04 July 2018

Die Fiktion der Nichteinreise ist ein Instrument der Entrechtung

Die Fiktion der Nichteinreise klingt ein bisschen verrückt – aber können wir uns alle daran gewöhnen, nachdem wir uns einmal kräftig gewundert haben? Nein, wir dürfen uns nicht mit Fiktionen abfinden, die Rechte aushebeln. Das Recht kennt verschiedene Fiktionen, aber sie dienen der Wahrung von Rechten. Wenn wir Fiktionen akzeptieren, die Rechte umgehen, befinden wir uns im düstersten Gruselkabinett des rechtlichen Unrechts.

Unser Verständnis von Recht in der Moderne hat zwei Grundelemente: Das erste Element ist universalistisch, es ist die gleiche Freiheit von Menschen. Modernes Recht geht vom Individuum aus, Individuen in ihrem Zusammenwirken sind die Akteure des Rechts und zugleich ist ihr Wohlergehen sein Zweck. Deshalb Demokratie, deshalb Rechtsstaat, deshalb Grundrechte. Das zweite Element ist die territoriale Rahmung von Recht und politischer Gemeinschaft. Das Territorium ist Referenzpunkt von Bürgerschaft, es begrenzt die Ausübung von Hoheitsgewalt und es ist, damit unmittelbar einhergehend, der Raum, auf welchem der Staat Grundrechte garantiert. Auf dem Territorium darf der Staat Hoheitsgewalt ausüben, aber er ist dabei an Grundrechte gebunden.

Das Zusammenspiel von universalistischen Grundprinzipien und territorialer Begrenzung ist als solches komplex, diese Komplexität zeigt sich gerade im Fall von Flüchtlingen (dazu ausführlich hier). Wo genau die Bindung an Grundrechte beginnt, wird in der Wissenschaft und vor Gerichten diskutiert. Aber dass Grundrechte jedenfalls immer auf dem Territorium gelten, ist unbestritten, es ist Grundlage des Rechtsstaats. Wenn diese Grundübereinkunft in Frage gestellt wird, dann gefährdet das nicht weniger als Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz überhaupt – von uns allen.

Hier sind wir also bei der Fiktion der Nichteinreise. Sie fingiert, dass eine Person rechtlich betrachtet abwesend ist, wo sie tatsächlich betrachtet anwesend ist. Der Mensch wird ohne Zweifel Objekt der Ausübung von Hoheitsgewalt – indem er zunächst eingesperrt wird, seine Fingerabdrücke geprüft werden, er zwangsweise an einen anderen Ort gebracht wird. Aber für die Frage der Geltung von schützenden Rechten wird behauptet, dass der Mensch noch gar nicht da ist: Die Dublin-Verordnung schützt Individuen, indem sie Zuständigkeiten regelt und ein Verfahren garantiert. Aber sie soll nicht gelten, weil Rechtsschutz dem Staat in diesem Fall zu aufwendig erscheint. Man hat sich einmal darauf geeinigt aus guten Gründen, aber nun soll dieser Schutz nicht mehr gelten – und statt dass über veränderte Gründe oder notwendige Reformen politisch diskutiert und europäisch verhandelt wird, fingiert man eben eine Nichteinreise.

Die Fiktion der Nichteinreise ist ein Instrument der Entrechtung und sie ist damit gänzlich verschieden von anderen Fiktionen, die das Recht kennt und die gerade der Absicherung von Rechtspositionen dienen. (Bekanntes Beispiel: Ein ungeborenes Kind gilt im Erbrecht als bereits geboren, wenn es gezeugt war.)

Das Grundgesetz stellt vor und über alle weiteren Regeln die Würde des Menschen – es ist die Bekräftigung der universalistischen Grundlage modernen Rechts, und es ist der Versuch in eine Formel zu fassen, dass nicht passieren darf, was im nationalsozialistischen Deutschland passierte: Dass in detaillierten formalrechtlichen Konstruktionen Menschen ihrer Rechte beraubt werden. Dass juristisch penibel begleitet der größte Schrecken vonstatten geht, ohne dass im Namen des Rechts Einwände erhoben würden. Konstrukte wie die Fiktion der Nichteinreise erinnern an diese geregelte Entrechtung. Sie sind im Einzelnen europarechtlich und völkerrechtlich angreifbar, weil wir heute eine stärkere Einbettung in überstaatliche Rechtsgarantien haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dürfte von der Fiktion der Nichtanwesenheit von Personen wenig beeindruckt sein und Rechtsverletzungen gegebenenfalls rügen, über das Verbot der willkürlichen Inhaftierung, das Verbot der Kollektivausweisung, das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Aber diese Rügen können immer nur im Nachhinein die Verletzung von Rechten feststellen – derartig offensichtlich widerrechtliche Konstrukte erfordern Widerstand hier und jetzt. Für den Schutz von Asylsuchenden und für die Bewahrung von Grundrechtsgarantien überhaupt.


