27 May 2019

Ein Rückschritt im Dialog der Gerichte: Der BGH übergeht den EGMR

Der Dialog zwischen dem BGH in Karlsruhe und dem EGMR hat spätestens seit den Urteilen aus Straßburg von Hannover gg. Deutschland und von Hannover gg. Deutschland Nr. 2 gut funktioniert (siehe z.B. VI ZR 286/04; VI ZR 439/17). In einem Urteil aus dem letzten Monat scheint der III. Zivilsenat des BGH dagegen den Blick über den Rhein zu scheuen. Bei der Frage, ob ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vorliegt, verlässt er sich ausschließlich auf seine eigene Rechtsprechung und übergeht den EGMR.

Was ist geschehen?

Am 18. April 2019 hat der BGH entschieden, dass eine in Abschiebehaft genommene Person keinen Anspruch auf Entschädigung nach Art. 5 Abs. 5 EMRK hat, wenn sie unter Verstoß gegen das Trennungsgebot (Art. 16 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG, § 62a AufenthG) nicht in einer besonderen Hafteinrichtung untergebracht wird.

Geklagt hatte ein über die Slowakei nach Deutschland geflohener Afghane, der auf Antrag der Bundespolizei zur Sicherung seiner Zurückschiebung für insgesamt 27 Tage in der gesonderten Abteilung für Abschiebegefangene der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim inhaftiert war. Das Landgericht München I hatte die Haftentscheidung des Amtsgerichts aufgehoben und stellte später die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung fest. Seiner Einschätzung nach habe es keinen Hinweis darauf gegeben, dass sich der Kläger der Rückführung entziehen wollte.

Die Klage des afghanischen Flüchtlings auf Haftentschädigung wegen der rechtswidrigen Haft gegen den Bund und das Land hatte in zwei Instanzen teilweise Erfolg. Der BGH hat die Klage in der Revisionsinstanz nun jedoch insgesamt abgewiesen. Eine Haftung des Bundes scheide von vornherein aus, weil nur der Hoheitsträger hafte, dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ausgeübt werde. Im Gegensatz zu den Instanzgerichten war er weiter der Auffassung, die Entscheidung des Landgerichts München I sei für den nachfolgenden Entschädigungsprozess mangels Beteiligung des Landes im Verfahren über die Freiheitsentziehung nicht bindend. Der BGH verneinte schließlich eine objektiv konventionswidrige Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 5 Abs. 5 EMRK und bestätigte – anders als das Landgericht München I – die Prognoseentscheidung des Amtsgerichts. Auch in dem Verstoß gegen das Trennungsgebot liegt nach Ansicht des BGH keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK, die einen Anspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK begründen könnte. Zwar sieht Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG vor, dass Abschiebehäftlinge grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden müssen. Der BGH hat sich nun aber auf den Standpunkt gestellt, dass ein Verstoß gegen das Trennungsgebot nicht konventionswidrig sei. Er begründet dies erneut damit, dass Art. 5 Abs. 5 EMRK im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention und nach der Senatsrechtsprechung nur die Freiheitsentziehung als solche und nicht den Haftvollzug oder die Modalitäten der Haft betreffe. Diese Argumentation ist unvollständig und daher nicht überzeugend.

Keine Bindung an die Entscheidung des Landgerichts München I?

Zum einen nimmt der BGH an, dass die Entscheidung des Landgerichts München I keine Bindungswirkung zulasten des Landes im Entschädigungsprozess entfalte, da das Land im Verfahren über die Freiheitsentziehung nicht beteiligt war, sondern eine Bundesbehörde, namentlich die Bundespolizei. Dies wirft zumindest die Frage auf, ob die föderale Ordnung und die Gerichtsorganisation tatsächlich dazu führen können, dass der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung durch das Landgericht München I nur eine beschränkte Wirkung zukommt. Schließlich ist das im Entschädigungsverfahren beklagte Land zugleich Hoheitsträger desjenigen Gerichts, welches die Rechtswidrigkeit der Haft festgestellt hat. Hier darauf abzustellen, dass (nur) eine Bundesbehörde in dem Verfahren über die Freiheitsentziehung beteiligt war, passt außerdem nicht recht zur Argumentation im Hinblick auf die fehlende Passivlegitimation des Bundes: Der Senat hält in diesem Punkt die Beteiligung der Bundesbehörde in dem Verfahren über die Freiheitsentziehung gerade nicht für geeignet, eine Haftung des Bundes zu begründet.

