18 August 2018

Zwischen Supreme Court und Zentralregierung: Zur drohenden Staatenlosigkeit der muslimischen Minderheit in Assam

Ende Juli hat die Zentralregierung in Delhi ein neues Bürgerregister für den Bundesstaat Assam veröffentlicht, in welchem sich nicht alle Einwohner des indischen Bundesstaates wiederfinden. Ein Großteil derer, die auf der Liste fehlen, gehört der muslimischen Minderheit an. Ihnen droht die Festsetzung in Camps, der Entzug politischer Rechte, Abschiebung oder gar Staatenlosigkeit. Der Fall, dessen  Historie bis in die Zeit der Unabhängigkeitsbewegungen zurückreicht, zeigt, dass gegenwärtig in Indien Ressentiments gegen ursprünglich Geflüchtete einer bestimmten religiösen Minderheit wieder aufleben und rechtlich verfestigt werden.

Zwar ist Indien weder Partei der beiden Staatenlosen-Abkommen, noch der Genfer Flüchtlingskonvention, dennoch gewinnen die Vorgänge um Assam politisch auf internationaler Ebene Relevanz: Die Überschwemmungen in Bangladesch in den letzten Jahren zeigen, dass die Region eine derjenigen sein wird, die mit am stärksten von Klimaveränderungen betroffen sein werden. Klimaveränderungen, die große Fluchtbewegungen nach sich ziehen können, auch aus Bangladesch Richtung Indien. Der Anteil an Muslimen innerhalb der Bevölkerung Bangladeschs wird mit um die 90 Prozent angegeben. Es scheint, als wolle die hindunationale BJP um Premier Modi bereits jetzt deutlich machen, dass seitens Indien keine Bereitschaft besteht, mehrheitlich muslimische Flüchtlinge aufzunehmen.

Annähernd vier Millionen Menschen fehlen in dem Bürgerregister, das nun in bereits aktualisierter Gestalt veröffentlicht wurde (erste Veröffentlichung im Dezember 2017). Sie müssen nun mittels offizieller Dokumente wie Geburtsurkunden, Grundbucheintragungen oder Wählerverzeichnissen nachweisen, dass sie oder ihre Blutsverwandten bereits vor dem Stichtag im Jahr 1971 Staatsangehörige Indiens waren. Gelingt dies nicht, so sollen die Betroffenen die Möglichkeit haben, ihren Fall vor einen der Foreigners Courts bringen zu können, wobei zwei Drittel der rund hundert dieser Verwaltungseinrichtungen von der hindunationalistischen Zentralregierung eingerichtet wurden. Ihre Unabhängigkeit kann also bezweifelt werden. Insbesondere für Frauen ist es erschwert, diesen Nachweis zu erbringen, da sie nicht in den Urkunden ihrer Väter geführt werden und zusätzlich nach der Eheschliessung einen anderen Namen tragen.

Was mit jenen geschieht, die es auch nach Ablauf der gesetzten Frist, die wenige Wochen beträgt, nicht schaffen, per Nachweis auf die Liste des Nationalen Bürgerregisters (National Register of Citizens of India, NRC) zu kommen, kann gegenwärtig nur gemutmaßt werden: Ihnen droht neben dem Entzug jeglicher politischer Rechte die Festsetzung in Lagern, von denen es bereits mehrere in Assam gibt, die Abschiebung nach Bangladesch oder sogar Staatenlosigkeit. Um zu beschwichtigen, versichert die Zentralregierung derzeit allerdings, es werde keine Abschiebungen geben.

Gesetzliche Wechselwirkungen

Zeitgleich befindet sich ein weiteres Gesetz im Gesetzgebungsverfahren zwischen den zwei Kammern des indischen Parlaments, das die Situation verschärfen könnte: Die Citizenship Amendment Bill wurde im Jahr 2016 von der BJP-geleiteten Zentralregierung Indiens eingebracht und soll das Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahr 1955 dergestalt ändern, dass Einwander*innen, die insbesondere hinduistischen Glaubens sind und aus den Nachbarländern wie Pakistan, Afghanistan und Bangladesch nach Indien kommen, aufgrund ihres Glaubens die indische Staatsangehörigkeit gewährt werden soll. Würde die Citizenship Amendment Bill von der zweiten Kammer gebilligt und in Kraft treten, würde all jenen, die sich jetzt nicht auf der Liste wieder finden, aber hinduistischen Glaubens sind, kraft Gesetzes die indische Staatsangehörigkeit zugesprochen. Dies würde die diskriminierende Wirkung des NRC, von dem bereits jetzt mehrheitlich muslimische Menschen betroffen sind, faktisch verstärken, weil mit Inkrafttreten der Citizenship Amendment Bill nur sie als illegale Einwander*innen übrig blieben. Gleichwohl regt sich in der Zwischenzeit gegen die Gesetzesänderung Protest seitens der Regierungspartnerin der BJP in der assamesischen Regionalregierung, die um den Erhalt des sozial-kulturellen Gleichgewichts und des Säkularismus fürchtet. Sie droht mit Koalitionsbruch. Dies muss  allerdings auch im Hinblick auf die im kommenden Jahr voraussichtlich anstehenden Wahlen zur Lok Sabha, der ersten Kammer des indischen Parlaments, gesehen und darf damit nicht überinterpretiert werden.

