18 January 2019

Neue Kleiderordnung statt Wahlrechtsreform – Eine Erwiderung auf Cara Röhner

Justizministerin Katharina Barley hat Vorschläge formuliert, wie sie das von ihr identifizierte „Meer aus grauen Anzügen“ im Bundestag einhegen möchte. Dabei bringt sie unter anderem die Verpflichtung zur Aufstellung paritätischer Landeslisten ins Spiel. Dass dieser Vorschlag verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, überrascht wenig: Bezüglich des Grundsatzes der Wahlrechtsgleicheit vertritt das BVerfG ein strikt formales und differenzierungsfeindliches Verständnis (BVerfGE 120, 82 (102)). Auf dieser Basis erscheint eine gesetzliche Quotierung der Landeslisten als nur schwer zu rechtfertigender Eingriff. Ähnliches gilt für die Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG. Durch die Beteiligung an Wahlen wirken Parteien an der politischen Willensbildung mit. Dabei ist es ihr genuines Recht, Programm und Personal zu bestimmen – und auch aufeinander abzustimmen. Beides lässt sich ohnehin kaum voneinander unterscheiden; die Personalauswahl ist immer auch eine programmatische Entscheidung. Wer die Personalauswahl beschneidet, verengt daher zwangsläufig das Selbstbestimmungsrecht der Parteien über ihre inhaltliche Ausrichtung. 

Gelingen könnte eine Rechtfertigung solcher Eingriffe dadurch, dass der Wahlausgang an bestimmte Zielvorgaben gekoppelt wird – wie die der Gleichberechtigung von Frauen und Männern aus Art. 3 Abs. 2 GG. So hat Cara Röhner hier auf dem Blog argumentiert und eine materielle Perspektive auf Repräsentation und Demokratie eingenommen. Dies bleibt aber jedenfalls auf Basis einer liberalen Verfassungs- und Demokratietheorie bedenklich.

Vorsicht vor einem Maßstab für „gerechte Staatlichkeit“

Natürlich agiert das Wahlvolk nicht als vorrechtliche Urgewalt. Es ist rechtlich begründet und begrenzt. Es entspricht jedoch aus gutem Grund aktueller Verfassungstheorie, dass der Bürger grundsätzlich nicht mit allen Werten der Verfassung übereinstimmen muss (BVerfG, Beschluss vom 24.3.2001 – 1 BvQ 13/01 – Rn. (24)). Für den Akt demokratischer Selbstbestimmung muss dies erst recht gelten. Wie sollte der Bürger beispielsweise selbst auf eine Verfassungsänderung im Rahmen der Grenzen des Art. 79 GG hinwirken, wenn nicht durch eine Wahl? Wie kann das aber gelingen, wenn das Produkt demokratischer Selbstbestimmung durch die Verfassungswerte vorgezeichnet ist?

Eine solche Reglementierung des demokratischen Wahlprozesses verkennt zudem die Eigenlogik demokratisch-politischer Prozesse: Politischen Präferenzen ist zwangsläufig ein subjektiv-willkürliches Moment immanent. Sie entziehen sich einer durchgehend rational-objektiven Bewertung. Damit sind verbindliche objektive Kriterien für die Wahl eines politischen Amtes inkompatibel. Dementsprechend sind politische Posten auch keine nach „Eignung, Befähigung und Leistung“ zu besetzenden Ämter (Art. 33 Abs. 2 GG). Politiker werden nicht außerwählt, sondern gewählt. Wer diesen subjektiv-willkürlichen Entscheidungsmoment beschneidet (und sei es auch aus unterstützenswerten Zielen), trifft ins Mark demokratischer Selbstbestimmung!

Solche Wahlentscheidungen können dann auch zu Wahlergebnissen führen, die im Lichte gewünschter Gleichberechtigung unbefriedigend erscheinen. Dass ein solches Wahlergebnis aber kein Demokratiedefizit ist , liegt in der Natur demokratischer Wahlen: Es kommt auf das Verfahren, nicht das Ergebnis an. Dies kann auch nicht durch ein Bild „gerechter Staatlichkeit“ korrigiert werden. Was gerecht ist, darüber befinden die Wähler. Das ist gelebter Pluralismus.

