Vertragsverletzungsverfahren als scharfes Schwert: Die erste Verurteilung eines Mitgliedstaats wegen justiziellen Unrechts
Das Vertragsverletzungsverfahren ist schon in der Vergangenheit immer wieder verschärft worden. Drei Beispiele verdeutlichen das: Zunächst haben die Mitgliedstaaten durch den Vertrag von Maastricht 1992 erstmals die Möglichkeit von Sanktionen geschaffen. 1995 hat der EuGH kumulierte Straf- und Pauschalzahlungen entgegen dem Wortlaut von – jetzt – Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV zugelassen (C-304/02, Rn. 80-86). Und kürzlich hat die Kommission infolge ihrer 2016 vorgelegten Mitteilung „EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung“ (C(2016) 8600 final) nicht nur das spezielle Vertragsverletzungsverfahren des Art. 260 Abs. 3 AEUV deutlich verschärft, sondern auch den informellen Vordialog „EU-Pilot“ weitgehend abgeschafft.
Justizielles Unrecht, d.h. konkret: die Verkennung von Unionsrecht durch mitgliedstaatliche Gerichte, war bislang allerdings noch nie Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem EuGH. Das galt insbesondere auch für die rechtswidrig unterlassene Anrufung des EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens gem. Art. 267 AEUV.
Mit Urteil Accor II vom 04.10.2018 (C-416/17) hat der EuGH nun erstmals den Rubikon überschritten und Frankreich wegen zweier Urteile seines höchsten Verwaltungsgerichts, des Conseil d’État,verurteilt. Damit platziert der Gerichtshof die Kommission wirkungsvoll als neuen Akteur, läuft aber auch Gefahr, den dialogue des juges zu erschweren.
Das Urteil
Der EuGH stellt zwei Rechtsverletzungen des Conseil d’État fest:
1. Verletzung von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit
Im Kern wirft der EuGH dem Conseil d’État vor, er habe eine französische Muttergesellschaft, die von ausländischen Tochtergesellschaften Dividenden erhalten hat, im Hinblick auf die Erstattung von Steuern, die auf erhaltene Dividenden erhoben wurden, diskriminiert und unverhältnismäßig behandelt.
Schon in dem 2011 erlassenen Urteil Accor I (C-310/09) hatte der EuGH die französischen Vorschriften zur Vermeidung wirtschaftlicher Doppelbesteuerung von Gewinnausschüttungen gerügt. Verkürzt gesagt konnten nach französischem Steuerrecht Steuergutschriften, die mit der Ausschüttung verbunden waren (Steuervorabzüge), nur angerechnet werden, soweit die Ausschüttungen von französischen Tochtergesellschaften stammten. Ausschüttungen, die von zuvor geleisteten Dividenden gebietsfremder Enkelgesellschaften an gebietsfremde Tochtergesellschaften weitergeleitet wurden, führten ebenso wie deren Weiterausschüttung an französische Muttergesellschaften so zu einer Doppelbelastung, da die Anrechnung der Steuervorabzugsbeträge versagt wurde. Nicht überraschend sah der EuGH darin einen Verstoß gegen die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art. 49, 63 AEUV.
Nichtsdestotrotz legte der Conseil d’État 2012 in zwei Urteilen (hier und hier) Voraussetzungen für die Erstattungen und die Nachweispflichten der Steuervorabzüge fest, die geleistete Steuervorabzüge für ausländische Dividendenerträge wiederum nicht zuließen. Bei einer rein innerstaatlichen Beteiligungsstruktur konnte die Doppelbesteuerung indes weiterhin neutralisiert werden. Die Kommission erhob daraufhin Feststellungsklage beim EuGH (Art. 258 UAbs. 2 AEUV).
Im Urteil Accor II ( C-416/17) kassiert der EuGH nun auch die neu vom Conseil d’État geschaffenen Regeln. Dass die gebietsfremde steuerliche Vorbelastung bei der Weiterausschüttung von Gewinnen gebietsfremder Enkelgesellschaften, anders als bei Gewinnen gebietsansässiger Enkelgesellschaften, weiterhin nicht berücksichtigt werde, verstoße gegen die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit. Denn das französische Recht kennt für die Erteilung der Steuergutschrift nur das zweiseitige Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft. Nur im rein gebietsansässigen Verhältnis zu Enkelgesellschaften wird der Steuervorteil gewährt, weil dieser sukzessive auf allen Beteiligungsstufen zur Anwendung kommt.
