12 June 2018

Völkerrecht klar benennen: Deutschland im Sicherheitsrat und der Einsatz für die „regelbasierte internationale Ordnung”

Am Freitag ist Deutschland für eine zweijährige Amtsperiode in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt worden, die am 1. Januar 2019 beginnt. Nachdem Israel Anfang Mai überraschend seine Kandidatur zurückgezogen hatte, blieb eine Kampfabstimmung aus: Belgien und Deutschland waren die einzigen Kandidaten für die zwei zu vergebenden Sitze der Gruppe westeuropäischer und anderer Staaten und wurden in nur einem Wahlgang mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit der 193 Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gewählt. Deutschland, das sich traditionell alle acht Jahre um eine nichtständige Mitgliedschaft bewirbt, übernimmt damit zum sechsten Mal einen der zehn Sitze.

Wie wird Deutschland diese Amtszeit nun ausgestalten? In ihrer Kampagne hatte die Bundesregierung unter den vier Schlagwörtern „Frieden. Gerechtigkeit. Innovation. Partnerschaft.“ unter anderem für eine Stärkung der Völkerrechtsordnung geworben. In der offiziellen Kampagnenbroschüre heißt es: „Als global vernetztes Land setzen wir uns für eine regelbasierte Weltordnung ein, die von der Stärke des Rechts und nicht durch das Recht des Stärkeren geprägt ist.“ Die Herrschaft des Rechts als zentraler Eckpfeiler in einer „Welt aus den Fugen“: Hierfür steht die Bundesregierung nach eigener Aussage. Und auch im Koalitionsvertrag finden sich diese Worte wieder: „Die Vereinten Nationen sind das Fundament einer regelbasierten Internationalen Ordnung“. Der Ständige Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen war in einer öffentlichen Vorstellungsrunde sogar noch deutlicher: Die internationale Ordnung sei unter Beschuss und Deutschland werde alles daran setzen, diese Ordnung vor denen zu schützen, die sie missachteten. Damit ist ein zentraler Topos der deutschen Amtszeit benannt: Das Beharren auf Rechtsstaatlichkeit in einer Welt zunehmender Entrechtlichung.

Die These, dass wir heute in einer Welt leben, in der die als selbstverständlich anerkannt geglaubte internationale Ordnung allenthalben unter Beschuss ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Zu allgegenwärtig ist die Berichterstattung über den neuen völkerrechtlichen Sonderweg, den die USA unter anderem mit ihrem Rückzug aus dem Iran-Deal und dem Pariser Klimaabkommen beschritten haben; zu präsent der andauernde Konflikt in Syrien, in dem schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht an der Tagesordnung sind und dessen Befriedung nach dem erneuten Scheitern einer Sicherheitsratsresolution am Veto Russlands im letzten Monat in immer weitere Ferne rückt.

Gleichzeitig gilt aber auch: Wir leben in einer Zeit der zunehmenden Verrechtlichung. Noch nie gab es so viele internationale Rechtsregeln wie heute. Allein der Generalsekretär der Vereinten Nationen verwahrt über 560 multilaterale Verträge; über 55.000 völkerrechtliche Verträge sind bei der UN nach Art. 102 UN-Charta registriert (Stand März 2018). Dazu kommen eine Vielzahl von weit verzweigten Regimekomplexen aus völkergewohnheitsrechtlichen und sog. soft-law-Normen, die mehr oder weniger geschlossene Systeme bilden. Das Spektrum reicht von zahlreichen Abrüstungsabkommen und Menschenrechtsverträgen, dem internationalen Handelsrecht, dem Völkerstrafrecht und dem internationalen Umweltrecht bis zum Recht der zivilen Luftfahrt oder dem Weltraumrecht. Angesichts dieser Vielzahl sich überlappender und auch nicht immer widerspruchsfreier Teilrechtsregime diskutiert die Völkerrechtswissenschaft seit über einem Jahrzehnt die Frage, wie mit einer drohenden Fragmentierung des Völkerrechts umzugehen sei. Dabei ist der Ausgangspunkt nicht die Sorge, dass es gar kein Recht geben könne. Sondern es stellen sich vielmehr die Fragen: Welches Recht? Wie ist es auszulegen? Wie sind verschiedene Rechtsvorschriften miteinander in Einklang zu bringen? Unter welchen Voraussetzungen ist welche Rechtsregel anzuwenden? Wie kann die Anwendung des Völkerrechts gesichert werden? Und vor allem: Wer entscheidet, wann welche Rechtsregel zur Anwendung gelangt?

