Die Verfassungswidrigkeit der bayerischen Polizeigesetzgebung aus der Sicht Studierender – ein Heilungsversuch in der Law Clinic
Von umfangreichem Protest und Medienberichterstattung begleitet, verabschiedete der bayerische Landtag am 15. Mai 2018 das Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts. Diese Neuordnung jedoch wurde dadurch lediglich vervollständigt. Ihr Ursprung liegt im Jahr 2017. Vom politischen Diskurs und Medienöffentlichkeit weitestgehend unbeachtet, beschloss der bayerische Gesetzgeber am 19. Juli 2017 das Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen – und bereits damit die Einführung der drohenden Gefahr und die Präventivgewahrsamsausweitung. Dagegen reichten Studierende der Rechtswissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre Dozenten und Dozentin Popularklage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH) ein. Ich bin Teil dieser Gruppe. Dem vorausgegangen war ein Seminar zum bayerischen Polizeiaufgabengesetz (bayPAG) an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, München und Würzburg. Initiiert und begleitet wurde das Projekt von Isabel Feichtner, Markus Krajewski und Martin Heidebach. Unterstützt wurden wir von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) – finanziell sowie fachlich durch die Mitarbeit von Mathias Hong.
Vom Seminarraum zum Verfassungsgerichtshof
Mit unserer Klage rügen wir unter anderem, dass die Eingriffsbefugnis bei drohender Gefahr (Art. 11 Abs. 3 bayPAG), der Präventivgewahrsam (Art. 17 Abs. 1 Nr. 3–5 bayPAG i. V. m. Art. 20 Nr. 3 bayPAG) sowie die anlasslose Identitätsfeststellung in Asylbewerberunterkünften (Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) bayPAG) verfassungswidrig sind.
Abstrakte Gefahr, konkrete Gefahr – drohende Gefahr?
Besonders deutlich wird die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes am Begriff der drohenden Gefahr des Art. 11 Abs. 3 S. 1 bayPAG. Diese Ausweitung der Generalklausel wird den Anforderungen der Bestimmtheit polizeilicher Eingriffsbefugnisse des BVerfG und des BayVerfGH nicht gerecht. Nach deren Rechtsprechung ist eine Norm ausreichend bestimmt, wenn sich aus Wortlaut, Zweck und Zusammenhang objektive Kriterien gewinnen lassen, die Behördenhandeln vorhersehbar machen und Willkür ausschließen. Der Gesetzgeber kann unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden, wenn sie durch Auslegung bestimmbar sind.
Mit der drohenden Gefahr hat der Gesetzgeber eine neue Gefahrenkategorie geschaffen. Das Polizeirecht unterscheidet grundsätzlich zwischen konkreter und abstrakter Gefahr. Eine konkrete Gefahr besteht, wenn bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentlichen Sicherheit und Ordnung eintreten wird. Demgegenüber liegt eine abstrakte Gefahr vor, wenn eine generell‑abstrakte Betrachtung für bestimmte denkbare Verhaltensweisen oder Zustände zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden eintreten wird. Der konkreten und abstrakten Gefahr gemeinsam ist der Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit bei Annahme eines bestimmten Schadensereignisses. Sie unterscheiden sich in der zugrundeliegenden Betrachtungsweise: Bei der abstrakten Gefahr wird von einem Wissenshorizont aus generellen, typisierten Betrachtungen auf die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Rechtsgutsbedrohung geschlossen. Bei der konkreten Gefahr wird von einem Wissenshorizont bestehend aus Einzelfallumständen auf die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Rechtsgutsbedrohung geschlossen.
