03 August 2019

Rechtsstaat sticht Software

Wie der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes die Beschuldigtenrechte der Zukunft rettete

Setzt der Staat Software ein, um den strafprozessualen Schuldnachweis zu führen, muss diese für Gericht, Behörde, Beschuldigten und interessierten Bürger im Einzelfall plausibel und nachvollziehbar sein. Was selbstverständlich klingt, musste der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes (SaarlVerfGH) jüngst für das Bußgeldverfahren klarstellen.

Software als standardisiertes Verfahren?

Gegenwärtig verweigert eine „OLG-Phalanx“ im Bußgeldverfahren der Verteidigung nicht nur jede Einsicht in die inneren Eigenschaften, Annahmen und Berechnungen privater Software, die der Staat zu Beweiszwecken nutzt. Sie hält es zudem für zulässig, dass die Software ihre ausgewerteten Rohdaten nicht einmal speichert und folglich nicht der Verteidigung oder dem Gericht zur Plausibilisierung zur Verfügung stellt.

Grundlage für diese Rechtsprechung ist das im Strafverfahren weitgehend anerkannte „standardisierte Verfahren“. Für diese Rechtsfigur gibt es durchaus gute Gründe, denn natürlich käme die Strafjustiz schnell an ihre Grenzen, müsste sie bei jeder DNA-Identitätsfeststellung oder jedem Blutalkoholtest wieder bis ins Einzelne über die Validität und Einzelfalldurchführung des jeweiligen Verfahrens Beweis erheben.

Gerade in Anbetracht der allgegenwärtigen Verheißungen von „Künstlicher Intelligenz“, „Algorithmen“ und „Machine Learning“ sowie Forderungen nach ihrem verstärkten Einsatz in Justiz und Verwaltung, müssen wir genau prüfen und überdenken, ob wir die Maßstäbe der Rechtsprechung für analoge (Labor-)Verfahren auch dann anwenden wollen, wenn die strafprozessuale Beweisführung größtenteils oder ausschließlich durch Software vonstatten geht. Denn tatsächlich setzen auch Strafgerichte in den USA und sogar Deutschland moderne Softwaresysteme (teilweise kurios) zu Beweiszwecken ein.

Relevanz des Bußgeldverfahrens

Zunächst aber zurück zu den profanen Blitzern. Bei diesen ordnet u.a. § 71 Abs. 1 OWiG einen weitgehenden Gleichlauf der Wahrheitsfindung mit der StPO an. Zudem zeichnen sich Verkehrsbußgeldverfahren durch zwei Besonderheiten aus: Es sind wahre Massenverfahren, von denen die gesamte Breite der Gesellschaft betroffen ist, und die Wahrheitsfindung ist meist vollständig von technischen Geräten und ihrer Software abhängig. Wie gehen Gerichte also mit der Software um?

Zwei grundlegende Beschlüsse des BGH aus den 90er Jahren weisen der Bauartzulassung der Blitzer samt Software durch die Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) besondere Bedeutung zu. Diese Zulassung in Kombination mit der vorschriftsmäßigen Eichung und der ordnungsgemäßen Schulung der Messpersonen erlaubt dem Tatrichter eine Verurteilung ohne Feststellungen über die Details des eingesetzten Messverfahrens. Will die Verteidigung eine detailliertere Prüfung des standardisierten Verfahrens herbeiführen, muss sie durch das Aufzeigen konkreter Anhaltspunkte für Fehler an der Messung im Einzelfall Zweifel des Gerichts hervorrufen.

Diese Rechtsprechung haben die gemäß § 80a Abs. 1 OWiG mit einem Richter besetzten Bußgeld-„Senate“ der Oberlandesgerichte einhellig weiterentwickelt: Tatgerichte können ohne konkrete Anhaltspunkte für Fehler auch Beweisanträge der Verteidigung ablehnen, die genau solche Fehler aufdecken sollen. Die Oberlandesgerichte betrachten die Zulassung der PTB als antizipiertes Sachverständigengutachten und verlangen den Tatgerichten teilweise sogar eine Rechtfertigung ab, wenn diese – unterstützt durch gerichtliche Sachverständige – gegen die Verwertbarkeit eines zugelassenen Blitzers entscheiden.

Eine gesetzliche Regelung existiert hierzu nicht. Es gilt die Amtsaufklärungspflicht gemäß § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 244 Abs. 2 StPO.

