„It’s the End of the World as We Know it” – Schulpflicht vs. Versammlungsfreiheit
I.
Am 20. August 2018 setzte sich die Schülerin Greta Thunberg am ersten Schultag nach den Sommerferien mit einem Schild mit der Aufschrift „Skolstrejk för klimatet” vor das Schwedische Parlament. Weltweit folgen ihr seitdem immer mehr Schüler_Innen. Anstatt sich am Ende einer anstrengenden Schulwoche im Geschichtsunterricht mit der doch eher komplexen Frage nach der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges auseinanderzusetzen, sich in Mathe mit den Untiefen der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu befassen oder sich in Deutsch von dem insgesamt doch eher depressionsfördernden Woyzeck das bevorstehende Wochenende vermiesen zu lassen, gehen auch in Deutschland Kinder und Jugendliche freitags zur Schulzeit auf die Straße, um für einen besseren Schutz des Klimas zu demonstrieren. Während sie damit auf die Unterstützung von Klimaforscher_Innen und anderen Wissenschaftler_Innen stoßen, pochen viele (Bildungs-) Politiker_Innen auf die Schulpflicht. Klimaschutz sei selbstverständlich ein wichtiges Anliegen und politisches Engagement junger (wenn auch nicht immer für mündig gehaltener) Menschen ja auch grundsätzlich zu begrüßen, gehöre aber in die Freizeit und rechtfertige keinesfalls das Schulschwänzen.
II.
So einfach ist es aus schul- und grundrechtlicher Sicht freilich nicht. Sicherlich werden die meisten derjenigen Schüler_Innen, die innerhalb der Schulzeit freitags an Demonstrationen für einen besseren Schutz des Klimas teilnehmen, schulpflichtig sein. Denn die Dauer der Schulpflicht erstreckt sich in der Regel auf einen insgesamt mindestens zwölf Jahren dauernden Besuch der Grundschule und einer auf die Grundschule aufbauenden weiterführenden Schule. Sie erfasst alle Kinder und Jugendlichen, die in dem jeweiligen Bundesland ihren Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Ausbildungs- bzw. Arbeitsstätte haben. Mit der Schulpflicht verbunden ist die Pflicht zur regelmäßigen Teilnahme am Unterricht und an den übrigen verbindlichen Veranstaltungen der Schule. Wird die Schulpflicht verletzt, stehen der Schule bzw. der Schulaufsichtsbehörde unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Reichen niedrigschwellige und schwach formalisierte Erziehungsmaßnahmen nicht aus, kann auf die in den Schulgesetzen aller Bundesländer katalogartig aufgezählten Ordnungsmaßnahmen zurückgegriffen werden. Diese setzen in der Regel eine schwerwiegende Pflichtverletzung oder eine Beeinträchtigung der Unterrichts- und Erziehungsarbeit der Schule voraus und reichen vom vergleichsweise harmlosen schriftlichen Verweis („blauer Brief“) über den zeitweisen Ausschluss von einzelnen Fächern, Veranstaltungen oder vom gesamten Unterricht bis hin zur Entlassung aus oder Überweisung in eine andere Schule. Gegenüber Schüler_Innen, die ihre Teilnahmepflichten verletzen, aber auch gegenüber deren Erziehungsberechtigten kommt daneben die Anwendung verwaltungsvollstreckungsrechtlicher Zwangsmittel, mit denen zumindest die physische Anwesenheit eines Schülers im Unterricht sichergestellt werden soll, in Betracht. Zudem können Verstöße gegen die Schulpflicht als Ordnungswidrigkeit oder in manchen Bundesländern – insbesondere bei wiederholten Verstößen – sogar als Straftat geahndet werden. Bei Eltern, die die Teilnahme ihrer Kinder am Unterricht beispielsweise aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen komplett verweigern, sind schließlich familiengerichtliche Maßnahmen wie die partielle Entziehung des Sorgerechts möglich.
III.