Dieser einzelfallbezogene Wissenshorizont liegt auch der neuen Kategorie der drohenden Gefahr zugrunde, und zwar beiden Tatbestandsvarianten: Nummer 1 stellt dabei auf das individuelle Verhalten einer Person ab. Nummer 2 begrenzt diesen Wissenshorizont auf Vorbereitungshandlungen mit bestimmten Tatsachen. Der maßgebliche Unterschied liegt im zu prognostizierenden Geschehen. Nummer 2 fordert die Vorhersage „ein[es] seiner Art nach konkretisierte[n] Geschehen[s]“. Das lässt sich umschreiben mit einem kategorisierbaren Geschehen. In Betracht kämen Kategorien wie Terroranschlag oder Amoklauf. Während bisher eine hinreichende Wahrscheinlichkeit gefordert wurde, lässt Nr. 2 den bloßen Schluss ausreichen. Ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ergibt sich unter anderem aus dem Wissenshorizont „Vorbereitungshandlungen“: Zur Qualifizierung einer Handlung als Vorbereitung, ist Kenntnis des Geschehens erforderlich, auf das die Person sich vorbereitet. Doch gerade das muss für Art. 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 bayPAG nicht genau bekannt sein. Widersprüchlich ist, dass von Vorbereitungshandlungen, bei denen unbekannt ist, wofür sie vorbereiten, dann wiederum doch auf das Vorbereitungsziel geschlossen werden soll.
Nach Nr. 1 besteht eine Eingriffsbefugnis, wenn individuelles Verhalten die konkrete Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsverletzung begründet. Exemplarisch führt die Gesetzesbegründung (S. 9 f.) den Fall einer Person auf, die aus einem terroristischen Ausbildungslager zurückkehrt. Als Beispiel einer neuen Gefahrenkategorie im Landespolizeirecht ist das ungeeignet. Denn in dieser Person besteht bereits wegen des Verstoßes gegen § 89a Abs. 1 Nr. 1 StGB eine konkrete Gefahr. Eine bloße Wiedergabe der konkreten Gefahr jedoch ließe sich mit Systematik und Normzweck nicht vereinen. Die angestrebte Befugnisausweitung würde so gerade nicht erreicht. Josef Franz Lindners Ansicht, dass „die drohende Gefahr nichts anderes als eine im Hinblick auf das Wahrscheinlichkeitsurteil abgestufte konkrete Gefahr“ ist, ist vor diesem systematischen Hintergrunds nicht nachvollziehbar (so im Ergebnis auch: Markus Möstl). Bei konsequenter Auslegung erfordert Nr. 1 gar keine Kenntnis des zu prognostizierenden Geschehens. „Gesucht ist nicht ein Schaden, sondern ein Störer“ (siehe auch: hier). Das ermächtigt die bayerische Polizei, wegen eines aus subjektiver Perspektive gefährlichen Verhaltens maximal intensive Grundrechtseingriffe durchzuführen. Inwiefern das Verhalten gefährlich ist, muss dabei nicht bekannt sein. Für Betroffene ist es so nicht möglich, ein Verhalten der bayerischen Polizei ansatzweise vorherzusagen.
Damit ist die Norm zugleich unverhältnismäßig, denn Regelungen, die nicht dem Bestimmtheitsgebot entsprechen, können nicht verhältnismäßig sein; der unbestimmt weite Anwendungsbereich ermächtigt zu unangemessenen Grundrechtseingriffen.
Nach einer verbreiteten Argumentation (hier und hier) kann der Begriff der drohenden Gefahr nicht verfassungswidrig sein, da er doch vom BVerfG selbst stammt, formuliert in seinem Urteil zum BKAG. Das Gericht hat den Anwendungsbereich der drohenden Gefahr jedoch allein auf die Terrorismusabwehr bezogen (Markus Löffelmann BayVBl 2018, S. 147 ff., hier, a. A.: hier). Im bayPAG fehlt diese Beschränkung hingegen. Weiter hat das BVerfG im Falle einer drohenden Gefahr lediglich Gefahraufklärungsmaßnahmen und keine in den Kausalverlauf eingreifenden Maßnahmen erlaubt (hier, hier und hier). Auch diese Einschränkung findet sich im bayPAG nicht. Zudem wird im Gesamtkontext des Urteils deutlich, dass das BVerfG im Regelfall eine konkrete Gefahr für erforderlich hält. Nur in Ausnahmefällen kann ein Eingreifen aufgrund drohender Gefahr verfassungsgemäß sein. Dieses Regel‑Ausnahme‑Verhältnis gibt es im bayPAG hingegen nicht. Die Ausgestaltung der drohenden Gefahr als Generalklausel und Verortung in vielen Standardmaßnahmen führt vielmehr zur gegenteiligen Wirkung.
