23 June 2019

Grundrechtsentzug gegen Rechtextremisten – Die stumpfe Waffe der streitbaren Demokratie

Bundesinnenminister Seehofer möchte den Vorschlag prüfen, Demokratiefeinden Grundrechte zu entziehen. Einen entsprechenden Vorstoß hatte der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber unternommen. In Artikel 18 des Grundgesetzes, der laut Tauber noch nie angewendet wurde, heißt es: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“

Der Beitrag möchte dazu zwei gewiss diskussionsbedürftige Thesen antesten.

1. Welche Grundrechte?

Dass die Freiheits- und Gleichheitsgarantien des Grundgesetzes jedenfalls, soweit sie nicht auf Deutsche begrenzt sind, für Alle gelten sollen, war und ist Allgemeingut. Ebenso auch, dass die Berechtigung unabhängig von der Art und Weise ihrer Ausübung gelten soll. Sie sind als Mindestgarantien konzipiert, welche für erwünschte und unerwünschte politische und gesellschaftliche Anschauungen zum Tragen kommen sollen. Sie schützen also die Freiheit der Einzelnen wie auch die Vielfalt der und die Freiheit in der Gesellschaft und im Volk. Das sind Errungenschaften, welche gerade den Verfassunggebern wichtig waren in Auseinandersetzungen mit den Totalitarismen, deren Betroffene und Zeitzeugen allzu Viele von ihnen selbst waren. 

Dass diese Grundsätze ganz besonders für die Meinungsfreiheit gelten, hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht stets betont. Diese Einsicht ist ein maßgeblicher Entwicklungspfad seines Konzepts einer positiven Zuordnung von Freiheit und Demokratie von Lüth bis heute. Und um die Meinungsfreiheit – manchmal auch die Versammlungsfreiheit – geht es aktuell. Umfasst sie auch die Freiheit zur hate-speech, welche anderen nicht nur die gleiche Meinungsfreiheit abspricht, sondern auch weitere Rechte bis hin zur physischen Existenz, ihres Lebens und ihrer Gesundheit? Wir können sicher sein: Morddrohungen gegen Politiker und tatsächliche oder vermeintliche Gegner, die öffentliche Billigung von Straftaten gegen sie und Herabwürdigungen als „Vaterlandsfeinde“ oder „Verräter“ hat es an manchen Stammtischen wohl schon lange gegeben. Nun werden sie im Netz öffentlich und so nicht nur den potentiell Betroffenen, sondern auch einem diffusen Umfeld bekannt, welches nicht mehr von der wechselseitigen Erwartung der vielen Stammtischbrüder und weniger -schwestern kontrolliert wird, alles bliebe unter ihnen und so schlimm seien sie ja gar nicht. Die „Netzgemeinde“ ist auch nicht besser als die Menschen insgesamt, auch in ihr gibt es gute und schlechte Absichten, gute und schlechte Handlungen und gute und schlechte Menschen. Es fehlt in ihr aber die soziale Kontrolle, welche manche face-to-face-Community im Zaum hält – und andere sich radikalisieren lässt. Die Meinungen können dieselben sein. Die Wirkungen ihrer Äußerungen im, Netz, in halb oder ganz oder öffentlichen Foren, können verschieden sein.

Die Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts war lange uneindeutig. Sie hat es in Auseinandersetzung mit dem OVG Münster stets abgelehnt, die Intentionen der Grundrechtsnutzer zur Voraussetzungen oder zum Maßstab ihrer Grundrechtsberechtigung zu machen. Inzwischen haben sich die Positionen angenähert: Was die einen als Schutzbereichsproblem, sahen, sehen die anderen als Frage der Schranken. Bewährungsprobe des Grundrechtsschutzes ist die Formel, wonach eine Grenze erreicht ist, wenn „Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für- Richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen“ (BVerfGE 124, 300, 330). Anders ausgedrückt: Wenn Worte Taten werden ….

Genau darum geht es bei den Taten neuer Art im Netz. Dann also darf die Rechtsordnung reagieren. Nur gegen wen? Und wie?