2. Rechtswidrig unterlassene Vorlage an den EuGH gem. Art. 267 UAbs. 3 AEUV
Des Weiteren verurteilt der EuGH Frankreich auch, weil der Conseil d‘État entgegen Art. 267 UAbs. 3 AEUV kein Vorabentscheidungsersuchen gestellt hatte. Als letztinstanzliches Gericht muss der Conseil d‘État den EuGH grundsätzlich bei unionsrechtlichen Auslegungsfragen anrufen. Bekanntlich entfällt die Vorlagepflicht nur in zwei Fällen: Der EuGH hat die relevante Rechtsfrage bereits entschieden (sog. „acte éclairé“) oder die richtige Anwendung des Unionsrechts ist offenkundig (sog. „acte clair“). Der Conseil d’État war von einem Fall des acte clair ausgegangen, mit Verweis auf ein anderes Urteil des EuGH (Test Claimants, C-35/11). Die dort streitgegenständliche Regelung des Vereinigten Königreichs, so der Conseil d’État, weiche von denen Frankreichs so sehr ab, dass die Rechtsprechung nicht übertragbar sei. Dessen hätte sich der Conseil d’État aber, so der EuGH, nicht sicher sein können, wie das vorliegende Urteil belege (Rn. 111 kritisch Delhomme/Larrippa). Mithin fehle es an der (aus dem CILFIT-Urteil des EuGH, Rn. 16, bekannten) Voraussetzung des acte clair, dass Gewissheit besteht, dass auch „der Gerichtshof ohne Weiteres zu demselben Schluss gelangen würde“ wie das nationale Gericht.
Drei Gedanken zum Fall
1. Konsequenter Schlusspunkt einer Entwicklung
Mit der Ausdehnung des Vertragsverletzungsverfahrens von exekutivem über legislatives auf justizielles Unrecht folgt der EuGH einer bereits bekannten Entwicklungslinie: Erstens ist die Parallele zum Köbler-Urteil (C-224/01, Rn. 33-50) offensichtlich. Dort hat der EuGH 2003 entschieden, dass der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch auch bei justiziellem Unrecht grundsätzlich möglich ist (anders als in Deutschland bei Verletzung nationalen Rechts, § 839 Abs. 2 BGB i. V. mit Art. 34 GG). Zu den (erschwerten) Voraussetzungen zählte der EuGH dabei ausdrücklich die unterlassene Vorlage gem. Art. 267 UAbs. 3 AEUV (Rn. 55).
Zweitens war auch der Weg für die Erstreckung von Vertragsverletzungsverfahren auf justizielles Unrecht bereits geebnet: Bereits 1970 hatte der EuGH festgestellt, dass die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens „unabhängig davon [bestehe], welches Staatsorgan durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat, selbst wenn es sich um ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ handelt“(Rs. 77/69, Rn. 15). Diese ursprünglich auf die Legislative bezogene Argumentation hat der EuGH sodann 2003 auf die Judikative übertragen (C-129/00, Rn. 29, bestätigt durch C-154/08, Rn. 125 – 127).
Drittens hatte sich auch die Kommission die Option der Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren wegen justiziellen Unrechts seit langem offengehalten (vgl. Antwort auf die schriftliche Anfrage 28/68). Der belgische Generalanwalt Wathelet weist in seinen Schlussanträgen (Fn. 2) zudem auf ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Schweden hin, in dem die Kommission allerdings keine Klage erhoben hat.
Viertens hatte der EuGH im Jahr 2015 erstmals im Urteil Ferreira da Silva (C-416/14, Rn. 45) die Verletzung der Vorlagepflicht durch ein mitgliedstaatliches Gericht explizit festgestellt und damit den Weg für Sanktionen bei Verletzung dieser zentralen Vertragspflicht geebnet.
2. Kommission als neuer Akteur
Durch die Eröffnung von Vertragsverletzungsverfahren bei justiziellem Unrecht platziert der EuGH die Kommission wirkungsvoll als neuen Akteur. Bislang war der Einzelne (in der Regel die unterlegene Partei des Ausgangsrechtsstreits) auf sich allein gestellt. Seine Möglichkeiten als „Agent“ der unionsrechtlichen rule of law sind dabei stark eingeschränkt: Hinsichtlich der Vorlagepflicht des Art. 267 UAbs. 3 AEUV prüft beispielsweise das BVerfG nur grobmaschig, ob die „Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV … nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist“ (Rn. 6) und damit das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt ist. Auch eine Individualbeschwerde beim EGMR wegen Verletzung des fair trial-Grundsatzes gem. Art. 6 EMRK ist nur in Ausnahmefällen, v.a. bei fehlender gerichtlicher Begründung der unterlassenen Vorlage, erfolgversprechend.