30 Comments

  1. Roman Wed 4 Jul 2018 at 12:21 - Reply

    Ich empfinde den Beitrag mehr als einen politischen, philosophischen und moralischen denn als einen rechtlichen. In diesem Licht sollte bitte auch mein Kommentar gesehen werden.
    Recht fingiert immer. Das hört nicht beim Trennungs- und Abstraktionsprinzip auf. Der Anknüpfungspunkt für eine “Einreise”, der auf physische Präsenz einer Person abstellt, ist naheliegend, aber mitnichten der einzig zulässige.
    Zudem ist der (moralische) Knackpunkt der Flüchtlingspolitik doch auch gerade der theoretische Anspruch auf Universalismus der Grundrechte. Das sieht auf dem Papier schön aus, dürfte aber vielleicht nicht das zweckmäßigste (oder gerechteste) sein.
    Warum soll ein Flüchtling, der es geschafft hat einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen, in den Genuss all dieser großen und wohlklingenden Grundrechte kommen, während die Flüchtlingsfamilie im Kongo einfach gar keine hat. Entspricht das noch dem letztlich immer übergeordneten Ziel – der Herstellung von Gerechtigkeit?

    • Sabine Wed 4 Jul 2018 at 18:15 - Reply

      Roman, Sie meinen, weil es der Flüchtlingsfamilien im Kongo schlecht geht, darf es dem Flüchtling, der es nach Deutschland geschafft hat, auch nicht gut gehen?

      • Roman Wed 4 Jul 2018 at 18:27 - Reply

        Das habe ich nicht gesagt! Ich möchte sogar, dass es beiden gut geht. Ich meinte nur, wenn es allein um die übergeordnete, die ‘göttliche’ Gerechtigkeit (fernab solch Abstraktionen, wie sie dem Recht inne wohnen) geht, dann könnte die Anknüpfung an Grenzen und andere territoriale Gesichtspunkte zur Geltendmachung eines universalen Rechtes für sehr albern gehalten werden. Da stellt sich dann die Frage, warum daran so krampfhaft festzuhalten ist? (Wie gesagt, keine rechtlichen Ausführungen).

    • Peter Camenzind Wed 4 Jul 2018 at 23:41 - Reply

      Die Frage wäre, wieso in Deutschland überhaupt ein Recht, wie deutsches Recht und ein Recht auf Meinungsfreiheit, gelten soll und anderswo etwa in Afrika etc. nicht?
      Universelles im Recht bei ungleicher Umsetzung aus Gerechtigkeit zu kritisieren, kann entgegenstehen, dass Recht grundsätzlich keine Gleichheit im Unrecht anerkennt. Sonst könnte universell folgen, dass Recht nirgends gilt.

    • Anton Mon 9 Jul 2018 at 17:14 - Reply

      Kommentar ist etwas daneben: Oder meinen Sie ernsthaft wir sollten unser Rechtsystem an das des Kongo anpassen? Und der Wunsch bestimmte Menschen vom Recht eibfach ausschließen, hat nicht nur in Deutschland einen bitteren Vorgeschmack.

  2. Dana Schmalz Wed 4 Jul 2018 at 12:42 - Reply

    Ja, im Lichte des Universalismus mag die territoriale Begrenzung von Schutzansprüchen und Rechtsgarantien teilweise willkürlich erscheinen. Das ist die Spannung, in dem der moderne Staat steht. Aber wenn wir sogar auf dem Territorium aufhören, Grundrechte in Gleichheit zu garantieren, ist das kein Schritt zu mehr Gerechtigkeit sondern ein Schritt weg davon – weg von Gerechtigkeit, von Rechtsstaatlichkeit, von jeder Rechtssicherheit, denn woher wissen wir, was als nächstes wegfingiert wird?

    • I. Vetter Wed 4 Jul 2018 at 13:13 - Reply

      Wo Grundrechte zu Fiktionen mit der Folge des Rechtsverlusts werden, wird den Grundrechten ihre unmittelbare Rechtswirkung entzogen mit der Folge der Suspendierung der Rechtsbindung der staatlichen Gewalten.

      Damit aufgehoben ist demnach Art. 1 Abs. 3 GG entgegen der Verfügung des Grundgesetzes auf a) die ausschließlich wörtliche Änderung/Ergänzung des Grundgesetzes gemäß Art. 79 Abs. 1 GG und b) die Unabänderlichkeit auch dieses o.a. Grundsatzes gemäß Art. 79 Abs. 3 GG.

      Aber verkündete Rainer Brüderle nicht bereits im Jahre des Herrn 2012 anlässlich der Abstimmung über den ESM-Vertrag öffentlich den wahren Wesensgehalt der inneren Verfasstheit unserer Republik?

      »Wir betreten auch verfassungsrechtliches Neuland. Wir ändern keinen Grundgesetzartikel, aber wir ändern die innere Verfasstheit unserer Republik. Manche sprechen von einer stillen Verfassungsänderung.« Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – Sten. Ber. 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012, S. 22707 (D)

      … manche sprechen auch von offenem Hochverrat.

      • I. Vetter Wed 4 Jul 2018 at 13:22 - Reply

        Dazu wusste auch der damalige Bundesinnenminister Dr. Gustav Heinemann auf der 89. Kabinettssitzung vom 11. August 1950 folgendes aus der Länderinnenministerkonferenz zu berichten:

        »Es sei einmütig erklärt worden, dass bei unveränderter Aufrechterhaltung der im Grundgesetz verankerten Grundrechte durchgreifende Maßnahmen nicht getroffen werden können. Es müsse deshalb eine Änderung des Grundgesetzes in Erwägung gezogen werden.«

        Wir sehen, das Fiktionale am Grundgesetz wurde bereits von Anfang an zwangsexekutiert.

        Müssen wir uns angesichts dessen wirklich wundern, dass der Grundrechtsträger beim Anblick des Grundgesetz müde abwinkt?

