12 August 2019

Klimanotstände

Am 28. Juni hat der Bundestag über einen Antrag der Fraktion der Linken mit dem Titel „Klimanotstand anerkennen – Klimaschutz-Sofortmaßnahmen verabschieden, Strukturwandel sozial gerecht umsetzen“ beraten. Das Vorhaben irritiert aus verschiedenen Gründen. Erstens aufgrund der gewählten Notstandsrhetorik, die nach Ansicht vieler doch vorderhand dem Arsenal der traditionell exekutivfreundlichen politischen Rechten zuzuordnen ist. Zweitens wegen des Widerspruchs von Sofortmaßnahmen, die keinen Aufschub dulden, und der Maßgabe der sozial gerechten Umsetzung eines „Strukturwandels“. Letztere dürfte ein hoch komplexes, reflexionsbedürftiges, also Entscheidungsaufschub geradezu gebietendes Unterfangen darstellen. Man denke an den Strukturwandel des Ruhrgebiets oder anderer klassischer fossiler Industrieregionen. Dabei geht es offensichtlich um eine Aufgabe für Jahrzehnte, bei der die Interessen verschiedenster Betroffener in einen angemessenen Ausgleich zu bringen sind.

Letztlich spiegelt sich in dem Antrag vor allem das Dilemma jeder „Bewegungspolitik“. Man versucht, die Anliegen nahestehender zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, hier: Fridays for Future oder Extinction Rebellion, unmittelbar in die parlamentarische Debatte zu schleusen. Das ist – insbesondere für eine Oppositionspartei – zweifelsohne legitim und belebend, wirft aber ebenso unmittelbar all die Probleme von Komplexitätsreduktion auf, die der Soziologe Armin Nassehi kürzlich in der Süddeutschen Zeitung dargelegt hat.

Die Linke ist mit ihrem Anliegen der Ausrufung eines Klimanotstands freilich in guter Gesellschaft. Staaten wie Großbritannien oder Frankreich und meist von den Grünen mitregierte Kommunen – in Deutschland zuerst Konstanz und Heidelberg – sind diesen Schritt bereits gegangen. Und die Zahl der Beteiligten nimmt zu, auch über Europa hinaus. Es bilden sich globale Allianzen, die auch an die schon etwas älteren Städte- und Staatenbündnisse in den USA erinnern, die sich Washingtons Klimapolitik aktiv entgegenstellen. Seit Ende 2018 nimmt die Bewegung enorm an Fahrt auf.

Ganz verfehlt wäre es in diesem Zusammenhang, aus verfassungsdogmatischer Sicht über die Notstandsverfassung nach dem Grundgesetz zu sinnieren. Es ist evident, dass es, übertragen auf die deutsche Rechtslage, nicht um die Aktivierung der entsprechenden Artikel des äußeren oder inneren Notstands geht, also insbesondere Art. 35, 80a, 87a, 91 oder 115a – l GG. Die abstrakte Gemeinsamkeit des Klimanotstands mit den vom GG erfassten Notstandslagen liegt vornehmlich in der Voraussetzung einer überragenden Gefahr. Darüber hinaus ist aber erneuernde Begriffsarbeit zu leisten, die sich an verschiedenen Leitfragen orientieren kann.

Wer ruft den Klimanotstand aus?

In der Mehrheit waren es bislang Kommunalvertretungen, die den Klimanotstand offiziell erklärt haben. Das rief Kommunalrechtler*innen auf den Plan, die sich sogleich an die berühmte Leitentscheidung zu den „Volksbefragungen“ zu Atomwaffen erinnert fühlten: Inwieweit haben Gemeinden ein allgemeinpolitisches Mandat? Oder: Wo liegen die Grenzen der „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“? Der verfassungsgerichtliche Stand der Dinge lautet, dass spezifische örtliche Bezüge einer Gemeinde berührt werden müssen. Die daraus erwachsende Perspektive ist in vielfacher Hinsicht begrenzt. Die in der Kommentarliteratur insoweit zu findende Differenzierung danach, ob lediglich Maßnahmen des Klimaschutzes auf der Gemeindeebene „plakativ bekräftigt“ werden oder ob vielmehr kommende Gemeindeentscheidungen infolge des Notstands-Ratsbeschlusses Klimabelange prioritär zu berücksichtigen hätten, leuchtet nicht ein. Das in Karlsruhe herrschende enge Verständnis des Ortsbezuges, dass Beschlüsse in der örtlichen Gemeinschaft „wurzeln“ müssten, verkennt darüber hinaus die demokratische Selbstbestimmung von unten nach oben, die dem Grundgesetz als Fundamentalnorm eingeschrieben ist. Ihr umfassendes Selbstbestimmungsrecht entbindet die Gemeindevertreter*innen andererseits selbstverständlich nicht vom Gesetzesgehorsam. 

