29 August 2018

VB vom Blatt: Vier kurze Gedanken zum Europaschulen-Beschluss des BVerfG

1. Warum braucht Karlsruhe eigentlich NEUN Jahre, um festzustellen, dass eine Verfassungsbeschwerde unzulässig ist, die obendrein auch noch vom effektiven Rechtsschutz vor Gerichten handelt?

Auf diese heute veröffentlichte Entscheidung wird schon länger gewartet. Der konkrete Anlass ist nicht wirklich von nationalem Interesse: Es geht um die Höhe von Schulgeld an einer Europaschule. Aber abstrakt steht dahinter eine grundsätzliche Frage: Welche verfassungsrechtlichen Anforderungen sind an Rechtsschutzsysteme (“Gerichte”) jenseits der europäischen Integration zu stellen, wenn Hoheitsrechte übertragen werden sollen bzw. worden sind?

Europaschulen sind eine zwischenstaatliche Einrichtung der EU und ihrer Mitgliedstaaten, um Kindern von EU-Mitarbeitern Unterricht in ihrer Muttersprache zu ermöglichen. Für Streitigkeiten gibt es zwar eine so genannte Beschwerdekammer. Doch die erklärte sich in diesem Fall für unzuständig. Damit stellte sich die Frage: Kann es sein, dass man zu einer Zahlungspflicht verdonnert wird, ohne dass man dagegen vor irgendein Gericht ziehen kann?

Diese Frage ist seit 2009 als Verfassungsbeschwerde anhängig, und jetzt hat das BVerfG nun endlich entschieden: Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Pech für die Beschwerdeführer, die so langsam wahrscheinlich schon eigene Kinder einschulen. Und ansonsten im Wesentlichen eine Zusammenfassung bisheriger BVerfG-Rechtsprechung. Keine große Überraschung.

2. Das BVerfG hält sich in Reserve

Wenn der Gesetzgeber zwischenstaatliche Einrichtungen mit Hoheitsrechten ausstattet, muss er ein Minimum an Grundrechtsschutz sicherstellen. Dazu gehört auch ein effektiver und umfassender Rechtsschutz.

Das BVerfG hat zwei Prüfkanäle bei der Übertragung von Hoheitsrechten: Es prüft, ob das geplante Rechtsschutzsystem im Wesentlichen mit den deutschen Grundrechtsstandards übereinstimmt. Es schaut sich aber erforderlichenfalls auch die nachfolgende Praxis an. Wenn es da zu strukturellen Defiziten kommt, dann kann eine Hoheitsrechtsübertragung auch im Nachhinein verfassungswidrig werden. Strukturelle Defizite heißt aber auch, dass nicht jede Fehlentscheidung – und eine solche lag hier wohl vor – mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden kann. Das erinnert an das Recht auf Fehlertoleranz, das dem EuGH vom BVerfG in der Entscheidung Honeywell eingeräumt wird. Überhaupt taucht allerlei Altbekanntes aus der EU-Rechtsprechung auf, die auch fleißig zitiert wird. Erstaunlich, wie viel man immer noch aus Solange I entnimmt.

Bemerkenswert ist auch die Absicherung über die EMRK, Gleichlauf der Schutzstandards. Ob das immer so stimmt? Jedenfalls ergibt sich im Ergebnis das, was schon für das Unionsrecht gilt: Das BVerfG bleibt kontinuierlich am Ball, oder treffender, auf der Reservebank, und kann eingeschaltet werden, wenn etwas strukturell mit dem Rechtsschutz auf überstaatlicher Ebene in die falsche Richtung geht. Aber es muss eben strukturell sein.

3. Keine Probleme für CETA- und EU-Patentgerichts-Verfahren.

Was bedeutet der Beschluss für die unmittelbare Zukunft? Es sind weitere Rechtsschutzkonstellationen in Verfahren vor dem BVerfG anhängig. Sowohl für das anhängige Verfahren zu einer neuen Europäischen Patentgerichtsbarkeit (EPGÜ) wie auch zur Investor-Staat-Streitbeilegung beim Freihandelsabkommen CETA ergeben sich aus dem Beschluss und den dort formulierten verfassungsrechtlichen Anforderungen an Gerichtsbarkeit jenseits der EU keine Probleme.

Disclaimer: Als Bevollmächtigter in den beiden Verfahrenskomplexen habe ich das auch schon vorher gesagt. 

4. Was ist eigentlich mit dem Rechtsschutz gegen den UN-Sicherheitsrat?

Unter dem Strich also eigentlich nichts fundamental Neues. Etliches, was für die Europäische Union und Art. 23 GG entwickelt wurde, gilt nun auch für den Bereich jenseits der EU.

Aber eine Restunsicherheit bleibt – kann man wirklich die für die Europäische Union entwickelten Anforderungen weiter in allgemeinere völkerrechtliche Konstellationen übertragen? Ob das wirklich überall aufgeht, scheint mir dann doch nicht völlig sicher zu sein. Was ist eigentlich mit dem Rechtsschutz gegen den UN-Sicherheitsrat?

Denkt man sich die Europäische Union, den EuGH und seine Kadi-Rechtsprechung – wonach in der der Sache der Rechtsschutz gegen den UN-Sicherheitsrat vor EU-Gerichten gesichert wird – einmal weg, dann kann man sich fragen, ob die deutschen verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur UN-Mitgliedschaft passen.

Aber über diese Frage kann man wahrscheinlich mindestens weitere neun Jahre nachdenken.


3 Comments

  1. Uwe Kranenpohl Wed 29 Aug 2018 at 19:05 - Reply

    Ist leicht OT, aber trotzdem: Mir gefällt das Format “vom Blatt”. Kann man auch mal einfach so weglesen.

  2. Peter Camenzind Thu 30 Aug 2018 at 10:37 - Reply

    Wieso kein anderes zuständiges europäisches Gericht?

  3. Franka Hintzmann Wed 22 May 2019 at 11:36 - Reply

    Sehr geehrter Prof. Dr. Franz C. Mayer,
    wir sind vom Neuen Gymnasium Bochum und schreiben eine Reportage über Europaschulen.Deshalb bitten wir Sie,als Fachexperten, uns die folgenden Fragen zu beantworten:
    Was halten sie im Allgemeinen von Europaschulen?
    Was ist der Grundgedanke des gesamten Konzept?
    Wir bitten um eine Rückmeldung .
    Mit freundlichen Grüßen,
    die Schülerinnen der Klasse 8d

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