So weit, so nah an der rechtlich, politisch und tatsächlich unzureichenden Erklärung der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1973, in der ebenso apodiktisch wie mit autoritärem Ton dekretiert wird, dass die Teilnahme an Demonstrationen nicht das Fernbleiben vom Unterricht rechtfertige und das Demonstrationsrecht in der unterrichtsfreien Zeit ausgeübt werden könne. Denn in rechtlicher Hinsicht steht zunächst einmal außer Frage, dass sich die Schüler_Innen ungeachtet der Tatsache, dass sie sich im „Sonderstatus“ Schulverhältnis befinden, auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG berufen können. Abgesehen davon, dass die einzelne Schülerin zumeist keinen Einfluss auf die Planung einer konkreten Demonstration haben wird, ist von jenem Grundrecht neben der Wahl des Ortes ebenso zweifelsfrei auch die Bestimmung der Zeit einer Versammlung geschützt. Findet die Demonstration in der Schulzeit statt, hat man es verfassungsdogmatisch mit einer Kollision zweier Verfassungsgüter zu tun: dem den Schüler_Innen zustehenden Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG, dem auch die Schulpflicht bzw. die Befugnis der Länder zur Normierung der Pflicht der Schüler_Innen zur Teilnahme am schulischen Unterricht entnommen werden kann.
IV.
Im Rahmen eines bei einer Kollision von Verfassungsgütern geforderten „möglichst schonenden Ausgleichs“ wäre im Falle der Teilnahme von Schüler_Innen an Demonstrationen zunächst einmal an die in allen Schulgesetzen und untergesetzlichen Bestimmungen vorgesehene Möglichkeit einer kurzfristigen Beurlaubung zu denken. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen eines wichtigen bzw. dringenden Grundes, der in der Praxis häufig bejaht wird bei familiären Anlässen (runder Geburtstag, Todesfall), religiösen Veranstaltungen, Konferenzen der regionalen Schülervertretungsorgane oder sportlichen Wettkämpfen. Betrachtet man die in den Landesverfassungen und Schulgesetzen normierten Bildungs- und Erziehungsziele und führt sich nur kurz die Funktion der Schule in einer demokratischen und grundrechtsbasierten Gesellschaft vor Augen, will nicht einleuchten, warum der Besuch von Opas achtzigstem Geburtstag zwar regelmäßig die Befreiung vom Unterricht rechtfertigt, die Teilnahme an einer Demonstration zum Schutz des Klimas aber nicht. Was hier ernst genommen werden würde, wäre die oftmals poetisch-idealistische Semantik der Bildungs- und Erziehungsziele, welche von politischer Verantwortlichkeit, freiheitlich-demokratischer Gesinnung, selbständigem Handeln und Denken sowie Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt sprechen. Politische Mündigkeit mag sich auch im schulischen Unterricht vermitteln lassen, ist aber nicht weniger angewiesen auf praktische Erfahrungen. Diese müssen sicherlich nicht zwingend in der Schulzeit stattfinden. Das Verfassungs- und Schulrecht steht dem aber nicht per se entgegen. Ob die Schule (oder die sich gerade in den Medien hierzu äußernden Politiker_Innen) dem Anliegen der jeweiligen Demonstration positiv gegenüberstehen oder welche Bedeutung sie dem Anliegen beimessen, ist rechtlich irrelevant und darf bei der Entscheidung über die Beurlaubung keine Berücksichtigung finden, da entsprechende Wertungen dem Grundsatz der staatlichen Neutralität gegenüber den Inhalten grundrechtsgeschützter Versammlungen widersprächen. Problematisch ist es daher nicht, wenn Verwaltungsgerichte feststellen, dass Schüler_Innen die politische Betätigung in einem angemessenen Rahmen zu gestatten ist, weil sie nur so zu mündigen Staatsbürger_Innen erzogen werden können. Problematisch ist, wenn im gleichen Atemzug darauf abgestellt wird, dass es bei einer Demonstration um die „Wiederherstellung des Weltfriedens“ gehe (VG VG Hannover, NJW 1991, 1000) oder im Rahmen der Abwägung der kollidierenden Verfassungsgüter allgemeiner danach gefragt wird, ob „das mit der Versammlung verbundene Anliegen von allgemeiner Bedeutung und ganz besonderem Gewicht ist“ (VG Saarlouis, Urt. v. 28.8.2000, Az.: 1 K 257/98 – juris, Rn. 31).