Fehlender Blick nach Straßburg

Vor allem aber setzt sich der Senat bei seiner weiteren Prüfung, ob die Haft rechtmäßig im Sinne von Art. 5 Abs. 1 EMRK war, nicht mit der Rechtsprechung des EGMR auseinander, der zufolge sich Haftbedingungen auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken können. So prüft der EGMR einen Verstoß gegen das Trennungsgebot als Rechtmäßigkeitsanforderung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Der BGH hingegen geht in seinem Urteil schon nicht darauf ein, weshalb bei einem Verstoß gegen das Trennungsgebot überhaupt Haftbedingungen in dem vom Senat verstandenen Sinne betroffen sein sollen.

Nach Art. 5 Abs. 5 EMRK haben Betroffene einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch wegen rechtswidriger Freiheitsbeschränkungen durch die öffentliche Hand. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden der handelnden Amtsträger, sondern allein auf einen objektiven Konventionsverstoß an (Rn. 10 und Rn. 22 bis 25).

In der folgenden Beurteilung, ob ein objektiver Konventionsverstoß vorliegt, begründet der BGH bereits nicht, weshalb er als Revisionsgericht die Prognoseentscheidung des Landgerichts München I zugunsten der Prognose des Amtsgerichts meint verwerfen zu können. Darüber hinaus verweist der Senat lediglich auf seine eigene Rechtsprechung aus den Jahren 1993 und 2013, ohne auf die Rechtsprechung des EGMR einzugehen. Diese Methodik überzeugt nicht. Es irritiert, dass der BGH meint, einen Anspruch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention prüfen zu können, ohne die Auslegung dieser Norm durch den EGMR zu berücksichtigen. So kann auch das Ergebnis nicht überzeugen.

Die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 5 EMRK bestimmt sich in erster Linie nach den in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 1 bis 4 EMRK aufgestellten Maßstäben. Dass sich Art. 5 EMRK im Grundsatz nicht mit Haftbedingungen befasst, steht dabei außer Frage (vgl. nur Karpenstein/Meyer-Elberling EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 5 Rn. 12).

Für eine rechtmäßige Haft nach Art. 5 Abs. 1 lit. d bis f EMRK müssen aber die Haftbedingungen im Einklang mit dem behaupteten Haftzweck stehen: So ist die Haft eines Jugendlichen in einer Haftanstalt statt in einer zur tatsächlichen überwachten Erziehung geeigneten Spezialeinrichtung unrechtmäßig und stellt einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK dar (so schon EGMR, Urteil vom 29. Februar 1988, 9106/80, Bouamar gg. Belgien, Rn. 50-53). Auch in Bezug auf die nachträglich angeordnete Sicherheitsverwahrung führt der EGMR aus, die Freiheitsentziehung einer psychisch kranken Person könne nur in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung rechtmäßig sein. Eine Unterbringung in einer normalen Justizvollzugsanstalt sei jedoch rechtswidrig, da sie nicht dem Zweck der Freiheitsentziehung entspreche (EGMR, Urteil vom 13. Januar 2011, 17792/07, K. gg. Deutschland, Rn. 46 und 57; EGMR (GK), Urteil vom 4. Dezember 2018, 10211/12, Ilnseher gg. Deutschland, Rn. 138).