Auch nationale Parlamente sind indes bereits tätig geworden. Geht es hier wie beim klassischen Notstand um eine Selbstentmachtung zugunsten der schneller handelnden Exekutive? Das scheint gerade nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil will das Parlament der Regierung eher zusätzliche Fesseln anlegen. Diese soll Gesetze vorlegen, dabei Klimaziele in völkerrechtlichen Abkommen berücksichtigen oder in „politischen“ Einzelentscheidungen im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums als vorrangigen Belang gewichten. Außerdem geht es insbesondere in Großbritannien – wo jenseits des Brexit interessante politische Entwicklungen vonstatten gehen! – um eine verpflichtende Einbindung der Zivilgesellschaft, etwa in „Citizens´ Assemblies“, während Frankreich eher bei der idealen symbolischen Krönung seiner Energiegesetzgebung bleibt. Letztlich geht es im anspruchsvolleren Fall, etwa im angeführten Fraktionsantrag, um eine parlamentarische Handlungsvorgabe, also Feinsteuerung der Regierung. Sach- und fiskalpolitische Ent-, nicht Ermächtigung der Exekutive lautet die Devise. 

Schließlich trifft man auch auf den schillernden Begriff des „zivilen“ Klimanotstands – etwa bei einer Versammlung vor dem Kanzleramt aus dem FFF-Umfeld, die vor einigen Wochen die Berliner Verwaltungsgerichtsbarkeit beschäftigte, weil dort einige Zelte („Camp“) untersagt wurden. Hier wird der klassische Notstand vollends vom Kopf auf die Füße gestellt: der Notstand resultiert aus einer gesellschaftlichen Erkenntnis dessen, was zu tun ist, nicht aus irgendwelchen Resten staatlicher Dezisionskraft. Berechtigt dazu, diesen Notstand zu erklären, ist folglich auch nur das unmittelbar handelnde Volk selbst – allerdings keineswegs „gegen“ einen imaginären Staat, sondern als Teil des unentwirrbaren Staat-Gesellschaft-Komplexes, den man Republik nennt. Da ist es dann völlig normal und erwartbar, dass Bürger*innen stellvertretend für viele (womöglich die Mehrheit) ihre Politiker*innen an selbst eingegangene Verpflichtungen erinnern – was wohl der hervorstechende Zug der FFF-Bewegung ist.

Was streben die Beteiligten politisch an?

Die Ziele und Absichten der Akteur*innen sind oft recht abstrakt, was Nahziele angeht, aber sehr konkret, was Fernziele betrifft. Letztere werden mit statistischen Kennziffern und Jahreszahlen belegt – in erster Linie atmosphärenchemische Vorgaben zur Emissionsminderung, die mit Temperaturprognosen verknüpft sind. Die Nahziele hingegen lauten „Kohleausstieg“ oder „kohlenstofffreie Wirtschaft“, die erstaunlich bald nötig sind, um die Fernziele zu erreichen. 

Auch hier haben wir es, wie bei den Akteur*innen, mit einer Umkehrung des klassischen Notstandsbegriffs zu tun. Denn dieser beruht ja auf „entsetzlicher“ Konkretion im Nahbereich, während die längerfristigen Ziele abstrakt bleiben: Sind es „Sicherheitsgefühle“? Die Bekräftigung des staatlichen Gewaltmonopols? Das bleibt notorisch undeutlich. Welche Freiheit wird hier eigentlich verteidigt – wenn überhaupt eine? Ist das durch „ausnahmsweise“ Grundrechtsverkürzung überhaupt möglich? 