Auf der anderen Seite ist in der Abwägung selbstverständlich dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen. Sicherlich darf der Ablauf des Unterrichts nicht dauerhaft zur Disposition demonstrierender Schüler_Innen gestellt werden. Zu fragen wäre insbesondere nach den – in der derzeitigen Diskussion aus meiner Sicht grandios überschätzten – Auswirkungen der Beurlaubungen auf den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Über jene Auswirkungen lassen sich seriöserweise kaum allgemeingültige Aussagen treffen, können sie von Klasse zu Klasse doch ganz unterschiedlich sein. Sie sind abhängig zum Beispiel vom Leistungsstand der Klasse, der Zahl der demonstrationswilligen Schüler_Innen, dem Umfang und der Häufigkeit der Absenzen oder von bereits angesetzten Klassenarbeiten.
V.
Versäumen es Schüler_Innen bzw. deren Erziehungsberechtigte, eine entsprechende Beurlaubung zu beantragen oder nehmen Schüler_Innen trotz zuvor abgelehnter Beurlaubung während der Schulzeit an einer Demonstration teil, bleibt den Schulen als Reaktionsmöglichkeit vor allem die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen. Diese unterliegen dem Opportunitätsprinzip, d.h. sie können, müssen aber nicht getroffen werden. Ob und wie die Schule auf eine Störung reagiert, ist im Wesentlichen eine Frage der Zweckdienlichkeit. Zweckdienlich scheinen mir Ordnungsmaßnahmen in den Fällen der Teilnahme an einer Demonstration während der Unterrichtszeit jedoch gerade nur sehr eingeschränkt. Die verhängten Ordnungsmaßnahmen müssen zunächst an ein individuelles Fehlverhalten anknüpfen, dürfen also nicht als Kollektivstrafe verhängt werden und im Übrigen auch keinen Straf- oder Vergeltungscharakter haben. Werden sie anknüpfend an ein Fehlverhalten und mit einer erzieherischen Intention verhängt, gleichwohl aber gegenüber einer Vielzahl von Schüler_Innen, dürften sie von den Betroffenen wohl nicht besonders ernst genommen werden oder bei diesen gar zu Solidarisierungs- und Bestärkungseffekten führen. Bestimmte Ordnungsmaßnahmen, wie etwa der zeitweise Unterrichtsausschluss, erscheinen als pädagogisch geleitete Reaktion auf die nicht erwünschte Teilnahme an einer Demonstration während der Unterrichtszeit schlicht sinnwidrig und könnten gegenüber Eltern und der Öffentlichkeit vermutlich auch nicht lange durchgehalten werden. Würde man aber nicht schon über die Beurlaubungsmöglichkeiten zu einem Ausgleich der kollidierenden Verfassungspositionen kommen, müsste schließlich das Grundrecht der Versammlungsfreiheit von der Schule zwingend im Rahmen der Entscheidung über die Verhängung einer Ordnungsmaßnahme berücksichtigt werden. Viel rauskommen dürfte dann, zumal angesichts der Geringfügigkeit des begangenen Verstoßes und dessen geringer Auswirkungen auf den Unterrichtsbetrieb, wohl kaum.
VI.
Das (Schul-)Recht im Allgemeinen und die Schulpflicht im Besonderen erweisen sich damit bei genauerer Betrachtung keineswegs als Instrumente, mit denen das politische Engagement von Kindern und Jugendlichen, die freitags für einen besseren Schutz des Klimas auf die Straße gehen, unterbunden werden kann.
Servus, Felix! Musste lachen, weil ich vor ein paar Wochen zu ähnlichen Schlüssen kam: https://www.manuela-rottmann.de/dialog/blog/fridays-for-future-was-kann-mir-passieren-wenn-ich-streike/ Einmal Goethe-Uni, immer Goethe-Uni. Danke für den Beitrag!