Streit um Einsichtsrechte

Zwingende Folge dieser verringerten tatrichterlichen Prüfungspflicht und der restriktiven Beweisantragsrechte zu den Methoden der Software ist, dass die Verteidigung auf anderem Wege versucht, mögliche Fehler der Software aufzudecken. Sie übernimmt selbst die eigentlich gesetzlich dem Staat zugewiesene Aufgabe der Aufklärung der Validität und Zuverlässigkeit der eingesetzten Software, indem sie diese von privaten Sachverständigen untersuchen lässt. Ziel dieser Privatgutachter ist es, Ungereimtheiten der Messung aufdecken, die ausreichen, um das Gericht von der Erforderlichkeit einer gerichtlichen Untersuchung der Softwaremethodik zu überzeugen. Damit diese privaten Sachverständigen aber überhaupt Untersuchungsobjekte haben (der Quellcode und die inneren Einzelheiten der Programme sind proprietär geschützt), verlangen Verteidiger verstärkt Einsicht in verschiedene Unterlagen und Dateien wie etwa die digitale Messdatei sowie die der Messung zugrundeliegenden Rohdaten oder Vergleichsmessungen der Anlage am selben Tag.

Um die Frage, welche dieser Unterlagen – die allesamt nicht Teil der formalen Verfahrensakte sind und daher nicht ohne Weiteres dem Akteneinsichtsrecht unterfallen – der Verteidigung zur Verfügung zu stellen sind, entbrannte in den vergangenen Jahren ein Streit verschiedener Oberlandesgerichte. Ein Teil der Gerichte leitet gestützt von der Literatur aus dem Gebot der Waffengleichheit, dem Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und dem Rechtsstaatsgebot ein erweitertes Einsichtsrecht der Verteidigung oder einen Anspruch auf Aktenvervollständigung hinsichtlich dieser Unterlagen her.

Der restriktivsten Ansicht hatte sich das OLG Saarbrücken angeschlossen: Diese Ansicht will nicht einmal einen Anspruch auf die digitale Messdatei des Systems gewähren, sondern den Ausdruck des Ergebnisses in der Verfahrensakte genügen lassen.

Der unbeugsame SaarlVerfGH

In diesem Verfahren des OLG Saarbrücken (100 EUR Bußgeld, 27 km/h zu viel) hat jüngst der SaarlVerfGH die Verteidigungsrechte wieder substantiell gestärkt. Danach müssen die Geräte jedenfalls die Rohmessdaten – also etwa die Einzelmessdaten, die der im Blitzer verbaute Laser zu verschiedenen Zeitpunkten gemessen hat und auf deren Grundlage die Software die Geschwindigkeit berechnet – speichern und der Verteidigung zur Plausibilitätsuntersuchung zur Verfügung stellen. Der Gerichtshof vergleicht dies zu Recht damit, dass auch bei der DNA- oder BAK-Analyse die untersuchten Proben nicht direkt nach ihrer Analyse vernichtet werden.

Trotz der scheinbar geringen Bedeutung der Sache war dem SaarlVerfGH bei seinem Urteil bewusst, welche Implikationen das Urteil für strafprozessuale Beschuldigtenrechte, aber auch generell das Verhältnis von Technik und Rechtsstaat haben könnte. In Anbetracht des eigentlich schmalen Gegenstands der zu entscheidenden Verfassungsbeschwerde weist das Urteil eine beeindruckende sprachliche Weite auf: Teilweise eignen sich die Formulierungen geradezu als mahnende Kühlschrankmagneten:

„Staatliches Handeln darf, so gering belastend es im Einzelfall sein mag, und so sehr ein Bedarf an routinisierten Entscheidungsprozessen besteht, in einem freiheitlichen Rechtsstaat für die Bürgerin und den Bürger nicht undurchschaubar sein; eine Verweisung darauf, dass alles schon seine Richtigkeit habe, würde ihn zum unmündigen Objekt staatlicher Verfügbarkeit machen. Daher gehören auch die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit technischer Prozesse, die zu belastenden Erkenntnissen über eine Bürgerin oder einen Bürger führen, und ihre staatsferne Prüfbarkeit zu den Grundvoraussetzungen freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfahrens.“