Als dezentral organisierter Struktur ist dem Völkerrecht die Figur des Letztentscheiders fremd. Es gibt keine hierarchisch geordnete Institutionenarchitektur. Deswegen sind alle Protagonisten des Völkerrechts relevant, wenn es um dessen Sicherung, Auslegung und Anwendung geht. Und diese Protagonisten sind, trotz der zunehmend wichtigen Rolle von internationalen Organisationen, internationalen Gerichten und anderer transnational agierender Akteure, nach wie vor in erster Linie Staaten. Die staatliche Rechtsauffassung spielt nicht nur als opinio iuris für die Fortentwicklung des Völkergewohnheitsrechts eine Rolle, sondern ist unabdingbar für jede „regelbasierte Ordnung“: Denn eine klar artikulierte Rechtsauffassung schafft Rechtssicherheit. Das gilt auf mindestens drei Ebenen: Erstens bedarf es zur Sicherung bereits erreichter Standards ihrer Bestätigung und Bekräftigung als geltendes Recht. Zweitens sind viele Regeln des Völkerrechts zu ihrer Anwendung auslegungsbedürftig – auch hierzu bedarf es klarer und begründeter Äußerungen. Und drittens ist die Durchsetzung des Völkerrechts in besonderem Maße darauf angewiesen, dass Rechtskonformität wie Rechtsverstöße klar benannt werden. Gerade weil es an einer geordneten Institutionenarchitektur fehlt, muss die Auslegung und Anwendung des Völkerrechts durch eine Vielzahl von Akteuren gesichert werden. Die deutliche Artikulation der eigenen Rechtsauffassung ist dafür zentral.

Die Bundesregierung hat es zuletzt nach den Luftangriffen auf Syrien versäumt, ihre Rechtsauffassung klar zu äußern oder einen Wunsch nach Rechtsänderung zu artikulieren. Darauf ist auf diesem Blog bereits hingewiesen worden. Man kann darüber streiten, ob das geltende Recht, nach dem die Luftangriffe nach nahezu einhelliger Auffassung rechtswidrig waren, geändert werden sollte. Aber diese rechtspolitische Diskussion kann nur dann geführt werden, wenn die eigenen Auffassungen zum geltenden Recht und zu gewünschten Rechtsveränderungen klar artikuliert sind. Politisch mag verständlich sein, dass die Bundesregierung nicht drei Bündnispartner mit der Benennung eines Rechtsverstoßes brüskieren wollte. Einer regelbasierten Ordnung, die auf Rechtsklarheit angewiesen ist, dient ein solches Verhalten aber nicht.