Hallo Manuela, danke für den Link zu Deinem Beitrag! In der Tat, beinahe identische Schlussfolgerungen. Das kann wohl wirklich nur an der akademischen Sozialisation liegen ;-) Viele Grüße, Felix
Die Anwesenheitspflicht während der Versammlung an einem anderen Ort ist doch sachlich vom Schutzbereich viel zu weit entfernt, als dass man hier abwägen müsste. Ansonsten würde jede Ladung zu einer Gerichtsverhandlung zugleich meine Meinungsäußerungsfreiheit beschränken, weil ich nicht zur Terminsstunde der ReNo einen Vortrag halten kann.
Sehr geehrter Herr Bohr,
der Unterschied scheint mir darin zu liegen, dass die Anwesenheitspflicht infolge einer Ladung zu einer Gerichtsverhandlung in zeitlicher Hinsicht und hinsichtlich der Intensität des Eingriffs in Grundrechte der jeweils Betroffenen nicht vergleichbar ist mit der über Art. 7 Abs. 1 GG legitimierten Pflicht zur Anwesenheit in der Schule. LG, Felix Hanschmann
Lieber Felix, danke für Deinen schönen Beitrag. Meine jüngere Tochter wird sich freuen. Ich halte es dennoch mit Klaus-Rainer Röhl, der in den Fußstapfen von Kriele meint, dass Opferbereitschaft demonstriert sein will. https://www.rsozblog.de/gratulation-an-greta-thundberg/
Viele Grüße
Olaf
Lieber Olaf, das sagt neben Klaus F. Röhl und Martin Kriele auch immer mein Doktor- und Habilvater: Protest muss weh tun ;-) Viele Grüße, Felix
Ja, wo er recht hat. Sage ich als alter FFer Hiwi am Lehrstuhl AvB. Grüße auch an Manuela Rottmann ;)
Sorry Klaus F.Röhl
Danke für die Gegenüberstellung von Versammlungsfreiheit und Schulpflicht.
Jedoch überzeugen die Ausführungen aus mehreren Gründen überhaupt nicht, da Sie sich in entscheidenden Punkten selber widersprechen und die Darstellung von schulrechtlichen Regelungen lückenhaft ist.
Zunächst geht es nicht -wie suggeriert- darum, dass das “politische Engagement von Kindern und Jugendlichen […] unterbunden werden kann.”
Bestenfalls handelt es sich um einen Konflikt zwischen Pflichten und Rechten von SchülerInnen, wie Sie ja weiter oben auch richtig feststellt haben. Warum er es zum Abschluss der Ausführungen als plumpes und unlauteres “unterbinden von Engagement” bezeichnet wird, ist nicht nachvollziehbar und ärgerlich.
Ferner widersprechen Sie sich bei den Auswirkungen des Fernbleibens auf den Unterricht, indem Sie zunächst sagen, dass sich darüber keine allgemein gültigen Aussagen treffen ließen, aber zum Abschluss der Ausführungen diese allgemeingültig als “gering” bezeichnen. Das ist ärgerlich, weil Sie dadurch den Schulen die Möglichkeit absprechen, es anhand der konkreten Situation selbst zu beurteilen.
Den Ausführungen zu Beurlaubungen und Sanktionen bei unerlaubtem Fernbleiben möchte zwei Ergänzungen anbringen.
Beurlaubung:
Anders als dargestellt, lassen (die mir bekannten) Schulgesetze es durchaus zu, dass sich SchülerInnen während der Schulzeit politisch betätigen. Eine Beurlaubung wird aber unter den grundsätzlichen Vorbehalt der Vereinbarkeit mit dem Leistungsstand und der pädagogischen Situation gestellt. Ein Anspruch auf eine Beurlaubung existiert in diesem Fall nicht. Weder für Demonstrationen, noch für “Opas achtzigsten Geburtstag”.
Unerlaubtes Fernbleiben:
Sie erwecken den Eindruck, dass es von Seiten der Schule nur Sanktionsmöglichkeiten gäbe, die entweder überzogen, pädagogisch nicht angebracht oder zu abstrakt in der Wirkung seien. Dabei lassen Sie aber eine ganze Reihe von möglichen Sanktionen aus.