Repräsentation statt Identität

Versucht man, einen genaueren Blick hinter das materielle Repräsentationsverständnis zu werfen, für das Cara Röhner plädiert, bleibt Vieles unklar: Einerseits behauptet sie, dass für eine gleichberechtigte Teilhabe an der Herrschaftsausübung eine gleichberechtigte Präsenz von Frauen in den Parlamenten erforderlich wäre (und dies selbst schon ein demokratisches Prinzip sei). Andererseits ginge es bei der Parität nicht darum, ein Spiegelbild der Gesellschaft zu errichten, zumal eine gleichberechtigte Präsenz von Frauen ohnehin nicht zwingend mit einer Politik für Frauen einhergehen müsse.

Wenn aber die Unterrepräsentation historisch Ungleicher ein Demokratiedefizit hervorruft, welches lediglich durch eine proportionale Repräsentation im Parlament behoben werden könne, müsste auch die Unterrepräsentation anderer historisch exkludierter Gruppen an sich schon ein Demokratiedefizit darstellen. Die proportionale Repräsentation aller historisch exkludierter Gruppen würde jedoch den Weg dafür bereiten, wovor Cara Röhner in ihrem Beitrag selbst warnt: Das Parlament als proportionales Spiegelbild der Gesellschaft. Ohnehin ist es höchst fraglich, ob die gleichberechtigte Präsenz eines Geschlechts im Parlament ein eigenständiges demokratisches Prinzip darstellt. Denn wer in der fehlenden Repräsentation eines Geschlechts zugleich ein Demokratiedefizit erblickt, unterstellt, dass kollektive Selbstbestimmung eine Identität von Herrscher und Beherrschten erfordere (dazu auch Klaus F. Gärditz). Dieses Verständnis befördert nicht nur identitäre Politikmodelle, sondern widerspricht einem repräsentativen Demokratieverständnis. Hiernach wird kollektive Selbstbestimmung gerade nicht über eine Identität von Herrscher und Beherrschten, sondern einen Verantwortungszusammenhang zwischen beiden konstruiert. Das freie Mandat des Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) bringt dies zum Ausdruck: Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Dass die Abgeordneten dabei als „Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) agieren, klingt vielleicht ein wenig pathetisch. Für Cara Röhnerklingt es nach einem Demos in „homogener Einheit“.

Gemeinwohlbindung statt Homogenität

Die Formulierung „Vertreter des ganzen Volkes“ zielt aber nicht auf einen homogenen Demos-Begriff, sondern unterstreicht schlicht die Gemeinwohlbindung des Abgeordnetenmandats. Zugleich kann dies pluralistischer verstanden werden, als es die erste Lektüre suggeriert: Keine Gruppe und kein Interesse werden vom Grundgesetz besonders herausgestellt. Damit werden alle Bürger mitsamt ihren vielfältigen, oft konträren Positionen von allen Abgeordneten gleichermaßen vertreten. Alle Positionen werden so als im gleichen Maße berechtigt angesehen. Das Grundgesetz bekennt sich hiernach gerade nicht zu einem Volk in „homogener Einheit“, sondern zu einem Volk in legitimer Vielfalt.

Der derzeit rechtlich vorgegebene und praktizierte Prozess, der den Politiker zum Mandat führt, wird dann auch der tatsächlich heterogenen Bevölkerungsrealität am ehesten gerecht. Der Parteienpluralismus deckt die Vielzahl gesellschaftlicher Interessen und Positionen ab. Innerhalb der Parteien setzt sich diese Begegnung freier Bürger mit unterschiedlichen, aber gleich legitimen Interessen fort. Dementsprechend wird auch hier über Programmatisches gerungen. Die (Nicht-)Nominierung von Kandidaten und ihre anschließende (Nicht-)Wahl sind Teil und Fortsetzung ebendieses Prozesses.

Angesichts der heterogenen Bevölkerungsrealität können gruppenbezogene Differenzierungsmerkmale im Übrigen ohnehin nur noch schwer überzeugen. Zudem ist es paradox, wenn man nach eben solchen gruppenbezogenen Merkmalen definiert und differenziert, zu deren Überwindung man ursprünglich angetreten ist. Dass dadurch das Denken in den verpönten Differenzierungskriterien nur noch zunimmt, bringt Klaus F. Gärditz auf den Punkt: Die versierte Finanzpolitikerin wird dann nicht mehr als Finanzexpertin, sondern als Vertreterin der Frauen wahrgenommen.