Durch die Möglichkeit, Vertragsverletzungsverfahren bei justiziellem Unrecht einzuleiten, hat nun die Kommission eine Möglichkeit erhalten, disziplinierend auf die Gerichte der Mitgliedstaaten einzuwirken. Eine einklagbare Verpflichtung zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren besteht dabei nach der Rechtsprechung des EuGH nicht (C-431/92, Rn. 22), so dass die Kommission weitgehend „freie Hand“ hat.
3. Mögliche Kriterien für die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren bei justiziellem Unrecht
Wann ist künftig mit Vertragsverletzungsverfahren der Kommission wegen justiziellen Unrechts zu rechnen? Verlässliche Antworten hierzu werden sich erst anhand der Entscheidungspraxis geben lassen. Drei Gedanken seien aber hier schon skizziert:
- Zentral ist die Verletzung der Vorlagepflicht des Art. 267 UAbs. 3 AEUV. Zwar stellt der EuGH in Accor II klar, dass er Frankreich aus zwei unterschiedlichen Gründen verurteilt. Der EuGH verzichtet darauf, eine Verbindung zwischen der inhaltlichen (Art. 49, 64 AEUV) und der formalen Rechtsverletzung (Art. 267 UAbs. 3 AEUV) zu schaffen, die damit unabhängig nebeneinanderstehen. Jedoch betont der EuGH zugleich eindringlich die Gefahr, die sich aus unterlassenen Vorlagen für die Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung und die Wahrung seines Auslegungsmonopols (90) ergebe. Zudem hatte auch die Kommission stets (nur) diesen Fall für mögliche Vertragsverletzungsverfahren wegen justiziellen Unrechts genannt (z.B. Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr. 526/82). Überdies dürften Unionsrechtsverletzungen durch Letztentscheider regelmäßig mit einer Verletzung der Vorlagepflicht einhergehen – sieht man einmal von der Situation ab, dass ein acte éclairé bzw. acte clair zunächst vorlag und der EuGH seine Rechtsauffassung erst im laufenden Vertragsverletzungsverfahren ändert.
- Im Rahmen von Art. 267 UAbs. 3 AEUV wird die Kommission wohl künftig keine „systematische“ Verletzung der Vorlagepflicht durch das entsprechende Gericht verlangen. Zwar hatte sie einmal festgehalten, Vertragsverletzungsverfahren bei justiziellem Unrecht kämen nur in Betracht, wenn das Gericht die Vorlagepflicht „systematisch und bewusst“missachte (Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr. 526/82). Jedoch hatte die Kommission dies im vorliegenden Verfahren – anders auch als im erwähnten behördlichen Verfahren gegen Schweden – gerade nicht geltend gemacht (vgl. Schlussanträge Generalanwalt Wathelet, Rn. 86). Auch war es vorliegend derselbe Conseil d’État, der das Vorabentscheidungsersuchen gestellt hatte, das zum Urteil Accor I (C-310/09) geführt hatte. Umgekehrt zeigt das Urteil, dass der EuGH auch vor einem Höchstgericht eines großen Gründungsstaats nicht zurückschreckt, wenn es nicht (erneut) vorlegt.
- In jedem Fall wird die Kommission nun nähere Kriterien entwickeln müssen. Von einem strategischen Einsatz der Vertragsverletzungsverfahren darf im Lichte der eingangs zitierten Mitteilung (Ziff. 3) aus dem Jahr 2016 ausgegangen werden. Dabei wird die Kommission mit Blick auf die interinstitutionellen Loyalitätspflichten (Art. 13 Abs. 2 Satz 2 EUV) auch die Interessen des EuGH im Blick haben müssen. Der EuGH „lebt“ von Vorabentscheidungsverfahren und ist daher auf die freiwilligeKooperation der nationalen Gerichte angewiesen. Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH wegen justiziellen Unrechts können den dialogue des juges erschweren (Delhomme/Larrippa). Das weiß auch die Kommission (Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr. 526/82): „Nach Ansicht der Kommission ist dieses Verfahren aber nicht gerade die beste Grundlage für eine Zusammenarbeit zwischen nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof.“