Lange bevor Ordnungsmaßnahmen greifen, wird das unerlaubte Fernbleiben vom Unterricht bereits sanktioniert durch Protokollieren von unentschuldigten Fehltagen, die dann auf dem Zeugnis aufgeführt werden. Und ferner werden Leistungsüberprüfungen bei unentschuldigtem Fehlen mit “ungenügend” gewertet. Sollen die Zeugnisse bei einer Bewerbung vorgelegt werden, sind das durchaus sehr ernste Konsequenzen, die sogar pädagogisch zwingend nötig sind.
Eine Ordnungsmaßnahme, die der Autor unberücksichtigt lässt, ist der Ausschluss von Klassenfahrten, die nach unerlaubtem Fernbleiben durchaus pädagogisch Angebracht sein kann.
Abschließend finde ich es nicht überzeugend die Sache als Konflikt zwischen Grundrecht und Schulpflicht darzustellen. Art. 8 GG schützt davor, wegen der Teilnahme an einer Demonstration bestraft zu werden. Er schützt aber nicht vor Sanktionen wegen Pflichtverletzungen, die dadurch begangen werden.
Warum fällt eigentlich in dem Zusammenhang der Begriff des Zivilen Ungehorsams gar nicht mehr? Das sind doch Verhaltensweisen, die in einer bestimmtem Tradition stehen, auf die man sich durchaus beziehen sollte. Es wäre nicht die schlechteste Hausnummer von allen, die in Frage kommen.
Wenn andere Schüler etwa aus Protest gegen Zuanderung in zivilem Ungehorsam Schule bestreiken, kann für Lehrer in grundsätzlich vorgegebener, politischer Neutralität ein Dilemma bestehen….
Da in den Kommentaren nun mehrfach nach “zivilem Ungehorsam” gefragt worden ist: mein Beitrag wollte nicht suggierieren, dass es nicht auch “zivilen Ungehorsam” gibt, welcher den Regelbruch und die damit einhergehende Sanktionierung in Interesse der Generierung von Aufmerksamkeit bzw. der Skandalisierung bestimmter Zustände quasi als inhaltlichen Bestandteil des Protestes enthält. Das wäre ja auch gerade dann der Fall, wenn Schüler_Innen Ordnungsmaßnahmen seitens der Schule bewusst hinnehmen, um die Aufmerksamkeit für ihren Protest womöglich noch zu steigern. LG, Felix Hanschmann
Lieber Herr Hanschmann,
herzlichen Dank für Ihren anregenden Beitrag! Ich bin allerdings nicht sicher, ob er das Spezifikum der in Deutschland soeben angelaufenen Freitags-Demos vollständig aufnimmt. Dieses besteht doch gerade darin, dass am Freitag (und nicht am Wochenende) demonstriert wird, und zwar wohl nicht nur zeitlich begrenzt auf einen einzigen Freitag sondern möglicherweise auf Dauer. Dies bedeutet: In dem Aufbau einer Drohkulisse liegt die Hauptaussage der Demos. Reagierten Schulen darauf mit pauschaler Gewährung von Beurlaubungen unter Verweis auf das Erziehungsziel eines ökologischen Bewusstseins, wäre das gegenwärtige Protestformat seines eigentlichen Kerns beraubt, um dessen willen es gegenwärtig aber überhaupt (nur) die Aufmerksamkeit der Medien erlangt. Verantwortungsbewussten Lehrern, welche die Anliegen ihrer Schüler ernst nehmen, andererseits aber immerhin die Aufgabe haben, diesen regelkonformes Verhalten beizubringen und für die Stoffbewältigung jedenfalls nicht auf Dauer auf einen ganzen Vormittag in der Woche verzichten können, bleibt daher wohl wenig anderes übrig als für Freitagnachmittage “Nachsitzen”, d.h. Nacharbeit unter Schulaufsicht, anzuordnen, auch wenn dies auf Kosten ihrer eigenen Freizeit geht. Natürlich sind solche Maßnahmen immer Frage einer Verhältnismäßigkeit im Einzelfall. Aber gerade bei diesem Format muss Protest schon deshalb weh tun, damit man ihn ernstnimmt.