Historische Bedingungen

Das erstmals nach dem Zensus von 1951 veröffentlichte Register hat seinen Ursprung im Assam Accord von 1985, der Jahre der Agitation gegen bengalische Einwohner*innen Assams, begleitet von Massakern an ganzen Dörfern vorausgegangen waren, die es, letztlich mit Zugeständnissen an die agitierenden Bürgergruppen, zu befrieden galt. Der Assam Accord sieht vor, dass illegale Einwander*innen ausfindig gemacht, von Wählerlisten gelöscht und, so der Wortlaut, auf legale Weise außer Landes gebracht werden sollen. In diesem Sinne wurde auch der Citizenship Act von 1955, das indische Staatsangehörigkeitsrecht, durch den Citizenship Amendment Act von 1985 in Umsetzung des Assam Accords geändert, jedoch dergestalt bis zu den aktuellen Vorgängen nicht umgesetzt. Hier wird rechtlich etwas umgesetzt, was gesellschaftlich betrachtet seine Wurzeln in tiefen Ressentiments gegenüber der muslimischen Bevölkerung des ehemaligen Ost-Pakistan hat.

Der Supreme Court als Akteur

Der Supreme Court of India spielt eine weitere wesentliche Rolle bei der Aktualisierung des Bürgerregisters. So hat er in Assam Sanmilita Mahasangha & Ors vs Union Of India & Ors, dem sog. Assam Accord Case aus dem Jahr 2013 – wohlgemerkt vor der Amtszeit von Narendra Modi – angeordnet, den Citizenship Amendment Act aus dem Jahr 1986 umzusetzen. Es greift daher zu kurz, die Vorgänge rein als opportunes Handeln der hindunationalistischen Regierung einzuordnen, wenngleich sie zweifelsohne konform damit gehen: So gehörte es zu den Wahlversprechen von Premierminister Modi vor den Parlamentswahlen im Jahr 2014, „illegale“ Migranten zurück nach Bangladesch zu verweisen.

Im Jahr 2006 entschied der Supreme Court in Sarbananda Sonowal vs Union Of India (II), dass künftig für den Nachweis der Staatsangehörigkeit die Beweislast beim Individuum und nicht länger beim Staat liegt. Erst dies macht es jetzt möglich, dass mit Veröffentlichung des Bürgerregisters und Setzung einer Frist, bis wann der Nachweis zu erbringen ist, ein Entzug der Staatsbürgerschaft eintritt, ohne dass dies von staatlicher Seite erst festgestellt werden muss. Und es war auch der Supreme Court, der es im Mai diesen Jahres ablehnte, die Frist für den jetzt vorliegenden Entwurf der Liste zu verlängern.

Auf der anderen Seite hat die befasste Richterbank einen Teil des fraglichen Gesetzes, Section 6A des Citizenship Amendment Act, zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit an die Constitution Bench des Supreme Court überwiesen, wo der sog. Assam Accord Case derzeit noch anhängig ist. Dort geht es u.a. um die Frage, ob Section 6A des Citizenship Amendment Act mit Art. 10 und 11 der indischen Verfassung vereinbar ist, die das Fortbestehen der Staatsangehörigkeit (Continuance of the rights of citizenship) einerseits und die Regelungsbefugnis des Parlaments in Fragen der Staatsangehörigkeit (Parliament to regulate the right of citizenship by law) andererseits vorsehen.

Doch hier könnte die Crux liegen: Selbst wenn die Section 6A von den Richtern als nicht verfassungsmäßig angesehen wird, bleibt zweifelhaft, ob sich Betroffene darauf berufen können, wenn es ihnen gerade nicht gelungen ist, ihre Staatsangehörigkeit nachzuweisen, da ihnen damit faktisch die Staatsangehörigkeit bereits entzogen wurde.