Für die Abschiebe- und Auslieferungshaft nach Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK hat der EGMR festgestellt, dass die Inhaftierung „in gutem Glauben vorgenommen werden und strikt auf den Zweck abgestellt sein [muss], eine unerlaubte Einreise des Betroffenen zu verhindern“. Das bedeutet auch, dass Ort und Bedingungen der Tatsache angemessen Rechnung tragen müssen, dass die Inhaftierung nicht Straftäter betrifft, sondern „Ausländer, die häufig unter Angst um ihr Leben aus ihren Heimatländern geflohen sind“. Darüber hinaus muss die Dauer der Haft zum Erreichen des Zwecks notwendig sein (EGMR (GK), Urteil vom 29. Januar 2008, 13229/03, Saadi gg. Großbritannien, Rn. 74). Schon in Ahmade gg. Griechenland hat der EGMR festgestellt, dass eine Abschiebehaft unter Bedingungen, die Art. 3 EMRK verletzen, auch gegen Art. 5 EMRK verstößt (Urteil vom 25. September 2012 – 50520/09, Rn. 144). Art. 3 EMRK und Art. 5 EMRK schließen sich also nicht gegenseitig aus. Dies hat der EGMR Anfang des Jahres erneut klargestellt: Die Modalitäten der Haft können sowohl eine Verletzung von Art. 3 EMRK als auch von Art. 5 EMRK darstellen (EGMR (GK), Urteil vom 31. Januar 2019, 18052/11, Rooman gg. Belgien, Rn. 213).

Der BGH sieht das leider anders.

Hinzu kommt der Verstoß gegen EU-Recht, den der Senat bagatellisiert. Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG bestimmt, dass Abschiebehäftlinge grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen sind. Hierzu hat der EuGH auf eine Vorlage des BGH hin entschieden, dass die Vorschrift dahin auszulegen ist, dass in föderal strukturierten Staaten illegal aufhältige Drittstaatsangehörige auch dann in einer speziellen Hafteinrichtung in Abschiebungshaft zu nehmen sind, wenn die zuständige föderale Untergliederung über keine solche Hafteinrichtung verfügt (EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014, C-473/13 und C-514/13). Der Senat zitiert in diesem Zusammenhang auch die Rechtsprechung des V. Senats, wonach die Anordnung einer Sicherungshaft schon dann zu unterbleiben hat, wenn eine unionsrechtswidrige Unterbringung bevorsteht – mit anderen Worten ist die Haft dann nicht rechtmäßig. Der III. Senat stellt weiter aber apodiktisch fest, dass es sich dennoch um keinen Fall des Art. 5 Abs. 5 EMRK handle, weil die Haft eben nicht grundsätzlich unzulässig gewesen sei.

Kein Vorbild für die Instanzgerichte

Der BGH hätte die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 1 EMRK genauer in den Blick nehmen und sich für den Fall, dass er dieser Rechtsprechung nicht folgen will, mit ihr argumentativ auseinandersetzen müssen. Indem sich das Urteil dazu ausschweigt – es wird in diesem Zusammenhang kein einziges Urteil des EGMR zitiert –, entsteht der Eindruck, die Rechtsprechung des EGMR sei nicht verarbeitet worden. Die Annahme des BGH, seine Interpretation von Art. 5 Abs. 5 EMRK sei durch die „Systematik der autonom auszulegenden Europäischen Menschenrechtskonvention und [der] Senatsrechtsprechung“ (Rn. 35) gedeckt, verstärkt diesen Eindruck – obliegt die (autonome) Auslegung der EMRK doch allein dem EGMR, was sich schon aus Art. 19 EMRK ergibt.

Stöhnen die Instanzgerichte bisweilen über die zunehmende Komplexität und Verschachtelung der Rechtsquellen und Rechtsprechung, mag dies unter der Last des schnellen Alltagsgeschäfts noch nachvollziehbar sein. Vom BGH allerdings ist zu erwarten, dass er es nicht an einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR mangeln lässt.


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