2. Welche Täter?

Ich möchte gerade im auf kontroverse Debatten angelegten Verfassungsblog die These antesten: Eine Meinungsäußerung, welche in der analogen Welt strafbar wäre, darf nicht allein deshalb straflos bleiben, weil sie im Internet stattgefunden hat. Für eine vertiefte Diskussion wäre ich dankbar.

Bekanntlich wird im Rechtsstaat niemand bestraft, es sei denn, man hätte ihn denn überführt. Und auch das Polizeirecht richtet sich primär gegen Verantwortliche. Wenn man Hate-Speaker auf frischer Tat ertappt, kann man feststellen, wer er ist, was er gesagt hat und welche Wirkungen dies haben kann. Doch so einfach ist das im Netz wohl nur selten. Hier können die Grundrechtsträger anonym agieren. Und den Ermittlungsbehörden sind durch zahlreiche rechtliche Garantien Grenzen bei ihrer Aufklärungstätigkeit gezogen. Gewiss zu Recht. 

Aber es kommen andere, keineswegs nur netzspezifische Probleme hinzu. Kurz nach dem gewaltsamen Tod des Kasseler Regierungspräsidenten überraschte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit der Erkenntnis: „Wir sind noch nicht in der Lage zu sagen, wir beherrschen diese Bedrohung vollständig.“ Und offenbar noch nicht einmal unvollständig. Für eine als Frühwarnsystem konzipierte Behörde war das gewiss keinen Moment zu früh. Hättet man das nicht bereits seit dem NSU-Desaster wissen könne? Gerade in Nordhessen haben die zuständigen Stellen damals einen desaströsen Eindruck hinterlassen: Ein Verfassungsschutzmitarbeiter am Tatort zur Tatzeit, der nichts bemerkt hat und sich trotz öffentlicher Fahndung lange nicht gemeldet hat; ein Landesamt für Verfassungsschutz, welches die meisten Erkenntnisse den Untersuchungsausschüssen nicht vorlegte und stattdessen die Verschlussfrist auf 120 Jahre festlegte. Waren die Kontakte der Behörde in die rechtsextreme Szene und der Schutz der dort wenig ruhmreich agierenden Mitarbeiter wichtiger als die Aufklärung eines Mordes und eines rechtsextremen Terrornetzwerks? Solche Fragen haben auch etwas mit den aktuellen Geschehnissen zu tun. Der Eindruck, dass das NSU-Trio an den zahlreichen unterschiedlichen Orten seiner Morde auch lokale Unterstützerszenen hatte, ist nie bewiesen, aber auch nie schlüssig widerlegt worden. Wie sollte dies auch geschehen, wenn den zuständigen Behörden ihre eigenen Verbindungen wichtiger waren als manche Aufklärung? Sind dann vor Ort (oder auch in Dortmund oder Köln?) gewaltbereite Strukturen unangetastet geblieben, die nun in Kassel zuschlagen konnten? Hier könnte Hessen eine Fallstudie abgeben, die sich lohnen würde. 

Dabei geht es nicht nur um Vergangenheitsbewältigung. Haben die Sicherheitsbehörden über den Schutz ihrer guten Verbindungen in die Szenen hinaus auch andere Konsequenzen gezogen? Etwa jene, welche Untersuchungsausschüsse, Sachverständige und Politiker angemahnt haben? Oder sind vereinzelte Gesetzesänderungen Symbole, Papiertiger oder Placebos geblieben? Und was ist intern geschehen? Die spät veröffentlichte Einsicht in die rechtsextreme Bedrohung und die eigene Unzulänglichkeit ihnen gegenüber ist gewiss kein Leistungsnachweis. Hier sind auch externe Evaluationen unabweisbar. Kontrolle kann nicht nur Lähmung, sondern auch zur Mobilisierung der Kontrollierten führen. Die Fragen richten sich an den Aufklärungswillen von Sicherheitsbehörden, Regierungen und Parlamenten.

3. Welche Instrumente?

Art. 17 EMRK lautet: „Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.“ Die Gründerstaaten wussten  im Jahr 1950 recht genau, wen sie damit meinten. Und der EGMR weiß es auch: Die Vorschrift ist kein Zeichen mangelnden rechtsstaatlichen Bewusstseins außerhalb Deutschlands. Aber die Auschwitzlüge ließ sich mit ihr in wenigen Zeilen illegalisieren.