  3. Bernd Wed 4 Jul 2018 at 14:10 - Reply

    IMHO ist es ein Problem, dass unsere offizielle Moral und die gelebte immer weiter auseinander gehen. So ein Widerspruch lässt sich auch einige Zeit überbrücken. Wir geben das Versprechen aus: Jeder Mensch auf der Welt darf zu uns kommen und wir werden seinen Antrag auf Asyl rechtsstaatlich prüfen. Das kostet sehr viele Ressourcen. Die erste einfache Maßnahme dagegen war, dass wir den möglichen Migranten keine legalen Weg mehr geben zu uns zu reisen. Ein VISA zu erhalten ist für die möglichen Antragsteller praktisch unmöglich. Dies Maßnahme ist auf dem ersten Blick sehr billig, sie bremste deutlich die Anzahl der Antragsteller. Als Folge daraus entwickelt sich das Schlepper Gewerbe, mit am Ende vielen Toten. Die Zentren sind am Ende eine abgemilderte Art von Gefängnissen. Es wird von dort sehr unschöne Fernsehbilder geben, z.B. brennende Baracken oder sie werden einem Gefängnis sehr ähnlich sehen. Am Ende müssen wir (unsere Gesellschaft) uns entscheiden, ob das Leben in DE/Europa den Leben in Arabien/Afrika ähnlich werden soll. Sind wir bereit substantiell zu Teilen? Oder, müssen wir uns von unserer schönen offiziellen Moral verabschieden. Unredlich ist es, die Alternativen nicht zu benennen.

  4. KurtBehemoth Wed 4 Jul 2018 at 14:32 - Reply

    Kann man das Problem nicht etwas sachlicher und nüchterner angehen? Es geht doch lediglich um die Bestimmung des zuständigen Staates für das Asylverfahren. Sollte diese Klärung nicht möglichst rasch und abschließend erfolgen – im Interesse aller? Und: Bei Zuständigkeitsentscheidungen bereits von Grundrechtsverletzungen, Menschenwürde und Nationalsozialismus zu sprechen – ist das nicht leicht übertrieben und werden diese Begriffe dadurch nicht entwertet?

    Es sollte in der Diskussion endlich auch einmal berücksichtigt werden, dass Flüchtlinge an der deutsch-österreichsichen Grenze sich in der Regel (vllt. nicht immer, aber doch in den meisten Fällen) eigenmächtig den Zuständigkeitsregeln entzogen haben, indem sie den für das Dublin-Verfahren zuständigen Staat verlassen haben.

  5. jansalterego Wed 4 Jul 2018 at 15:21 - Reply

    Die Zuständigkeitsentscheidung selbst wird ja gar nicht mit “Grundrechtsverletzungen, Menschenwürde und Nationalsozialismus” in Verbindung gebracht. Es gibt aber rechtsstaatliche Wege zu dieser Entscheidung zu gelangen und Wege, die eine weitere Erosion des Rechtsstaats bedeuten, das muss man auch ganz nüchtern betrachtet einsehen.

    Die Geschwindigkeit der Zuständigkeitsentscheidung ist komplett nachrangig – rechtsförmig muss sie sein. Wenn man das nicht will, sondern vielmehr grundlegende Verfassungskonzepte preisgibt, um es gerade zu vermeiden, dann kann man in der Kritik auch schon mal grundsätzlicher werden und die sich aufdrängenden Parallelen ziehen.

    Die eigenmächtige Entziehung der Zuständigkeitsregeln des Dublin-Systems ist auch eine Fiktion – denn ohne Prüfung (inkl. rechtlichem Gehör) kann man das nicht wissen. Bitte diesbezüglich nicht vergessen, dass es zur Grundregel der Zuständigkeit eine ganze Reihe von vorrangigen Ausnahmen gibt.

  6. jansalterego Wed 4 Jul 2018 at 15:23 - Reply

    Sorry, der zweite Absatz ist uneindeutig: Klarer: Wenn Teile der Regierung das nicht wollen, […] dann kann man,

  7. Holly01 Wed 4 Jul 2018 at 16:25 - Reply

    Wie kann ein Themenblog, Inhalte wie Persönlichkeitsrechte, Rechtsgebiet, Gerechtigkeit, Moral, Ethik und politischen Wunsch (eines Zustands) so vermischen?
    Die Einreise in ein Rechtsgebiet ist nicht schwierig, das ist rechtlich klar geregelt.
    Der Umstand der Einreise ist auch nicht das Thema (öffentlich).
    Das Thema lautet ist die Art der ZURÜCKWEISUNG.
    Die Unionsparteien streiten über die Art, wie man den Menschen sagt, dass Sie nicht erwünscht sind.
    Rechtsgrundlagen dafür gibt es. Die Frage ist die Durchführung.
    Es ist keine Fiktion.
    Die Fiktion ist die “Gerechtigkeit”. Die sollte sich daraus ergeben, das alle Menschen gleich behandelt werden.
    Werden sie natürlich nicht. Also gibt es keine Gerechtigkeit.
    Schengen vs Asylrecht ist aber eben nicht die Frage.