Es wird hier deutlich, dass der SaarlVerfGH entscheidende Pflöcke für die Einsichts- und Verteidigungsrechte des Beschuldigten der Zukunft einschlägt. Er führt die Prüfung und Beurteilung der Richtigkeit und Validität einer Softwareauswertung zu Beweiszwecken zu Recht dorthin zurück, wo das Rechtsstaatsgebot sie verortet: in die Hände der Verteidigung und von dort in die öffentliche Hauptverhandlung. Damit findet er eine ausgeglichene Lösung für ein Problem, mit dem der Gesetzgeber die überlasteten Amtsgerichte weitgehend alleingelassen hat: Immer kompliziertere Technik übernimmt beim Schuldnachweis im Bußgeld- und perspektivisch auch im Strafverfahren mehr Aufgaben von der bloßen Weg-Zeit-Rechnung bis zur wertenden Sonderfall-Prüfung. Das gesamte Verfahren kommt daher im Zweifel mit wenigen bis gar keinen menschlichen Handlungen oder Wertungen aus. Wo aber kein Mensch handelt, kann die Verteidigung auch keinen Menschen befragen, um herauszufinden, ob das Verfahren ordnungsgemäß ablief.

Rechtsstaatliche Grundfragen

Zu Recht rekurriert der Gerichtshof wesentlich auf die Wahlcomputer-Entscheidung des BVerfG. Im Kern setzt sich diese zwar mit der besonderen, nicht generalisierbaren Transparenzpflicht bei Wahlen aus Art. 38 Abs. 1 GG auseinander. Sie stellt aber auch klar, dass das Rechtsstaatsgebot dem Staat abverlangt, „Transparenz und Kontrollierbarkeit staatlicher Machtausübung“ sicherzustellen, wenn er grundrechtsrelevante Verfahren mit Software durchführt. Die Entscheidung ist schon deshalb besonders interessant, weil auch die (privat entwickelten und lizensierten) Wahlcomputer von der PTB abgenommen wurden und der Chaos Computer Club sie dennoch massiv technisch kritisierte.

Rechtsfortbildung und Gewaltenteilung

Über die Erwägungen des SaarlVerfGH hinaus spielt hier ganz besonders die Entscheidung des BVerfG zur Rügeverkümmerung in die verfassungsrechtliche Wertung hinein. Dass der Gerichtshof sie nicht berücksichtigt, ist bedauerlich, da sie ihn noch zusätzlich in seiner Argumentation unterstützt hätte. Denn die Rechtsprechung zum standardisierten Verfahren weicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung von der Amtsaufklärungspflicht ab: Sie vermutet auf Grundlage der PTB-Zulassung die Validität des Messverfahrens. Eine solche vom gesetzlichen Gesamtgefüge der StPO abweichende Rechtsfortbildung kann nach dem BVerfG den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzen, den die StPO durch staatliche Pflichten und Mitwirkungsrechte der Verteidigung konkretisiert. Das gilt insbesondere, wenn sich die Abweichung besonders nah an der Kernaufgabe des Strafprozesses, der Wahrheitsfindung, bewegt. Die richterrechtliche Abweichung vom Gesetz findet zudem enge Schranken im Demokratieprinzip und der Gewaltenteilung gemäß Art. 20 Abs. 1-3 GG.

Diese Schranken überschreiten jedenfalls die Gerichte, die der Verteidigung keine Einsichtsrechte in Rohmessdaten und digitale Messdateien gewähren. Das gesamte Verfahren bis zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht läuft weitgehend automatisiert. In der Hauptverhandlung liegt dem Gericht als einziges Beweismittel ein Ausdruck des Geschwindigkeitswerts neben einem Identifikationsfoto vor. Eine Wahrheitsfindung ist ohne das eingesetzte Blitzersystem samt seiner Software völlig unmöglich. Jede Rechtsprechung, die die Prüfung dieses Systems beschränkt, betrifft damit den Kern des rechtsstaatlichen Verfahrens.

Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, dass die Senatsmehrheit in der Rügeverkümmerungsentscheidung die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege durchaus als legitimes Argument für verfahrensvereinfachende Rechtsfortbildungen anerkannt hat und sie im etwas anders gelagerten Fall daher für verfassungsgemäß hielt. Dem tritt die überzeugendere abweichende Meinung der RichterInnen Di Fabio, Voßkuhle und Osterloh mit starken Argumenten und Worten entgegen:

„[E]s [kommt] nicht darauf an, ob das judikative Modell zweckmäßiger oder sachgerechter als das gesetzliche Modell erscheint. […] Das Demokratieprinzip und das Funktionsgefüge des Grundgesetzes nähmen nachhaltig Schaden, könnte sich die Rechtsprechung immer dann über die eindeutige gesetzgeberische Entscheidung hinwegsetzen, wenn sie die Konsequenzen einer solchen Entscheidung als ‘unzweckmäßig‘ ansieht […]. Klar erkennbare gesetzgeberische Regelungskonzepte sind vom Richter zu respektieren; […]“

Entscheidung des BGH zu erwarten

Mit der Entscheidung des SaarlVerfGH ist die Rechtslage zunächst für das Saarland geklärt. Der Verfassungsgerichtshof sah sich – wohl wegen der verbreiteten Unterschätzung von Landesverfassungsgerichten – sogar zu der eher deklaratorischen Aussage genötigt, dass er jede saarländische Verurteilung in gleicher Konstellation aufheben werde.