Art. 18 GG ist anders. Er ist als Instrument des Verfassungs-, nicht des individuellen Rechtsgüterschutzes konzipiert. Es geht nicht um die Rechte Einzelner, sondern um die demokratische Grundordnung. Angriffe auf Einzelne können nur insoweit erfasst werden, als dadurch zugleich die Verfassungsordnung mitbetroffen wird. Das ist gewiss der Fall bei Attacken gegen Repräsentanten des Staates und Inhaber öffentlicher Ämter – bis hinab zum Gemeinderat, wenn durch den symbolischen Überschuss der Tat erkennbar wird, dass sie die einzelne Tat oder Drohung nicht gegen sie als Person, sondern auch gegen das von ihnen repräsentierte politische System richtet. Damit hat die Rechtsordnung sei dem Republikschutzgesetz von 1922 Erfahrung. Schwieriger ist die Individualisierung: Es geht nicht – wie in der EMRK – um Tätigkeiten oder Handlungen, die illegalisiert werden können, sondern um die Verwirkung der Rechte für einzelne Personen – die dazu (s.o. 2.) erst ermittelt sein müssen. Für staatliche Stellen, welche dies nicht können oder wollen, bleibt die Verwirkungsdrohung eine stumpfe Waffe blinder Verfassungshüter. 

Und dann kommen noch die Verfassungsfragen hinzu: Art. 18 GG wird vom Bundesverfassungsgericht und der herrschenden Lehre als Grundrechtsschranke angesehen, welche als ultima ratio eingesetzt werden darf, wenn sonst nichts mehr geht. Und das war in der Vergangenheit bei vier Anläufen noch nie der Fall. Alternative Deutungsmuster haben sich nicht durchgesetzt. Und angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum NPD-Verbot erscheinen die alten Konzepte der streitbaren Demokratie inzwischen eher wie Fossilien aus längst vergangener Zeit. So kann denn auch die Drohung mit der Grundrechtsverwirkung nicht viel anderes sein als eine symbolische Geste eher der eigenen Verlegenheit als der eigenen Stärke. Da ist der EGMR zu Art. 17 EMRK weiter, ohne die Spur von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verlassen.

Noch eine These: Wer einen zeitgemäßen Verfassungsschutz will, braucht ein zeitgemäßes Verfassungsschutzrecht. Die Zeit und die politische Mehrheitsverhältnisse sind für eine solche Erkenntnis möglicherweise nicht günstig. Aber die Herausforderungen sind zu ernst für bloße Symbolik, Aktionismus und Placebos. Alternative Ideen, Konzepte und Politiken sind gefragt, auch hier. 

Lesehinweise:

  • Stefan Aust/Dirk Laabs, Heimatschutz, 2014, S. 636 ff.
  • Heiner Bielefeldt u.a., Jahrbuch Menschenrechte 2012/13 (zum Meinungsfreiheit und hate-speech)
  • Der Spiegel 26/2019, S. 14.

6 Comments

  1. Dr Stefan Laarmann Mon 24 Jun 2019 at 10:09 - Reply

    In dem hervorragenden Aufsatz von Herrn Ch. Gusy vermisse ich allerdings einen Hinweis darauf, dass die Initiatoren der Debatte – stellvertretend für das Corps der Politiker – durchaus im Glashaus sitzen.

    Wenn ein BP den Deutschen die Gene für eine direkte Demokratie abspricht, wenn eine Justizministerin behauptet, der Staat habe gesetzgeberische Rechte, dann sehe ich hierin eine besonders große Gefahr für Deutschlands Entwicklung zur Demokratie.

  2. Popov Sat 29 Jun 2019 at 19:51 - Reply

    Guten Tag,

    ist Antragsrecht ( Parteiengesetz ) abhängig von der Satzung der Partei?

    In der Satzung gibt es nichts zum Antragrecht, trozdem Anträge würden nicht ins Antragsbuch angenommen. Wie kann mann dagegen vorgehen?