    • Holly01 Wed 4 Jul 2018 at 16:32 - Reply

      Nein, ich finde diese Pseudolösung der Union auch unsäglich und dumm und will die natürlich auch nicht unterstützen.
      Mit so einem Unsinn ist niemandem geholfen.
      Gepusht hat die Union nur die “EU” mit dem Frontex Aufbau.
      Die ganze “Krise” entpuppt sich sowieso mehr und mehr als Krücke, um der EU Strukturen für Grenzverteidigung und EU- Exekutive zu verschaffen.
      …. das gelingt ja auch ……

  8. Florian von Alemann Wed 4 Jul 2018 at 17:43 - Reply

    Ein kurzer Einwand zur Versachlichung der Debatte: Die so genannte Fiktion der Nichteinreise ist in bestimmten Fällen bereits seit langem geltendes Recht. Nach § 13 Abs. 2 Satz 2 Aufenthaltsgesetz liegt keine Einreise im Rechtssinne vor, wenn ein Ausländer an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle die Grenze zwar überschritten hat, aber die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden ihn vor der Entscheidung über eine Zurückweisung nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz oder während der Vorbereitung, Sicherung oder Durchführung dieser Maßnahme die Grenzübergangsstelle zu einem bestimmten vorübergehenden Zweck passieren lassen, solange ihnen eine Kontrolle des Aufenthalts des Ausländers möglich bleibt. Ein bloßer physischer Grenzübertritt stellt nur außerhalb zugelassener Grenzübergangsstellen unmittelbar eine Einreise im Rechtssinne dar. Die dürfte im Übrigen nicht durch Unionsrecht verdrängt werden, auch nicht durch die Vorschriften der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG). Das kann man richtig oder falsch finden, es ist aber keinesfalls eine neue Erfindung. Insofern würde ich dafür plädieren, die Debatte insgesamt etwas niedriger zu hängen.

  9. gastmeinung Wed 4 Jul 2018 at 20:55 - Reply

    Multiple Fiktionen sind doch andernorts gang und gäbe und werden dort als großer menschenrechtlicher Fortschritt gepriesen. Im AGG wird der Bewerber einem Arbeitnehmer gleichgestellt, obwohl er das noch nicht ist (§ 6 Abs. 1 AGG), die Ansprüche des diskriminieren Bewerbers zu vertraglichen umdefiniert, obwohl es gerade keinen Vertrag gibt (§ 7 Abs. 3 AGG) und schließlich im Wege einer Beweislastumkehr dem Stellenausschreiber ein Diskriminierungswille unterstellt (§ 22 AGG).

  10. Christian Borschberg Wed 4 Jul 2018 at 21:05 - Reply

    Tja, das Asylverfahren ist seit längerem vergemeischaftet also der Kompetenz der EU zugewiesen.
    Nationale oder auch bilaterale Regelungen zwischen Mitgliedstaaten die das nicht beachten sind schlicht rechtswidrig.
    Die sog. Einigung der CSU mit der CDU ist also ein Versuch EU Recht auszuhebeln. Das schwächt die EU und wird uns allen auf die Füße fallen.
    Aber genau das ist das Ziel der Regionalpartei CSU laut Söder. Die CDU gibt ihre Position auf.
    Auch das wird uns in Europa auf die Füße fallen.

  11. TaP Wed 4 Jul 2018 at 22:48 - Reply

    @ Dana Schmalz:

    Sie schreiben: „Wenn wir Fiktionen akzeptieren, die Rechte umgehen, befinden wir uns im düstersten Gruselkabinett des rechtlichen Unrechts.“

    Und Sie beziehen sich auf die Verfahrensrechte von Schutzsuchenden gem. Dublin III-Verordnung: „Die Dublin-Verordnung schützt Individuen, indem sie Zuständigkeiten regelt und ein Verfahren garantiert.“

    Wenn ich Sie richtig verstehe, lautet Ihr These, daß die jetzt beabsichtigte „Fiktion der Nichteinreise“ ein Fall der Umgehung von Rechten – nämlich der Verfahrensrechte aus der Dublin III-Verordnung – ist.

    Nun meine Frage:

    Würden Sie denn – auf der Grundlage der von Ihnen in Ihren bisherigen Artikeln zum Thema vertretenen Rechtsauffassung (daß die nicht unumstritten ist, ist mir klar) – sagen, daß die jetzt beabsichtige Fiktion überhaupt geeignet ist, die Rechte aus der Dublin III-Verordnung zu umgehen? Die Annahme, daß das die politische Absicht ist, würde ich schon teilen – mir scheint das nur ein von vornherein untauglicher Versuch zu sein.

    Denn in Kapitel VI, Abschnitt IV (Verfahrensgarantien) der Dublin III-Verordnung ist doch „Einreise“ gar nicht Tatbestandsvoraussetzung der fraglichen Rechtsfolge (Inhaberschaft der fraglichen Verfahrensgarantie).

    Vielmehr lautet der das fragliche Kapitel einleitende Art. 20 I: „Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.“

    Und Art. 21 I lautet dann: „Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, […], diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.“

    Und schon zuvor gibt Art. 3 I 1 eine Legaldefinition von „in einem Mitgliedstaat“: „Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt.“

    Das heißt m.E.: Wenn die deutsche Verwaltung oder der deutsche Gesetzgeber die Verfahrensrechte aus Kap. VI, Abschn. IV der Dublin III-Verordnung aushebeln will, reicht es doch schon im Grundansatz nicht, eine fiktive Definition von „Einreise“ vorzunehmen [*].