Viele Grüße
Anna Leisner-Egensperger
Liebe Frau Leisner-Egensberger,
Ihren Ausführungen kann ich nur zustimmen. Die Aussage, dass der Protest ja nicht zufällig während der Schulzeit stattfindet, sondern Teil des Potestes ist, weil so eine besondere Aufmerksamkeit für das Anligen der Proteste erzeugt wird, ist absolut zutreffend. Dogmatisch interessant wäre es daher dann vielleicht, daran zu denken, dass gerade aus diesem Grund dem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG in der Abwägung eine besondere Bedeutung zukommt.
Vielleicht nur noch als Hinweis in diesem Zusammenhang und weil Sie es erwähnen: das Nachsitzen ist nur in Baden-Württemberg als förmliche Ordnungsmaßnahme im Schulgesetz erwähnt, in allen anderen Bundesländern zählt es zu den pädagogischen bzw. Erziehungsmaßnahmen, die ohne Beachtung besonderer Formvorschriften und gerade zur Kompensation versäumten Unterrichts oder Lernrückständen angeordnet werden kann. Viele Grüße, Felix Hanschmann
Noch deutlich vor der formal-rechtlichen Betrachtungsweise scheinen mir 2 Fragen besonders relevant:
a) Wie viele von den Schülern würden wohl zu diesen Demos gehen, wenn es nicht in der Schulzeit wäre?
b) Wie würde das ganze Thema wohl betrachtet werden, wenn es sich nicht um linke Agenden handeln würde? Was, wenn die Schüler z.B. für drastisch niedrigere Steuern und die Entlassung überflüssiger Beamte, die Schließung nutzloser Behörden, für das Verbot der Verwendung von Steuergeldern zur Finanzierung von Parteistiftungen oder für die Abschaffung des ÖR etc. demonstrieren würden?
Das immer wieder vorgebrachte Argument, die Schülerinnen und Schüler würden an den Demonstrationen nur teilnehmen, weil sie dadurch die Schule schwänzen können, und die Unterstellung, an einem Samstag würden sie das wohl nicht tun, ist mit Blick auf die Tatsachen völliger Käse. Die Demonstrationen am vergangenen Freitag z.B. endeten teils gegen 16 Uhr. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler wird freitags nicht so lange Unterricht haben.
@Hans Reinwatz: Soso. Der Beweis Ihrer These wäre ja sehr leicht zu erbringen. Sollen die einfach mal ab sofort immer zu solchen Uhrzeiten demonstrieren, dass keiner von denen den Schulunterricht verpasst. Dann werden wir ja sehen.
Der Beweis der These wurde doch bereits am 15.03 in Hamburg erbracht als trotz der Schulferien in Hamburg bis zu 9.000 Schülerinnen und Schüler für eine andere Klimapolitik demonstriert haben. https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Fridays-for-Future-Tausende-bei-Demo-in-Hamburg,fridaysforfuture168.html
Es sollte weniger um Interessenausgleich gehen, weil Schulpflicht kein Interesse ist, auf welches ein (Grund-)Recht für den Staat besteht.
Grundsätzlich kann hier Demonstrationsfreiheit vorliegen.
Die Demonstrationen finden nur gerade zur Schulpflichtzeit steht, um bessere Wirkung dadurch erzielen zu können.
Teilweises Nichtfunktionieren des Staates wird daher quasi sachfremd nur zur Wirkungssteigerung von Demonstrationen instrumentalisiert.
Das sollte bei einer Abwägung grundsätzlich weniger rechtlich verhältnismäßig zulässig erscheinen können.
Ein solches Vorgehen sollte daher von Rechts wegen grundsätzlich verhältnismäßig zu unterbinden sein können.
Zu berücksichtigen sollte dabei allerdings noch grundsätzlich stets ein Schulfrieden sein, welcher durch unverhältnismäßiges Einschreiten nicht stärker gefährdet sein sollte.