Auch über das Saarland hinaus wird die Entscheidung – entgegen den Beteuerungen der Behörden – Bedeutung entfalten. Denn der BGH, der mit Bußgeldverfahren nur auf Grundlage einer Divergenzvorlage gemäß § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG befasst ist, hatte seit 20 Jahren keine Gelegenheit, sich klarstellend zu seiner Rechtsprechung zu äußern. Bisher haben sich die Oberlandesgerichte diesen Vorlagen trotz offensichtlicher Divergenz verweigert, weil sie jeweils für sich die richtige Auslegung der angeblich durch den BGH geklärten Rechtslage in Anspruch nahmen. Das wird jetzt nicht mehr möglich sein, weil sich der SaarlVerfGH ausführlich mit der BGH-Rechtsprechung auseinandergesetzt hat und keine Aussagen zur Streitfrage auffinden konnte. Bei trotzdem verweigerter Vorlage verspricht dem Betroffenen der Weg zum BVerfG Erfolg, das gegen Verletzungen von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bei nationalen Vorlagepflichten mittlerweile robuster einschreitet.

Gesetzgeber gefordert

Noch wichtiger ist jedoch die Erkenntnis, dass die StPO nicht auf den massenhaften Einsatz von komplizierter, privat entwickelter Software für wesentliche Teile der Wahrheitsfindung im Prozess vorbereitet ist. Der Rechtsprechung bleibt daher faktisch nicht viel anderes übrig bleibt, als sich mit Vereinfachungsstrategien zu behelfen. Genau das ist das verfassungsrechtliche Kernproblem, das der SaarlVerfGH aufdeckt.

Eine Detailprüfung jeder zur Wahrheitsfindung eingesetzten Software vor dem Tatgericht vorzunehmen, ist schon heute in Massenverfahren, ganz sicher aber mit Zunahme von Software-Beweismitteln in naher Zukunft kaum realistisch durchführbar. Die bisherige restriktive OLG-Rechtsprechung verhindert auf der anderen Seite aber jede waffengleiche Verteidigung. Damit behindert sie die Suche nach der Wahrheit und verletzt den Grundsatz des fairen Verfahrens sowie das Rechtsstaatsgebot.

Der Gesetzgeber ist daher aufgerufen, eine ausgleichende, alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit einbeziehende Lösung für den Einsatz von Software als Beweismittel zu finden. Dabei wäre auch zu klären, welche Software der Staat überhaupt zur grundrechtsnahen Aufgabenerfüllung einsetzen darf – denkbar wäre etwa nur Open Source-Software zuzulassen.

Der wichtige rechtspolitische Tenor des SaarlVerfGH ist also der Aufruf zur wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte über Software als Erkenntniswerkzeug der Strafjustiz, ihre Überprüfung und damit über die Beschuldigtenrechte der Zukunft.


2 Comments

  1. Martin Schafhausen Sun 4 Aug 2019 at 14:14 - Reply

    Ganz anderer Sachverhalt, aber vergleichbarer Kern.§ 31a SGB X – vollautomatisierte Erlass eines VA. Diskussion mit Richterinnen und Richter der hess. Sozialgerichtsbarkeit.

    Meinem Einwand, in der gerichtlichen Auseinandersetzung um Rechtmäßigkeit solcher Bescheide müsste der Algorithmus solcher Programme in das Verfahren eingeführt werden, begegnete eine Richterin mit dem Einwand, daran könne kein Interesse bestehen solange das Ergebnis richtig sei.
    Allenthalben Zustimmung im Saal.

  2. juslegal Mon 2 Sep 2019 at 14:23 - Reply

    In der Tat eine der größten Herausforderungen für die momentan hochgelobte und stark kritisierte Legal Tech Bewegung. Einerseits, gerade angesichts des überschwelligen Personalmangels in Gerichten & Justiz, ist die Entwicklung entsprechender Applikationen, die alltägliche Verwaltungsaufgaben übernehmen können, mehr als notwendig. Der Gesetzgeber ist gefragt, schnellstmöglich vereinheitlichte Standards zu schaffen, um der Branche der Software-Entwicklern einen Leitfaden an die Hand zu geben.

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