Für immer gefährlich? – Die unendliche Präventivhaft
Auch die Neuregelung des Präventivgewahrsams ist verfassungswidrig, denn sie greift in unbestimmter und unverhältnismäßiger Weise in das das Grundrecht der körperlichen Freiheit ein. Eine Ingewahrsamnahme war zuvor nach Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 bayPAG nur möglich, wenn ein Verstoß gegen die Rechtsordnung durch eine bestimmte Person unmittelbar bevorstand. Dieses Unmittelbarkeitserfordernis entfällt nach dem neuem Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 bayPAG. Voraussetzung ist nunmehr, dass eine konkrete Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut i. S. d. Art. 11 Abs. 3 S. 2 Nr. 1–3, 5 bayPAG besteht. Eine Gefahrenprognose für einen unbestimmten Zeitraum ist aber unmöglich, sodass einem entsprechenden polizeilichen Handeln die Vorhersehbarkeit fehlt.
Unverhältnismäßig ist die Regelung auch wegen der potentiell unbegrenzten Gewahrsamsdauer nach Art. 20 Nr. 3 bayPAG. Das BVerfG hat an eine unbegrenzte Haftdauer hohe Anforderungen gestellt: So ist insbesondere eine Anlasstat erforderlich. Zusätzlich sind nach dem BayVerfGH bei einer längerfristigen Freiheitsentziehung die Regelung von Wiedereingliederungsmaßnahmen, wie Arbeits‑ und Therapieangeboten, notwendig. Beides fehlt im bayPAG.
Dass ein unbegrenzter Präventivgewahrsam aufgrund drohender Gefahr unverhältnismäßig wäre, erkannte der Gesetzgeber und entfernte die drohende Gefahr an dieser Stelle aus dem Gesetzesentwurf. Doch Präventivgewahrsam aufgrund drohender Gefahr bleibt indirekt möglich, denn nach dem Gesetz kann zur Durchsetzung von Aufenthaltsver- und ‑geboten sowie zur Elektronischen Aufenthaltsüberwachung Präventivgewahrsam angeordnet werden (Art. 17 Abs. 1 Nr. 4, 5 bayPAG i. V. m. Art. 16 Abs. 2 bzw. Art. 32a bayPAG). Solche Maßnahmen können bereits aufgrund drohender Gefahr durchgeführt werden.
Kein Anlass zu anlasslosen Identitätsfeststellungen in Asylbewerberunterkünften
Anlasslose Identitätsfeststellungen in Asylbewerberunterkünften verletzen schließlich das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Bereits die Geeignetheit solcher Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ist zu verneinen. Zweck ist die Abwehr abstrakter Gefahrenlagen, bei Asylbewerberunterkünften insbesondere die Verhinderung grenzüberschreitender Kriminalität, Schleuserwesen sowie Leistungsbetrug. Meist müssen Bewohnerinnen und Bewohner bereits beim Betreten der Unterkünfte einen Ausweis vorzeigen. Die zusätzliche Kontrolle im Rahmen einer polizeilichen Maßnahme kann zu keiner höheren Erfolgsquote führen. Darüber hinaus ist der allgemeine Gleichheitsgrundsatz verletzt. Bewohner und Bewohnerinnen von Asylbewerberunterkünften werden durch verdachtsunabhängige Kontrollen im Vergleich zu anderen Personen an anderen Wohnorten diskriminiert. Da diese Kontrollen ungeeignet sind, den angestrebten Zweck zu erzielen, kann die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden.
Studierende vor Gericht – ein Konzept für die Zukunft?
