich persönlich bin auch eher skeptisch, dass damit die gewünschten Ziele erreicht oder nicht um einen höheren anderen Preis erkauft werden.
Aber dass die Antragsteller und Antragstellerinnen dort “eng zusammengepfercht” werden, ist gegenwärtig doch wohl Unterstellung und für das Kernargument sachfremd. Oder wären Sie für Ankerzentren, wenn angemessener Wohnraum besteht? An dieser und anderen Passagen gehen m. E. daher die Argumente und Argumentationsebenen durcheinander.
Die Situation in diesen Lager war bereits früher oft, sehr kleine Räume mit 3 Doppelbetten ohne eigene Dusche, ohne eigene Kochmöglichkeit. Jetzt ist die Situation bereits von der geplanten Menge her noch prekärer. Nach Aussagen bayerischer Lagerleiter wird sogar darauf geachtet, dass es den Flüchtlingen nicht zu gut gehen soll.Es geht also gar nicht um die Ankerzentren als solche, sondern um die geplante Abschreckung. Rechtlich stellt sich deshalb vor allem die Frage: Ist es legal beim Asylrecht auf Abschrenkung zu setzen? Ich meine, nein. Es müssen Mindeststandards eingehalten werden (z.B. bezüglich Mindestwohnfläche).
Zum Kommentar v. 11.6.18: “eng zusammengepfercht” ist keine Unterstellung. Ich habe das Lager Bamberg besucht und verläßliche Auskünfte zu einem Lagerstandort in Ingolstadt, den wir leider nicht betreten durften; beides bestätigt genau diese Feststellung und noch einige Details mehr über die dort statt findende “erniedrigende Behandlung” (ein Kriterium der entsprechenden MR-Konventionen), als im Artikel von der Autorin zutreffend aufgeführt.
Nur ein kleiner Hinweis: Wir wird Ihnen der Zutritt untersagt, ist das auch ein Eingriff in Ihre Grundrechte. Ein privates Kontaktverbot lässt ist eigentlich nicht verfassungskonform, weil es Asylsuchende Straftätern gleichstellt. Nur die Lagerinsassen selbst können Kontakt ablehnen. Alles andere wäre Diskriminierung.
Die Security beruft sich hier auf ihr Hausrecht. Ich kenne es zwar nur aus den Lagern in Ingolstadt, aber hier dürfen nur die Geflüchteten selbst in die Lager.
Hilfsorganisationen, Freund*Innen und besonders Journalist*Innen bekommen sofort Hausverbot.