Fatalistisch könnte man einwenden: Warum sich die Mühe machen? Was nützt eine regelbasierte Ordnung, wenn sie von zentralen Mitspielern missachtet wird? Wenn Russland die Krim völkerrechtswidrig besetzt, wenn trotz entgegenstehender Rechtslage Luftangriffe geflogen werden? Sind dies nicht Anzeichen dafür, dass am Ende doch der Stärkere siegt, dass das Völkerrecht keine Rolle spielt? Freilich ist es utopisch, anzunehmen, dass sich die internationale (oder irgendeine) Rechtsordnung von faktischen Machtkonstellationen freimachen könne. Daraus folgt aber nicht, dass das Recht obsolet ist. Zentrale Akteure – Russland nach der Besetzung der Krim, das Vereinigte Königreich und Frankreich nach den Luftangriffen auf Syrien – haben das Recht in Stellung gebracht, um ihren Handlungen Legitimität zu verleihen. Dabei wird die Interpretationsbedürftigkeit des Rechts natürlich auch für die eigenen Zwecke genutzt. Aber zentrale Akteure stellen sich trotz ihrer faktischen Machtposition nicht außerhalb des Rechts. Und das ist bedeutsam: Das Völkerrecht hat ein Legitimierungspotenzial in seiner Eigenschaft als Recht und dient damit durchaus der Begrenzung von Handlungsspielräumen. Indem die Grenze zwischen Recht und Moral verwischt wird, wie es die letzten Aussagen der Bundesregierung getan haben, wird das Recht als unabhängiger Faktor in der internationalen Politik geschwächt. Auch das kann politisch gewollt sein, verträgt sich aber nicht mit dem gleichzeitigen Ruf nach einer stärkeren regelbasierten Ordnung. Die Bundesregierung scheint unter diesem Begriff vor allem bestimmte Themen in den Mittelpunkt stellen zu wollen: Frauen, Frieden und Sicherheit, Klimaschutz als Sicherheitsthema, Prävention, Kinder und bewaffneter Konflikt (hier hatte Deutschland bereits während seiner letzten Amtszeit im Sicherheitsrat den Vorsitz der entsprechenden Arbeitsgruppe übernommen) – in diesen Bereichen möchte sich die Bundesregierung einsetzen. Mindestens ebenso wichtig für die regelbasierte Ordnung ist aber die klare Artikulation der eigenen Rechtsauffassung als Recht in einem der sichtbarsten multilateralen Foren der Welt. Es bleibt zu hoffen und einzufordern, dass Deutschland sich zum Völkerrecht nicht nur klar bekennt, sondern es auch klar benennt.


4 Comments

  1. Dr.iur. Heinz Raschein Wed 13 Jun 2018 at 11:17 - Reply

    Was für ein verschwurbeltes Gefasel! Der schwerstdenkbare Völkerrechtsbruch, nämlich die wiederholte und fortgesetzte Führung von Angriffskriegen, heisst jetzt “Begehen eines völkerrechtlichen Sonderweges”. Und so etwas nennen Sie “Rechtsabhandlung”, Frau “Kollegin”! Diese Ausführungen sind mehr als flüssig.

  2. M. Mayer Wed 13 Jun 2018 at 17:37 - Reply

    Vielleicht sollte man besser Völkerpflichten, anstatt Völkerrechten aufstellen. Aber so oder so, was nützt es, wenn keiner da ist, der die Durchsetzung garantiert?

  3. Hannah Birkenkötter Wed 13 Jun 2018 at 17:42 - Reply

    Dass die Durchsetzung nicht durch eine zentrale Instanz garantiert wird, ist richtig. Das bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass es überhaupt keine Durchsetzung gibt. Vielmehr wird die Durchsetzung im Völkerrecht dezentral organisiert. Hierbei spielen Staaten eine wichtige Rolle; das ist eine Motivation dieses Beitrages. Ausführlich haben zB Oona Hathaway und Scott Shapiro die Durchsetzungsmechanismen im Völkerrecht behandelt, die sie als “outcasting” bezeichnen: https://www.yalelawjournal.org/pdf/1020_wm42x1t9.pdf

  4. Leser Thu 14 Jun 2018 at 12:04 - Reply

    Schöner Artikel, der erstens aufzeigt, welche Ziele die Regierung zu verfolgen angibt, und zweitens, dass sie aufpassen muss, sich dabei nicht unglaubwürdig zu machen, wie es die Billigung der völkerrechtswidrigen Angriffe auf Syrien zu bewirken droht.

    Beim “völkerrechtlichen Sonderweg” musste ich wegen Ephemismusverdachts auch schlucken, aber was damit gemeint ist, wird später ja noch deutlich genug ergänzt.

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