Einem verhältnismäßig an den Einzelnen Schulen begrenzterem, entsprechenden “Rechtsverstoß” sollte daher eventuell, nichtzuletzt angesichts weltweit “verstärkt aufgeheizt betroffener Massen”, grundsätzlich eher wiederum nur ebenso verhältnismäßig schonender zu begegnen sein können.
Ein “Rechtsverstoß” von Schülern kann nur untergehen, weil viele Lehrer sich gerade nach Lehrinhalten mit Demonstrationszielen besonders identifizieren müssen und damit quasi “befangen” scheinen….
Eine Sache, die bisher noch nirgendwo angesprochen wurde (soweit ich das nicht übersehen habe):
Dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 GG iVm Art. 8 Abs. 2 GG wird in den zwei von mir überschlägig eingesehenen Schulgesetzen (SH und NRW) nicht genüge getan. Art. 8 GG wird durch die Schulgesetze nicht explizit eingeschränkt. Soweit Grundrechtsmündigkeit vorliegt, wäre daher aus meiner eine Sanktion auf Basis des jeweiligen SchulG aufgrund der Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit von vornherein verfassungswidrig. Meinungen hierzu?
Weiterhin: Die “fridays for future”-Demos befassen sich thematisch mit der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG. Dies wäre in einer etwaigen Abwägung zu Gunsten der Schüler zu berücksichtigen. Meinungen hierzu?
(Bitte qualifizierte rechtliche Auseinandersetzung und kein politisches Blabla wie bei einigen anderen Antworten hier).
Vorschlag:
Schulpflicht scheint weitergehnd als nur versammlungsbeschränkend. Hierdurch können also Versammlungen als solche weniger allein gezeilt unmittelbar beschränkt sein.
Es kann eher nur mittelbar beschränkende Wirkung in Betracht kommen.
Solche soll nach umstrittener Rspr. grundsätzlich bereits verfassungsimmanent staatlich aus dem Prinzip einer staatsleitung beschränkbar sein können o.ä.
Eines Zitiergebotes kann es soweit dafür grundsätzlich vielleicht weniger bedürfen.
Dies damit eventuell ebenso nicht bei Maßnahmen nach den Schulgesetzen.
Maßnahmen nach dem Schulgesetzen können zudem weniger inhaltsbezogen scheinen, sondern mehr auf den Umstand eines Verstoßes gegen eine Schulpflicht gründen.
Ohne solchen verstoß blieben entsprechende Versammlungen grundsätzlich unbeschränkt.
Inhaltliche Gesichtspunkte von Versammlungen sollten hier daher grundsätzlich eher nur allenfalls mit bedenkenswert, aber weniger letztentscheidend scheinen können.
Wenn man meint, dass der Gegenstand der Demonstration irrelevant ist, wäre auch eine Teilnahme an einem Pegida-Marsch, einer Demonstration für einen Sieg von Borussia Dortmund beim nächsten Bundesliga-Spiel oder die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 rechtlich zulässig und sanktionsfrei.
Kann man gut finden.
Oder man kann würdigen, welchen Teufel die angeführten Gerichtsentscheidungen m. E. in der Flasche zu halten versucht haben.
Nur zur Klarstellung: Ich bin für Klimaschutz, für die hier gegenständliche Demonstration und bin als Schüler selbst gegen den damals aktuellen nutzlosen Krieg in der Schulzeit auf die Straße gegangen.
Der Inhalt einer Demonstration muss also für ihre Zulässigkeit erheblich sein, um inhaltlich über ihre Zulässigkeit entscheiden zu können?
D.h. der Inhalt einer Demonstration muss für ihre Zulässigkeit erheblich sein, weil er dafür erheblich sein muss?
Die Ostpreußen jammern über den Schneemangel im Rheintal. Die antiken Ptolemäer-Aufstände und die neuzeitliche Halsgerichts-Ordnung zeigen, dass nicht jeder mit dem Wetter zufrieden ist. Die südamerikanischen Indianer opferten 100 Kinder und 100 Lamas, um El Nino zu bekämpfen. Der junge Kinderkreuzzug deutet auch nicht auf eine Wetterbesserung hin.
Nur eine kleine Anmerkung: wir haben nur eine 10jährige Schulpflicht, keine zwölfjährige.
