12 July 2018

Vom Regen in die Traufe: Ausbau der Schleierfahndung statt Zurückweisungen an den Grenzen

Die von Bundesminister Seehofer geforderten Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze sind vom Tisch – jedenfalls vorerst. Zu groß waren die Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit dem EU-Recht. Dass im Zuge der „Asyleinigung“ nun ausgerechnet die Schleierfahndung ausgebaut werden soll, um mehr Flüchtlinge zu „finden“, die bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat registriert sind, ist vor diesem Hintergrund einigermaßen  paradox: Denn mit der Intensivierung anlassloser Personenkontrollen (nicht nur) im Grenzgebiet geht Deutschland erst recht auf Kollisionskurs mit dem Unionsrecht. Die Diskussion um die „Sicherung“ der Bundesgrenze gerät damit – aus unionsrechtlicher Sicht – vom Regen in die Traufe.

Schengen und die Schleierfahndung

Pünktlich zur Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen des Schengenraums trat 1995 in Bayern die deutschlandweit erste Regelung über die Schleierfahndung in Kraft. Die bayerische Polizei durfte fortan „im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern sowie auf Durchgangsstraßen […] und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs zur Verhütung oder Unterbindung der unerlaubten Überschreitung der Landesgrenze oder des unerlaubten Aufenthalts und zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität“ die Identität einer Person feststellen. Eine konkrete Gefahr oder ein Gefahrverdacht sind dafür nicht erforderlich. Drei Jahre später zog der Bundesgesetzgeber mit einer entsprechenden Erweiterung der Befugnisse des Bundesgrenzschutzes – heute: Bundespolizei – nach. Dass „Ersatzgrenzkontrollen“  im Binnenland den Intentionen des Schengener Abkommens zuwiderliefen, hatte damals bereits der Bundesrat bemängelt.

In der Tat steht die Schleierfahndung bis heute in einem Spannungsverhältnis zu den Vorgaben des Schengen-Regimes, das sich nur schwer unionsrechtskonform auflösen lässt. Denn der Schengener Grenzkodex (SGK) lässt zwar Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten zu, macht aber zur Voraussetzung, dass diese Kontrollen nicht die gleiche Wirkung haben wie Grenzübertrittskontrollen (Art. 23 lit. a SGK). Die Ausübung polizeilicher Befugnisse darf der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen nicht gleichgestellt werden, wenn die Maßnahmen keine Grenzkontrollen zum Ziel haben (i), auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen (ii), in einer Weise konzipiert und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet, (iii) sowie auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden (iv).

Unionsrechtliches Anforderungsprofil

Aus diesen Vorgaben des SGK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH (Rechtssachen Melki, Adil und A) lässt sich ein Anforderungsprofil erarbeiten, dem anlasslose Personenkontrollen genügen müssen. Erforderlich ist erstens, dass den Kontrollen ein rechtlicher Rahmen gezogen wird, der die Vorgaben des SGK umsetzt. Der EuGH begnügt sich also nicht mit einer Schengen-konformen Praxis. Vielmehr muss das Verwaltungshandeln durch Rechtsnormen geleitet sein. Zweitens muss dieser Rahmen hinreichend bestimmt und justiziabel sein. Der EuGH spricht davon, dass der Rahmen „hinreichend genau und detailliert“ sein müsse, um „sowohl die Notwendigkeit der Kontrollen als auch die konkret gestatteten Kontrollmaßnahmen selbst Kontrollen“ unterziehen zu können. Drittens muss durch den Rahmen auch wirksam gewährleistet sein, dass Personenkontrollen nicht die gleiche Wirkung entfalten wie Grenzübertrittskontrollen. Dabei geht es nicht (nur) um die Wirkung der einzelnen Personenkontrolle, sondern vor allem um Summierungseffekte, die sich aus einer Vielzahl gleichgelagerter Kontrollen ergeben können.