Das Projekt war als Ausbildungskonzept gedacht und als solches auch sehr gelungen. Projekte dieser Art können eine bereichernde Ergänzung zum Kernstudium darstellen. Wenige der Studierenden hatten je einen Schriftsatz gelesen oder gar an der Erstellung einer Klage mitgearbeitet. Mangels Literatur zum Reformgesetz mussten wir die rechtlichen Fragestellungen selbstständig entwickeln und ihnen nachgehen. Besonders erfrischend war es, sich nicht nur eigene Gedanken zu machen, sondern sie auch lohnend einbringen zu können – anstatt (nur) Meinungen aus Lehrbüchern auswendig zu lernen. Zielführend und motivierend war auch, dass wir mit der Dozentin und den Dozenten auf Augenhöhe zusammenarbeiten und diskutieren konnten.
Wozu das alles?
Verfassungsbeschwerden sind kein Selbstzweck. Der potentiellen Wirkung und der damit einhergehenden Verantwortung solcher Klagen sollte sich ein Kläger, eine Klägerin stets bewusst sein. Und das insbesondere bei der bayerischen Popularklage: Indem sie keine Geltendmachung eigener Grundrechtsverletzungen erfordert und gebührenfrei ist, setzt sie Vertrauen in die Bevölkerung. Wir haben ausführlich darüber diskutiert, wie wahrscheinlich es ist, dass unsere Klage Erfolg hat und was Erfolg überhaupt bedeutet. Dabei stand aus meiner Sicht nie eine politische Motivation im Raum. Ziel ist einzig die Wahrung der Verfassung. Dementsprechend wäre es auch ein Erfolg, würde der BayVerfGH die drohende Gefahr (nur) so weit einschränken, dass sie wieder verfassungsgemäß wäre.
Die Initiatorin und die Initiatoren nannten das Projekt der Popularklage-Erstellung „Law Clinic“. Ein Begriff, der eigentlich unentgeltliche studentische Rechtsberatung bezeichnet. Wegen des pathologischen Zustands des bayPAG ist der Begriff aber nicht weniger bezeichnend.
Wie kann ein Beispiel aussehen, in welchem die Gesetzesänderung konkret klar zu rechtswidrigen Ergebnissen führt?
Die Argumentation im Beitrag muss noch nicht voll überzeugen. Die Polizei kann weiter stets Verhältnismäßigkeitsanprüchen unterfallen. Viele Einschränkungen, welche nun weniger gelten sollen, können damit grundsätzlich weiter fortbetehen. Es können u.U. tabestandliche Eingriffsmöglichkeiten erweitert sein, ohne zwingend rechtswidrig belasten zu müssen. Geschützt sein sollen grundsätzlich Unschuldige. Es müssten danach eventuell Beispiele möglich sein, in welchen nach dem Gesetz Belastungen für Unschuldige in rechtswidriger Weise zwingend folgen müssten. Damit das Gesetz schlicht rechtswidrig ist, müssten solche Fälle zudem eher einige Erheblichkeit aufweisen und nicht nur von geringer Bedeutung sein. Insofern sollten derartige Beispiele eher leicht möglich sein.
@Peter Camenzid
Danke für die Anmerkung. Da nach unserer Auffassung die Eingriffsbefugnis der drohenden Gefahr verfassungswidrig ist, sind auch alle Eingriffe, die aufgrund der drohenden Gefahr erfolgen, nicht verfassungsgemäß.
Solche Eingriffe können nicht verhältnismäßig sein. Weil, wie erläutert, nicht bestimmbare Rechtsbegriffe zu unverhältnismäßigen Eingriffsbefugnissen führen.
Zum Thema „drohende Gefahr“: Das BVerfG hat in der BKA-Gesetzgebung folgendes geurteilt:
„Der Gesetzgeber ist von Verfassungswegen aber nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche mit dem Ziel schon der Straftatenverhütung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert.“ (Rn. 112)
Das autorisiert ausdrücklich, vom „tradierten sicherheitsrechtlichen Modell“ abrücken zu können. Insofern scheinen die Bayern auf der sicheren Seite.
Die Behauptung, dies gelte nur für „terroristische Angriffe“, kann ich nicht nachvollziehen. Die BVerfRichter hatten die ganz Bandbreite der BKA-Aufgaben im Blick.