Ganz anders liegt es beim Klimanotstand: Jede*r Vernunftbegabte kann leicht verstehen, was langfristig auf dem Spiel steht. Was das kurzfristig für uns alle bedeutet, dagegen umso weniger. Auch die etwa von der Linken-Bundestagsfraktion eingeforderte „just transition“ erhöht eher die Komplexität der Nahziele. Man muss daher von „entsetzlicher“ Abstraktion sprechen.

In welcher Form erfolgt die Ausrufung?

Das kann ein schlichter Parlaments- oder Gemeinderatsbeschluss oder eine zivilgesellschaftliche Proklamation (öffentliche Meinungsäußerung) sein.

Mit welchem juristischen Ziel?

Neben dem Erlass eines die einzelnen Regierungsressorts universal und maximal bindenden Klimaschutzgesetzes streben die Akteur*innen juristisch nicht zuletzt eine Berücksichtigung der Klimaziele bei jeder politischen Entscheidung an. Konstruktiv ließe sich das etwa als eine Ergänzung der üblichen Kosten-Nutzen-Rechnung durch das mit einem Preis versehene Gemeingut Klima darstellen, also durch die Begründung neuer haushalts- und geschäftsordnungsrechtlicher Selbstverständlichkeiten in der früheren Staatswissenschaft, Nationalökonomie oder Kameralistik. Hinzu kommt die Vorgabe eines prioritären Abwägungs- und Ermessensgesichtspunkts Klimaschutz bei Verwaltungsentscheidungen – eine Idee mit kaum absehbaren Auswirkungen, vom Bau- bis zum Subventionsrecht. 

In welchem Verhältnis zur Zeit?

Wie beim klassischen Notstand herrscht angesichts der Übergröße der wahrgenommenen Gefahr die Überzeugung vor, es bleibe keine Zeit für Überlegungen oder Abwägungen – die Priorität des Klimaschutzes müsse allen klar sein. Das kann allerdings, gerade als „just transition“, nicht anders als durch Priorisierung eben bei der Abwägung oder Ermessensentscheidung, nicht aber durch deren Abschaffung erreicht werden. Das Wort „Priorität“ gilt es hier ernst zu nehmen. Es bezeichnet einen ordinalen Begriff, der eine andere (Rang-) Ordnung begründet, sich aber nicht „total“ an die Stelle der gesamten Ordnung setzt. Das liegt schon darin begründet, dass Klimaschutz kein Selbstzweck ist, sondern ein menschlich gutes oder zumindest lebenswertes Leben für die Zukunft sichern soll.

Der voluntativ überschüssige Primat des Handelns, die Gewalt- (im Sinne von: Übermacht-)fantasie des klassischen Notstands, ist auch hier mit Vorsicht zu genießen. Selbst der Wille zum Klimaschutz muss epistemisch rückgekoppelt bleiben. Völlig legitim ist es noch, die wissenschaftliche Tatsache nicht politisch, aber doch administrativ unstreitig zu stellen – anders als man etwa in der NVwZ 2019, 114 ff. zum Thema der Klimaklagen lesen konnte. Doch entbindet das die Politik und Verwaltung nicht von der Notwendigkeit vernünftiger Willensbetätigung im Einzelfall, die nunmehr immer auch „Klimavernunft“ sein muss. 

Fazit

Im Ergebnis bietet das noch nicht voll ausgereifte Konzept des Klimanotstands Anlass, grundsätzlich über einen Wandel des Notstandsbegriffs nachzudenken. Dieses Nachdenken mag geradezu zu einer Inversion des Notstandsbegriffs bewegen: Zwar liegt dem Klimanotstand eine klar erfassbare (übergroße) Gefahr zugrunde, aber die politisch und juristisch angemessenen Reaktionen sind gesellschaftlich (inklusive staatlich) zu transformativ, als dass sie sich begrenzen, überschauen und absehen ließen. Die geforderte Abkehr vom „Fossilstaat“ (ein treffenderer Begriff als ehedem der „Atomstaat“) – bei der es nahzielhaft zur Flucht in die Abstraktion statt wie beim klassischen Notstand in die Konkretion kommt – hat daher auch ganz andere institutionelle Implikationen, nicht zuletzt für die Gewaltenteilung, als der klassische antitransformative Notstand.


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