    Vielmehr müßte dann m.E. eine fiktive Definition von „an der Grenze“ und eine Klarstellung in Bezug auf „Transitzone“ vorgenommen werden – also z.B.:

    „Wer von der Grenze in ein Transitzentrum verbracht wird, befand sich auch vorher nicht ‚an der Grenze’ und befindet sich auch danach nicht im Inland [d.h.: „im Mitgliedstaat“ Bundesrepublik Deutschland]. Transitzentren außerhalb von Flughäfen sind keine Transitzonen (innerhalb von Flughäfen).“

    Auch dann wäre noch die – m.E. im zweiten Sinne zu beantwortende – Frage, ob dies mit dem EU-Recht vereinbar wäre oder nicht vielmehr der offensichtlich Versuch dem EU-Gesetzgeber das Wort im Munde umzudrehen – also die nationalstaatliche Anmaßung der Kompetenz, EU-Recht zu ändern.

    Daher meine Frage noch einmal anders gestellt:

    Läßt sich der am Montagabend vereinbarten politischen Absicht nicht juristisch auch ganz ohne das Pathos der – rechtsgeschichtlich (da den NS als „Positivismus“ mißverstehenden) und demokratie-theoretisch (da gerichtliches oder rechtsphilosphisches „Recht“ über parlamentarisches Gesetz stellenden) durchaus fragwürdigen – radbruchschen Formel entgegentreten?

    [*] Art. 21 II spricht sogar ausdrücklich den Fall, daß ein „Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, nachdem die Einreise oder der Verbleib verweigert wurde“, an: Auch dann muß der vermeintlich zuständige Mitgliedstaat erst um Aufnahme ersucht werden, und dann greifen die Verfahrensrechte aus Art. 26 ff.
    Das heißt doch: Die Dublin III-Verordnung setzt voraus, daß die Schutzsuchenden
    selbst dann, wenn ihnen im Sinne bestimmter juristischer Definitionen die „Einreise“ verweigert wurde, sie zunächst einmal in dem Staat, in den sie de jure ‚nicht eingereist’ sind, verbleiben – bis das Aufnahmeersuchen an einen anderen Mitgliedstaat Erfolg hat – mit dem einzigen Unterschied, daß der um Aufnahme ersuchte Staat in dem Fall schneller antworten muß (s.a. Art. 22 VI), als wenn auch im juristischen Sinne eine „Einreise“ vorliegt.

    • TaP Wed 4 Jul 2018 at 23:22 - Reply

      PS.:

      Wie die kursiv-Setzung am Anfang der FN entstanden ist, ist mir nicht klar; eigentlich sollten nur die Wörter “selbst dann” in kursiv erscheinen. –

      Auch ein Fall von “Fiktion” anscheinend. ;-)

    • Dana Schmalz Fri 6 Jul 2018 at 08:51 - Reply

      @TaP: Danke für die sehr gute Frage. Ich stimme völlig zu, dass die Dublin-Vorschriften rechtlich dennoch gelten. Zugleich scheint die Absicht der Fiktion der Nichteinreise ja zu sein, die als zu langwierig empfundene Prüfung der Zuständigkeit und die vorgesehenen Verfahren des Ersuchens um Rücknahme – einschließlich der bereits, und unabhängig von Fiktionen, bestehenden Möglichkeit von Verwaltungsabkommen – zu vermeiden. Wenn es lediglich um eine Inhaftierung/Beschränkung der Bewegungsfreiheit, wie immer man es nennen will, ginge, bräuchte man dafür keine Fiktion. Aber letztlich ist die Frage, was eigentlich die Vorstellung der CSU-CDU-Einigung ist, wie das rechtlich aussehen soll. Im „Asylkompromiss“ heißt es unter 2. und 3. einerseits, dass auf Grundlage der Fiktion der Nichteinreise Asylsuchende direkt zurückgewiesen werden, andererseits, dass dies in Abstimmung mit den entsprechenden anderen EU-Staaten und Österreich erfolgen soll. Das sind eigentlich zwei unterschiedliche Ansichten: direkte Zurückweisung, wie sie der erste Teil der Formulierung nennt, scheint auf Umgehung sonst geltender Vorgaben abzuzielen. Abstimmung, wie sie der zweite Teil nennt, auf keine Veränderung vom bislang Geltenden. Wenn wir es am Ende mit viel Gelärme um wenig Veränderungen zu tun haben, ist das ärgerlich – wichtig ist aber, dass die aus guten Gründen bestehenden Schutzvorschriften gewahrt bleiben. Ich spreche mich mit soviel Nachdruck gegen Konstrukte wie eine fingierte Nichteinreise aus, weil sie statt Gründe zu diskutieren die Tatsachen umdeuten, auf die wir uns beziehen. Darin sehe ich eine große Gefahr der Entrechtung durch die Hintertür, der es in den ersten Anfängen zu wehren gilt.

      • TaP Fri 6 Jul 2018 at 18:09 - Reply

        Ja, daß Fiktionen – in der politischen Diskussion und im Gesetzgebungsprozeß – eine gewiße Verschleierungswirkung haben können, stimme ich, zu.

        Aber trotzdem läuft es ja auf das Gleiche hinaus, egal, ob geschrieben wird:

        ++ „Wer nicht eingereist ist, {{… darf dieses oder jenes nicht machen // oder // ist verpflichtet, dieses oder jenes zu tun – oder was auch immer die Rechtsfolge sein soll}}. Als nicht eingereist gilt auch, wer von der Grenze in ein Transitzentrum (oder wie es nunmehr heißen soll: eine „polizeiliche Einrichtung für das Transitverfahren“) verbracht wird.“ (= Fiktion im zweiten Satz)

        oder ob geschrieben wird:

        ++ „Wer nicht eingereist ist oder aus Anlaß der Einreise in eine polizeiliche Einrichtung für das Transitverfahren verbracht wird, {{… muß dieses oder jenes tun oder unterlassen – oder was auch immer die Rechtsfolge sein}}.“ (= zwei sich ergänzende Tatbestandsmerkmale)

        Da beides das Gleiche aussagt, kann beides – abgesehen von der eingangs angesprochenen etwaigen Verschleierungswirkung – politisch genauso gut oder genauso schlecht kritisiert werden.