Die Wahl als Entscheidung in Freiheit und Gleichheit

Wer das vermeiden will, sollte die Wahl des politischen Personals weiterhin einem ausreichend reglementierten Verfahren der parteipolitischen Selbstgestaltungskräfte überlassen. Ohnehin ist man am besten beraten, die Entscheidung über „gerechte Staatlichkeit“ grundsätzlich einem Prozess Freier und Gleicher anzuvertrauen. Dann muss man aber auch damit rechnen, dass die Beteiligten von ihrer gleichen Freiheit auch Gebrauch machen. Dem ist zwangsläufig ein offener Ausgang immanent. Wer das Ergebnis dieses Freiheitsgebrauchs durch ein Bild „gerechter Staatlichkeit“ vorzuzeichnen versucht, beschneidet ihn daher in seinem Wesen. Hinnehmen muss das Ergebnis dieses Prozesses natürlich keiner. Es bleibt möglich und geboten für den verantwortungsvollen und diskriminierungsfreien Gebrauch von freiheitlicher Demokratie zu werben. Argumente stehen dafür bereit.

Wenn es jedoch nur darauf ankommen soll, das „Meer von grauen Anzügen“ einzudämmen, wäre man mit einer neuen Kleiderordnung besser beraten als mit einer Wahlrechtsreform.


5 Comments

  1. schorsch Fri 18 Jan 2019 at 19:15 - Reply

    Zum Nachweis „aktueller Verfassungstheorie“ auf eine Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu verweisen: besser kann man die deutsche Staatsrechtslehre nicht trollen. Ich bin jetzt schon Fan und fahre zufrieden grinsend gen Wochenende.

    • Weichtier Fri 18 Jan 2019 at 22:59 - Reply

      Rn. 24. „Die Meinungsfreiheit ist für die freiheitlich demokratische Ordnung des Grundgesetzes schlechthin konstituierend. Es gilt die Vermutung zugunsten freier Rede (vgl. BVerfGE 7, 198 ; stRspr). Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Die Bürger sind daher auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden.…..“

      Nachweis „aktueller Verfassungstheorie“ hin oder her. Die Rn. 24 stellt für mich Selbstverständliches fest. Nach dem Wochenende können Sie uns ja über davon abweichende Erkenntnisse der deutschen Staatsrechtslehre ein Licht aufstecken.

      • schorsch Sat 19 Jan 2019 at 09:02 - Reply

        Der Verweis ausgerechnet auf das Lüth-Urteil, um die Freiheit des Bürgers von verfassungsrechtlichen Bindungen zu begründen: auch die Kammer hat Humor.

  2. de-mo-krat Sat 19 Jan 2019 at 18:58 - Reply

    Auch dieser Beitrag leidet leider – wie ich schon unter den Beitrag von Röhner schrieb – daran, das folgende mE wesentliche Gesichtspunkte nicht angesprochen wurden:

    „Natürlich hat Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG überhaupt keine Bedeutung für Art. 38 GG. Denn das gleiche Wahlrecht ist gesondert geregelt, so dass m.E. der im Grundrechtsteil befindliche Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG schon systematisch keine Bedeutung für die Wahlrechtsgrundsätze haben kann.

    Außerdem fehlt in dem Artikel jegliche Überlegung dazu, ob Art. 79 Abs. 3 GG (Demokratie) der Einführung einer Quote entgegensteht. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG erst später eingefügt wurde und daher Art. 79 Abs. 3 GG Vorrang hat, was dafür spricht, dass die Wahlgrundsätze des Art. 38 GG im Kern nicht durch Bundestag und Bundesrat als verfassungsändernder Gesetzgeber geändert werden dürfen.

    Was ich mich immer wundere: Warum werden nicht einfach – ohne weiteres GG-konform – familienfreundliche Arbeitszeiten für Politikerinnen und Politker gefordert, z. B. in Anlehnung an das Arbeitszeitgesetz max. 48 Stunden je Woche oder Mindestenpausen zwischen Sitzungsende und Sitzungsbeginn am Folgetag (z. B. 11 Stunden) oder Ende aller Sitzungen des Plenums und der Ausschüsse des Bundestags regelmäßig um 16.30 Uhr. Das hätte unter Umständen sogar den angenehmen Nebeneffekt, dass sich der Gesetzgeber überlegt, welche Gesetze bzw. Gesetzesänderungen wirklich dringend notwendig sind.“

  3. schorsch Sun 27 Jan 2019 at 10:35 - Reply

    Mit welchen Frauen denn?

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