Welches Druckmittel haben die Kinder denn sonst? Ich sehe nur das Eine. Wenn die Erwachsenen mit Ihren “Arbeitgebern” unzufrieden sind, streiken sie letztenendes auch und gehen nicht zur “Arbeit”. Dies ist aber legitim.
Ich wäre sehr dafür, den Kindern / Jugendlichen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu gewähren auch während der Schulzeit ab einem gewissen Alter. Jugendliche sind mit 14 religionsmündig, bekommen ohne Probleme für kirchl. Veranstaltungen schulfrei, dürfen/können aber nicht mit Nachdruck Ihre Meinung kundtun für die Themen, die sie auch noch beschäftigen? Das ist absolut nicht gerecht, zumal das Klima wirklich jeden etwas angeht.
Die Schulpflicht ist im Grunde gut, sollte aber etwas an die Zeit angepasst werden mit z. B. einer Anzahl an “frei wählbaren” Ferien-/Urlaubstagen, die auch ohne Begründung und Entschuldigung auskommen für den Geburtstags des Opas, die Demo am Vormittag, den notwendigen Arztbesuch usw.
Sehr schöner Problemaufriss.
Die Problematik ist äußerst geeignet für öffentlich-rechtliche Examensklausuren und Ihr Artikel zeigt Argumente für beide Seiten
Vielen Dank!
Ich bin Rektor einer Grund- und Mittelschule in Bayern und finde den Hauptartikel und die Diskussion zu den Freitagsdemos grundsätzlich hilfreich. Der Gegensatz von Schulpflicht und dem, was ich erst mal abstrakt als das “Anliegen” der SchülerInnen bezeichnen möchte, steht und stand mir natürlich immer vor Augen. Grundsätzlich bin ich dafür, dass sich auch die SchülerInnen meiner Schule mit dem Anliegen solidarisieren und – mehr wollen sie bislang nicht – punktuell teilnehmen. Dabei sind mir immer zwei Dinge wichtig. Erstens mein pädagogischer Ansatz, dass die Demonstrierenden auch in ihrem täglichen Leben zeigen, dass sie nach dem handeln, was sie fordern (u.a. weitgehender Verzicht auf Urlaubsflüge oder Papataxi). Zweitens die Dringlichkeit, die hinter dem Anliegen steht; das ist jetzt vielleicht was für Juristen: Die Stellungnahmen von Tausenden von Wissenschaftlern sollten Grundlage genug für die Behauptung sein, dass die Folgen des Klimawandels imminent sind. Dieser ist kein mögliches Szenario, sondern sich vollziehendes Geschehen, wenn nicht schleunigst eingegriffen wird (z.B. https://www.scientists4future.org/ und https://science.sciencemag.org/content/364/6436/139.2). Von daher besteht in der Gefühlswelt der Protestierenden, aber auch – so sehe ich das – objektiv eine Notsituation. Greta Thunberg hat das zutreffend in einem Bild behautet: „Ich möchte, dass ihr in Panik geratet. Ihr sollt die Angst spüren, die ich jeden Tag spüre. Und ich möchte, dass ihr handelt. Dass ihr so handelt wie in einer Krise. Ich möchte, dass ihr handelt, als wenn unser Haus brennt. Denn es brennt bereits.“ Von daher können die Jugendlichen für sich reklamieren, in Notwehr zu handeln (sage ich als juristischer Laie). Das macht für mich auch den wesentlichen Unterschied aus, wenn ich – was ich für blöd halte – immer mal wieder gefragt werde: “Und wie entscheiden Sie, wenn die SchülerInnen für einen neuen Skaterpark oder freien Zugang zum Internet oder … (fill in your concern here) auf die Straße gehen?” Für mich macht es sehr wohl einen Unterschied, ob die Lebensgrundlagen bedroht sind oder nicht. Und nach allem, was ich seit dem ersten Bericht des Club of Rome dazu gehört, gesehen und gelesen habe, ist das hier der Fall. Also frage ich die Juristen: Notlage oder nicht? Macht das einen Unterschied? Falls ja, welche Folgerungen ergeben sich daraus?