        Und eine juristische Kritik ergibt sich m.E. erst, wenn (bzw.: soweit, wie) mittels der Fiktion versucht wird, Gesetzgebungskompetenzen oder Normhierarchien zu umgehen und dadurch – und da stimme ich Ihnen dann wieder zu – Rechte abzuschaffen, die bei Einhaltung von Kompetenzen und Normhierarchien jedenfalls nicht so schnell oder nicht so einfach abgeschafft werden könnten.

        Um es zusammenzufassen: Ich würde also weniger die Kritik auf den Ausdruck oder Tatbestand „Fiktion“ als vielmehr auf die etwaige Umgehung von Gesetzgebungskompetenzen oder Normhierarchien (und politisch auf das Regelungsziel, das aber auch ohne Fiktion erreicht werden könnte) fokussieren.

        —–

        Mehr oder minder OFF-TOPIC:

        Ich hätte noch zwei andere (diesmal weniger rhetorische) Fragen (ich weiß, daß das hier keine Bildungsveranstaltung und kein Nachhilfeunterricht ist, aber vielleicht mögen Sie – oder jemand anderes – sie trotzdem beantworten).

        Ähnlich wie in Art. 3 I 1 Dublin III-VO ist ja auch in Art. 3 Aufnahme-Richtlinie von „an der Grenze“ die Rede:

        „Diese Richtlinie gilt für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen internationalen Schutz beantragen, solange sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen, sowie für ihre Familienangehörigen, wenn sie nach einzelstaatlichem Recht von diesem Antrag auf internationalen Schutz erfasst sind.“

        1. – eher nebenbei –: Was ist denn Ihres Erachtens (oder auch nach Ansicht der h.M.) das Verhältnis der beiden genannten Normen zueinander? Betrifft die VO die Binnen- und die Richtlinie die Außengrenzen / die VO die Sekundär- und die Richtlinie der Primärmigration? Oder wo liegt der Unterschied? Oder wäre gar nichts anders, wenn nur in einer der beiden Normen „an der Grenze“ stünde?

        und 2. – und vor allem –: Was ist denn eigentlich der Sinn bzw. die Rechtfertigung der Zäune in Ceuta und Melilla sowie überhaupt des ganzen ‚Außengrenzenschutzes’, wenn doch anscheinend der hehre Anspruch der EU ist, nicht nur Asylanträge zu bearbeiten, die diesseits der Grenze gestellt werden, sondern auch solche, die an der Grenze gestellt werden? (Ich hätte bisher gedacht, es geht gerade darum zu verhindern, daß die Leute hinter die Grenze gelangen und damit antragsberechtigt werden…)
        Geht es nach offizieller Logik dabei also ausschließlich darum, visalose Migration, die nicht mit Asylantrag verbunden ist, zu verhindern? Oder geht es sehr wohl auch offiziell darum, Asylantragstellung an den Außengrenze zu verhindern? Und falls das Letztere das offiziell verkündete Ziel ist, warum wurde dann nicht einfach schon längst die Asylantragstellung an den Außengrenzen abgeschafft?

        Oder ist Anspruch bzgl. Anträgen an den Grenzen eh schon gar nicht so hehr, wie es mir spontan erscheint und warum steht dann da aber trotzdem „an der Grenze“?

        • Dana Schmalz Mon 9 Jul 2018 at 18:04 - Reply

          @TaP: Meine Kritik ist rechtlich, weil es nicht lediglich um eine Frage der Gestaltung geht, bei der man mit Blick auf Folgen unterschiedliche Position haben kann. Sondern um den Hinweis, wie das Recht in seinem Anspruch Rechte zu garantieren auf dem Grundsatz von Territorialität basiert und weshalb daher die Einführung (wenn man möchte, mit Blick auf Flughafenverfahren: Ausweitung) von fiktiven nicht-territorialen Räumen eine sehr grundlegende Dimension für Rechtsgarantien hat. Das bedeutet nicht, dass diese fiktiven nicht-territorialen Räume rechtsfreie Räume sind – und eben auch nicht, dass sie es sein müssten, damit die Kritik wichtig ist. Dazu ließe sich noch lange diskutieren und das passt schwerlich hierher. Ganz einfach lässt sich fragen: Wenn das Konstrukt der fiktiven Nicht-Einreise keine Folge für die Rechtsstellung der Asylsuchenden hat, wozu braucht man es dann? Und wenn es um eine beabsichtigte und nach politischer Auffassung rechtfertigbare Rechtsbeschneidung geht, weshalb nennt man sie dann nicht einfach so, sondern arbeitet mit einer Fiktion? Ich hoffe, es wird nochmals klar, weshalb der Hinweis nicht lediglich politischer Natur (“finde ich falsch”) ist, sondern rechtlicher (“hier wird über die Richtigkeit des Rechts nicht wie vorgesehen in Verfahren diskutiert und es allenfalls geändert, sondern versucht, es mittels einer Fiktion zu umgehen” – ob juristisch erfolgreich oder nicht).