  3. Ulf Cihak Mon 1 Jul 2019 at 17:26 - Reply

    Liebe Verfassungskundige,
    könnte ich Sie auch für das “Antesten” folgender These bitten:
    Angesichts der allgemein vertretenen Ansicht von der “Unveräußerlichkeit der Menschenrechte” sowie der Tatsache, dass es sich bei den meisten der zu verwirkenden Grundrechten um Menschenrechte handelt: Könnte es sein, dass es sich beim Artikel 18 materiell um verfassungswidriges Verfassungsrecht ex ovo handelt?
    Hätte das Bundesverfassungsgericht deshalb bei Befassung nicht die Unwirksamkeit oder Nichtigkeit dieser Verfassungsbestimmung feststellen müssen?

    • Matthias K Thu 4 Jul 2019 at 16:28 - Reply

      Müsste nicht eine Initiative vom Bundestag ausgehen, den Artikel 18 GG vom BVerfG auf Verfassungsverträglichkeit prüfen zu lassen und ist dies denn noch nie geschehen? Es klingt stark danach, als würde Artikel 18 in starkem Spannungsverhältnis zu Artikel 1 stehen. Andererseits halte ich die Inkorporierung einer solchen abschreckenden, de facto nie gebrauchten, Rechtsnorm im Sinne der wehrhaften Demokratie für clever und sinnvoll.

    • Ingmar Vetter Sat 6 Jul 2019 at 17:03 - Reply

      Art. 1 Abs. 3 GG: Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

      Art. 19 Abs. 2 GG: In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

      Art. 79 Abs. 3 GG: Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche (…) die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

  4. Ingmar Vetter Sat 6 Jul 2019 at 16:51 - Reply

    Sehr geehrter Christoph Gusy,

    1. Zur Anmerkung:

    Wer einen zeitgemäßen Verfassungsschutz will, braucht ein zeitgemäßes Verfassungsschutzrecht.

    Dieses müsste zur Grundlage auch die Möglichkeit wirksamer Strafsanktionen für Amtsträger beinhalten, welche im Strafrecht derzeit nicht gegeben sind. Stichworte: Aktueller Mangel am Straftatbestand des Amtsmissbrauchs sowie Strafvorschriften, welche eine Sanktionierung von Amtsmissbrauch strukturell verhindern, solange er im Auftrag staatlicher Institutionen erfolgt.

    Aufgrund der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte der Grundrechtsträger gegen den Staat (Art. 1 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG auf der Grundlage des Art. 79 Abs. 3 GG) muss ein Verfassungsschutzgesetz auch die Grundrechtsträger vor verfassungswidrigen Übergriffen des Staates schützen und somit effektive Normen beinhalten, welche im Grundgesetz nicht (mehr) enthalten sind (Art. 143 a.F.).

    Schlussendlich bedarf es eines erkennbaren Abrückens von der ewigen Verteidigung nationalsozialistischer »Errungenschaften« wie eben der Mangel am Straftatbestand des Amtsmissbrauchs, eines heute noch die Unterschrift Adolf Hitlers tragendes EStG v. 16.10.1934 sowie Rückgriffe auf nationalsozialistische »Rechtsprechung«.

    Ohne derartige Selbstverständlichkeiten wird ein solches Verfassungsschutzgesetz nur fortgesetzten Amtsmissbrauch und die heute bereits bedenkliche faktische Eliminierung der Grundrechte fördern.

    Also ja, ich bin sehr für ein Verfassungsschutzgesetz! Lieber heute als gar nicht.

    2. Zur Anmerkung:

    »… im auf kontroverse Debatten angelegten Verfassungsblog …«

    Hier erscheint es mir als eifrigem Leser und Versuchskommentator doch eher so, als würden echte Kontroversen lieber vermieden, sofern es um Themen, wie die von mir angesprochenen, geht. Zum Beispiel werden bestimmte sachliche Kommentare nicht veröffentlicht und ausdrücklich der Wunsch geäußert, man möge keine Abhandlungen schreiben. Antworten der Autoren auf Kommentare erfolgen in der Regel auch nicht. Wo also sollen Kontroversen stattfinden? Ich lasse mich gern davon überzeugen, dass dies eine unzutreffende Ansicht meinerseits ist.

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