Dieses Anforderungsprofil kommt immer dann zum Tragen, wenn Indizien für „Kontrollen gleicher Wirkung“ bestehen. Ein solches Indiz kann in der Zielrichtung der jeweiligen Befugnis im nationalen Recht, aber auch in einem „örtlichen Grenzbezug“ liegen.  Anhaltspunkte für Kontrollen gleicher Wirkung sah der EuGH bei Grenzgebietskontrollen nach französischem Strafprozessrecht, mit denen ganz allgemein die öffentliche Ordnung gewährleistet werden sollte (Rechtssache Melki), bei Personenkontrollen nach dem niederländischen Ausländerrecht (Rechtssache Adil) und auch bei der Schleierfahndung der Bundespolizei im Grenzgebiet (§ 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG) sowie in Zügen und Bahnanlagen (§ 22 Abs. 1a BPolG) (Rechtssache A).

Defizite im deutschen Recht

Dem unionsrechtlichen Anforderungsprofil werden die Schleierfahndungsbefugnisse auf Ebene des Bundes und der Länder nicht gerecht. Sofern der geplante Ausweitung der Schleierfahndung nicht mit einer Anpassung des Polizeirechts an die Schengen-Vorgaben einhergeht, „intensiviert“ Deutschland daher sehenden Auges den ohnehin schon bestehenden Bruch des Unionsrechts. Das führt zu einem politischen Dilemma: Denn eine unionsrechtskonform ausgestaltete Schleierfahndung ist für die Zwecke des systematischen „Suchens und Findens“ von Flüchtlingen hinter der Grenze, für die die Befürworter ihres Ausbaus sie einsetzen wollen, denkbar ungeeignet.

Weder das Bundespolizeirecht noch die Polizeigesetze der Länder (soweit ich diese überblicken kann) sehen derzeit einen rechtlichen Rahmen vor, der den Vorgaben des EuGH entspräche. Im Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache A hatte sich die Bundesregierung noch auf den Standpunkt gestellt, dass die Kontrollen durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und durch Verwaltungsvorschriften wirksam begrenzt würden. Da das Amtsgericht Kehl zu diesen Fragen des nationalen Rechts in seinem Vorabentscheidungsersuchen keine brauchbaren Angaben gemacht hatte (eine unerfreuliche Nachlässigkeit des ansonsten so erfreulich um Klärung bemühten Strafrichters!), spielte der EuGH ihm den Ball zurück: Es sei Sache des vorlegenden Gerichts zu beurteilen, ob die nationalen Bestimmungen einen unionsrechtskonformen Rahmen vorgäben.

Doch das wird man weder vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch von den Verwaltungsvorschriften behaupten können. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bezieht sich immer nur auf das Polizeihandeln im konkreten Fall. Er setzt diesen nicht ins Verhältnis zu anderen Fällen und berücksichtigt daher auch keine „Summierungseffekte“, die sich aus einer Vielzahl gleichartiger Maßnahmen ergeben. Mit ihm lassen sich also Kontrollen gleicher Wirkung nicht verhindern.  Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften sind zwar grundsätzlich geeignet, das Polizeihandeln auch über den konkreten Fall hinaus wirksam zu steuern. Da ihnen über Art. 3 Abs. 1 GG auch Außenwirkung zukommt, wird können sie auch als ein rechtlicher und (im Grundsatz) justiziabler Rahmen gelten. Das Problem der grenzpolizeilichen Verwaltungsvorschriften – konkret der „BRAS 120“ – ist, dass sie vom Bundesministerium des Innern und der Bundespolizei als Verschlusssachen behandelt werden und daher nicht öffentlich zugänglich sind (auch mir wurde die Einsicht verweigert). Solches „Geheimrecht“, von dem die Normunterworfenen keine Kenntnis erlangen können, genügt von vorneherein nicht den Mindeststandards, die auf europäischer Ebene an rechtstaatliches Recht angelegt werden, und kann daher auch der Schleierfahndung keinen Rahmen ziehen. Diese Unzulänglichkeiten hat Anfang des Jahres auch der VGH Baden-Württemberg in zwei mittlerweile rechtskräftigen Urteilen (Az. 1 S 1668/17 und Az. 1 S 1469/17) zu anlasslosen Personenkontrollen durch die Bundespolizei im Jahr 2013 beanstandet.