          Zu dem anderen Punkt sehr verkürzt: Ja, der Außengrenzschutz ist von diesem Grundwiderspruch geprägt. Dass “illegale Immigration” verhindert werden soll, aber natürlich Flüchtlinge fast ausschließlich ohne Visum kommen, und dass wer rechtlich gesehen ein Flüchtling ist, immer erst später feststeht. Ich habe hier auf dem Blog eine kurze Einschätzung zum Fall N.D. und N.T. geschrieben, der Fall spielt am Zaun von Melilla, er wurde letzte Woche dann vor der Großen Kammer des EGMR verhandelt. Vielleicht finden Sie da etwas. Ein wichtiger Punkt ist auch die de facto Beschränkung, welche MigrantInnen (Nationalitäten) zum inzwischen bestehenden Asylbüro an der Grenze Zugang haben. Es gibt sehr viel, was man zu den Details weiter lesen kann, beispielsweise “Accessing Asylum in Europe” von Violeta Moreno-Lax.

          Ich hoffe, das hilft weiter.
          Besten Gruß,
          Dana Schmalz

  12. Uwe Lancier Wed 4 Jul 2018 at 23:30 - Reply

    Im von mir grundsätzlich sehr positiv aufgenommenen Artikel ist ein Detail, das mich ratlos zurück lässt: Wie ist das mit dem #Rechtsstaat hier zu verstehen? Der Begriff besagt doch lediglich, dass die staatlichen Institutionen an das im Staat geltende Recht gebunden seind und keine Willkür erlaubt ist.
    Mit der Frage der Rechte von Individuen befasst sich das aber nicht. Durch das Geplärre von Populisten ist der Begriff aber zum Synonym vom Erhalt der Rechte des Staatswesens gegenüber einzelnen pervertiert. Wer diese Missinterpretation übernimmt unterstützt damit den Sprachgebrauch der nationalen Extremisten und unterminiert letztlich die originäre Bedeutung. Insbesondere hier auf diesem Blog bin ich verblüfft das so zu lesen, da ich glaube, dass gerade hier Autoren veröffentlichen, die solch spezifische Begiffe doch korrekt anwenden würden.

    • I. Vetter Thu 5 Jul 2018 at 12:17 - Reply

      Sie verwenden den Begriff Rechtsstaat, leider, im Sinne der »Definition« der Wikipedia. Also nicht falsch, sondern begrenzt.

      Rechtsstaat ist, wie Sie (halbwegs) korrekt anmerken, auch ein Staat, in welchem die staatliche Gewalt an das Gesetz und Recht gebunden ist; wobei wir uns einig sein dürften, dass es zudem auf die Art der Gesetze und des Rechts ankommt, um wirklich von einem Rechtsstaat zu sprechen.

      Dieses (deutsche) Gesetz und Recht jedoch unterfällt der verfassungsmäßigen Ordnung. Diese begründet durch das Grundgesetz die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG – über die Bindung der staatlichen Gewalten an diese hinaus – als unmittelbar geltendes und damit die verfassungsmäßige Ordnung grundsätzlich konstituierendes Recht.

      In Deutschland steht dieser Begriff Rechtsstaat demnach unter der Hoheit der Legaldefinitionen des Grundgesetzes; vgl. insb. Art. 1 Abs. 3 GG sowie Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 79 GG, welche sich wiederum von den Grundrechten ableiten bzw. deren Funktion und Wirkweise entsprechen müssen. Hierzu tritt die »Königin der Vorschriften« (Wernicke) des Art. 19 Abs. 4 GG als Rechtsschutzgarantie für den Fall einer Verletzung von Grundrechten.

      Im Ergebnis untersteht damit der (deutsche) Rechtsstaat dem Diktat des Grundgesetzes und damit zuvörderst den Grundrechten, welche die Autorin hier – zu Recht – in Gefahr sieht.

      Und schon sehen sie den von Ihnen deklarierten, aber nur scheinbaren Widerspruch als gelöst an in dem Sinne, dass die Autorin die Grundrechte völlig korrekt als Fundament des (deutschen) Rechtsstaates definiert und deren Verletzung folgerichtig als fundamentalen Angriff auf den Begriff des Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes und damit als Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung.

      3-D-Test für den Rechtsstaat

      Ein Rechtsstaat zeichnet sich aus durch den tatsächlichen, und nicht etwa »bloß« verfassungsrechtlich vorgeschriebenen, Mangel an der Dämonisierung und Delegitimierung bestimmter Gruppen von Menschen auf der Grundlage rechtlicher Doppelstandards.

      Folgende Fragen sind dazu zu beantworten:

      1. Existieren rechtliche Doppelstandards?

      Spezifizierung: Werden bestimmte Gruppen von Menschen mit rechtlichen Merkmalen ausgestattet, welche für andere Menschen nicht gelten?

      2. Werden bestimmte Gruppen von Menschen unter Bezug auf rechtliche Doppelstandards dämonisiert?

      Spezifizierung: Werden bestimmte Gruppen von Menschen mit qualitativen Merkmalen ausgestattet, welche zur Begründung rechtlicher Doppelstandards dienen?

      3. Wird Widerstand gegen rechtliche Doppelstandards delegitimiert?

      Spezifizierung: Wird politischer Widerstand, welcher sich gegen die Anwendung rechtlicher Doppelstandards wendet, unter Hinweis auf die Legitimierung durch Kodifizierung rechtlicher Doppelstandards delegitimiert?