Section 6A des Citizenship Amendment Act teilt die Einwander*innen in drei Gruppen: 1. Jene, die vor 1966 nach Assam kamen, hier gilt die Vermutung der Staatsangehörigkeit; 2. die, die zwischen 1966 und 1971 nach Assam kamen, sie müssen ihre Staatsangehörigkeit nun nachweisen, sofern sie nicht auf der Liste aufgeführt sind, und 3. diejenigen, die sich erst nach 1971 – Stichtag 24. März Null Uhr, dem Datum des Beginns des Bangladesch-Krieges zwischen damals West- und Ost-Pakistan – in Assam niedergelassen haben, also diejenigen, die im Zuge des Krieges ins Nachbarland geflohen waren. Letztere haben kaum eine Chance ihre Zugehörigkeit zum indischen Staat zu beweisen und sind die größte dadurch von Staatenlosigkeit bedrohte Gruppe, da Bangladesch bereits geäußert hat, möglicherweise abgeschobene Personen nicht „zurückzunehmen“.

Ist die gesetzliche Grundlage des NRC verfassungsmäßig?

Im Rahmen der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Section 6A wird auch gefragt, ob Section 6A gegen Art. 14 der Verfassung, das Diskriminierungsverbot, verstößt, das – gleich dem deutschen Art. 3 Abs. 3 GG, jedoch ausdrücklich – nicht nur für Staatsangehörige, sondern für alle Personen innerhalb des indischen Territoriums gilt. Die Frage der Richter befasst sich allerdings nicht damit, und das ist bemerkenswert, dass möglicherweise eine Minderheit aus Gründen der Religion oder der Herkunft diskriminiert wird. Stattdessen wollen sie wissen, ob die spezifische Gesetzgebung für den Bundesstaat Assam gegen das Gleichbehandlungsgebot im Vergleich zu anderen Bundesstaaten mit Außengrenzen verstößt und ob die Festlegung eines Stichtages für die Anerkennung der Staatsangehörigkeit in diesem Sinne sachlich gerechtfertigt ist.

Trotzdem: Wenngleich der Supreme Court die Aktualisierung des Bürgerregisters angestoßen und befördert hat, bleibt zu hoffen, dass er die Gleichheitsfragen nicht außer Acht lässt und erkennt, dass im Nationalen Bürgerregister und seinen Folgen eine faktische Diskriminierung aus Gründen der Religion oder auch der Herkunft liegt. Zumindest wird von der Constitution Bench geklärt werden müssen, ob die Gesetzesänderung einen Entzug der politischen Rechte der Bürger*innen von Assam in Gestalt des Wahlrechts bewirkt.

Noch spannender sind zwei Vorlagefragen, die grundsätzliche Fragen nach Kultur und Staatlichkeit berühren. So wird zum einen nach dem verfassungsrechtlichen Gehalt der Bewahrung von „Kultur“ als identitätsstiftendem Merkmal gefragt und zum anderen, ob der massive Zustrom illegaler Einwander*innen in einen Bundesstaat eine „interne Unruhe“ oder einen „Angriff von außen“ darstellt. Bei der letzten Frage scheint es jedoch einerlei, wie die verfassungsrechtliche Auslegung ausfällt: in beide Richtungen dient sie nicht dem Schutz der durch das Bürgerregister bedrohten Minderheit.

Ein Lichtblick unter den Vorlagefragen bleibt die Frage, ob die Rule of Law möglicherweise dadurch verletzt sein könnte, dass Section 6A des Citizenship Amendment Act politisch opportunem Handeln den Weg ebnet, anstelle gesetzmäßiges Regierungshandeln zu befördern. Ein Lichtblick oder ein Irrlicht, das ablenken soll von der systematischen Benachteiligung einer Minderheit?

Die Aktualisierung des Bürgerregisters und die damit einhergehenden rechtlichen Aspekte berühren damit nicht nur Fragen  der Staatsangehörigkeit, sondern auch nach Identität und Zugehörigkeit und  der säkularen Verfasstheit eines Staates. Wenngleich der Säkularismus als Konzept in Indien hochumstritten ist und erst 1976 – während des von Indira Gandhi ausgerufenen Ausnahmezustands – begrifflich in die Präambel der Verfassung aufgenommen wurde, so ist doch bezeichnend, dass mit Veröffentlichung des NRC zutage tritt, wie die einseitig religiös geprägten Bestrebungen der Regierungspartei der Pluralität der Religionen innerhalb des indischen Staates zuwider laufen und damit ein Merkmal seiner Identität konterkarieren.

Was Assam und die Vorgänge um das Bürgerregister zeigen, ist, dass die Artikel der Verfassung als solche zwar ein festes Fundament zu bilden scheinen. Aber hier wie dort wird, mitunter auch seitens der Gerichte, politisch agiert, und zwar zum Nachteil religiöser Minderheiten, gegenwärtig insbesondere all jener, die muslimischen Glaubens sind. Auch deshalb sollten wir wachsam sein, wenn wir auf die indische Verfassung rekurrieren.


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