Für die Anwendung des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG – nicht aber des § 22 Abs. 1a BPolG! – hat das Bundesministerium des Innern zwar 2016 einen Erlass veröffentlicht (GMBl 2016, S. 203), in dem unter anderem vorgesehen ist, dass Kontrollmaßnahmen nicht auf Dauer anzulegen seien, sondern unregelmäßig zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Zeiten und stichprobenartig unter Berücksichtigung des Reiseaufkommens stattzufinden hätten. Zudem fänden Kontrollen nicht allein aus Anlass des Grenzübertritts statt, sondern auf der Grundlage von Lageerkenntnissen über grenzüberschreitende Kriminalität. Doch diese Vorgaben sind viel zu vage, um die Schleierfahndung wirksam einzurahmen. Letztlich werden nur unbestimmte Rechtsbegriffe aneinandergereiht, die der Polizei erheblichen Spielraum belassen und die wirksamen Rechtsschutz eines Betroffenen praktisch ausschließen.

Für eine unionsrechtskonforme Einrahmung der Schleierfahndung könnte man sich ein Vorbild an den Niederlanden nehmen, deren detailliert ausgestaltete Rechtsgrundlage der EuGH in der Rechtssache Adil abgesegnet hat. Die darin vorgesehenen zeit- und mengenmäßigen Begrenzungen von Personenkontrollen dürften freilich kaum dem entsprechen, was sich die Befürworter eines Ausbaus der Schleierfahndung heute von ihr erwarten. So darf in den Niederlanden im Bahnverkehr nur innerhalb von dreißig Minuten ab Grenzübertritt, spätestens bis zum zweiten Bahnhof kontrolliert werden. Außerdem dürfen anlasslose Kontrollen täglich in höchstens zwei Zügen je Fahrtstrecke, in höchstens acht Zügen insgesamt sowie pro Zug in höchstens zwei Abteilen stattfinden. Für Straßenkontrollen sind Zeitkontingente von höchstens neunzig Stunden pro Monat und höchstens sechs Stunden pro Tag vorgesehen, wobei nur ein Teil der vorbeifahrenden Fahrzeuge angehalten werden darf. In der Tat lassen sich mit solchen Vorgaben Kontrollen gleicher effektiv Wirkung vermeiden. Ähnliche Vorgaben ließen sich in das deutsche Polizeirecht ohne weiteres übernehmen und – ggf. im Verordnungswege – auf örtliche Besonderheiten abstimmen. Zudem müsste man dem einzelnen Kontrollierten einen Auskunftsanspruch über Anzahl und Dauer der Kontrollen im jeweiligen Abschnitt zubilligen, damit dieser die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs abschätzen kann.

Intensivierung des Unionsrechtsverstoßes

Die politischen Absichtserklärungen, die Schleierfahndung ausweiten zu wollen, weisen freilich in die entgegengesetzte Richtung. Nicht nur tritt das – unionsrechtlich legitime! – Ziel der Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität hinter dem eigentlichen Zweck, nämlich verbotene Grenzkontrollen im Hinterland durchzuführen, zurück. Vielmehr bedeutet die Intensivierung der Kontrollmaßnahmen auch, dass diese ihren stichprobenartigen Charakter – sofern sie diesen überhaupt (noch) haben – gänzlich verlieren. Eine ohnehin schon unionsrechtswidrige Verwaltungspraxis wird damit nicht nur aufrechterhalten, sondern sogar noch verstärkt. Dass das EU-Recht noch ein schlagendes Argument gegen Zurückweisungen an den Grenzen war, mit Blick auf die Verstärkung der Schleierfahndung im politischen Diskurs keine Rolle zu spielen scheint, ist ein Paradoxon, das sich nur schwer erklären lässt. Vielleicht liegt es daran, dass in der anhaltenden „Aufregung“ um die Dublin-Verordnung die vergleichsweise schnöden Vorgaben des Schengener Grenzkodex schlicht nicht wahrgenommen werden. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gilt aber – das versteht sich von selbst – hier wie da.


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