      Können alle drei Fragen belegbar mit JA beantwortet werden, so sind die Kriterien für einen Rechtsstaat nicht erfüllt.

  13. Alex Thu 5 Jul 2018 at 11:18 - Reply

    Können Sie mir sagen inwiefern das alles auch auf gängige Praxis in Flughäfen zutrifft?

  14. A. Noreikat Thu 5 Jul 2018 at 16:27 - Reply

    “Werden bestimmte Gruppen von Menschen mit rechtlichen Merkmalen ausgestattet, welche für andere Menschen nicht gelten?”

    Selbstverständlich haben Bürger eines Landes andere/mehr Rechte (und Pflichten) als Menschen, die nicht Bürger dieses Landes sind.

    Und *zack* hat I. Vetter herausgefunden, daß es auf dem gesamten Planeten keinen einzigen Rechtsstaat gibt.

    Der Haken an dem Artikel ist die Offensichtlichkeit: Selbstverständlich hat niemand das Recht, sich ein Land auszusuchen, indem er versorgt wird. Selbstverständlich hat die Bevölkerung eines Landes oder einer Länderorganisation das Recht zu entscheiden, wer dort leben darf und unter welchen Bedingungen eine Versorgung von Personengruppen stattfindet.

    Offensichtlich kann die Autorin überdies nicht erklären, inwieweit die angestrebten Maßnahmen Verbote gegen willkürliche Verhaftungen, Kollektivausweisungen oder unmenschliche Behandlung verletzen könnten.

    Der Verweis auf das III. Reich ist offensichtlich Effekthascherei, weil mit den Maßnahmen nicht Menschen der(!) Rechte beraubt werden.

    P.S. Selbstverständlich werden “wir” zu jeder Zeit “Objekte der Hoheitsgewalt”. Eine Skandalisierung ist offensichtlich Unsinn.

    • I. Vetter Thu 5 Jul 2018 at 16:43 - Reply

      »Selbstverständlich haben Bürger eines Landes andere/mehr Rechte (und Pflichten) als Menschen, die nicht Bürger dieses Landes sind.«

      Das mag Ihnen selbstverständlich erscheinen, das Grundgesetz aber verleiht Deutschen bestimmte Bürgerrechte, welche andere Menschen nicht haben, definiert aber auch unveräußerliche Menschenrechte, welche für alle Menschen gelten, welche deutschen Boden betreten – und von diesen ist hier die Rede.

      Zu unterscheiden sind diese (allgemeinen) Menschen- und (speziellen) Bürgerrechte ganz einfach an der Verwendung der Bezugs-Begriffe Mensch bzw. Jeder und Deutsche.

      … und zack: Schon kann man das ganz einfach verstehen … wenn man will.

      • Bernd Sun 8 Jul 2018 at 12:06 - Reply

        @ I. Vetter
        Die Mitglieder der parlamentarischen Rates hatten sich aus meiner Sicht ein stabiles friedliches Deutschland als Ziel gesetzt.
        Dem aktuellen Gesetzgeber wird dabei ein weiter Gestaltungsspielraum gegeben.
        Dieser tiefe Grundsatz sollte immer mit bedachtet werden.
        Aus meiner Sicht ist der aktuelle moralische Imperialismus mit dem tieferen inneren Zielen der Verfassung nicht vereinbar.

  15. Heinrich Niklaus Thu 5 Jul 2018 at 16:52 - Reply

    Ich halte die rechtsphilosophischen und wenig überzeugenden Argumente der Autorin für kaum hilfreich, wenn es inzwischen „herrschende Rechtsmeinung“ ist, dass die Grenzsicherung Deutschlands „nicht mehr vom geltenden Recht abgedeckt ist“.

    “Der Einsatzbefehl des Bundespolizeipräsidiums vom 13. September 2015, durch den die Grenzbehörden angewiesen wurden, “Drittstaatangehörigen ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten”, mag in der Ausnahmesituation im Herbst 2015 legitim gewesen sein. Heute aber ist der Befehl, dem eine mündliche und – immer noch – unbegründete Anordnung des damaligen Bundesministeriums des Innern zur “Grenzöffnung” zugrunde liegen soll, nicht mehr vom geltenden Recht gedeckt.” https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/asyl-unerlaubte-einreise-polizeibeamte-grenzschutz-strafbar-bedenken-remonstrieren/

    Es ist ein Skandal erster Güte, dass die Grenzsicherung in Deutschland immer noch auf einer mündlichen Anweisung eines inzwischen wegen Unfähigkeit nicht wieder im Kabinett eingesetzten Innenministers beruht.

  16. Rolf Gutmann Wed 18 Jul 2018 at 14:30 - Reply

    Schon die Behauptung, de Maziere sei wegen Unfähigkeit entlassen, trifft nicht zu und ist allzu billige Rhetorik, die ich auf einer wissenschaftsorientierten Homepage nicht erwarte.
    Wenn etwas ein Skandal ist, Herr Niklaus, dann die Einsetzung eines Innenministers, der gelernter Kommunalbeamter ist und dem man zurufen möchte: “Schuster, bleib bei Deinem Leisten”
    Tatsächlich zeigt die Diskussion juristische Schwierigkeiten des einfachen Rechts auf, denen ein Innenminister schwerlich gewachsen ist, der z.B. beim Thema Abschiebungshaft eine von EuGH und BGH missbilligte Praxis verlangt.

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