23 October 2019

Das „Respektierte-Rentner-Gesetz“: eine kurze Replik

Altersarmut ist nicht akzeptabel. Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, muss ein ordentliches Auskommen garantiert sein. Das Vorhaben, eine so genannte Grundrente einzuführen, beruht deshalb auf einem ganz und gar legitimen Motiv. Dennoch gibt das aktuell im Raum stehende Regelungsmodell Anlass zu verfassungsrechtlichen Fragen.

Nach dem Modell sollen die rentenrelevanten Entgeltpunkte einer Gruppe von gesetzlich Rentenversicherten – bis zum Erreichen eines bestimmten Punkte-Niveaus – verdoppelt werden, um ihre gesetzliche Rente aufzustocken. Sie erhalten danach eine ähnlich oder gleich hohe Rente wie Versicherte, die erheblich höhere Beiträge geleistet hatten. Dies weicht beträchtlich – und dabei nachträglich eingreifend – vom Äquivalenzprinzip ab, das die Rentenversicherung prägt. 

Völlig zu Recht weist der sehr geschätzte Kollege Thorsten Kingreen in seinem Verfassungsblog-Beitrag darauf hin, dass die gesetzliche Rentenversicherung – ebenso wie die gesetzliche Krankenversicherung – auch dem Solidargedanken verpflichtet sei, der die Bedeutung der Äquivalenz relativiere und dem ausgestaltenden Gesetzgeber Raum gebe. Umverteilung und sozialer Ausgleich seien deshalb „seit jeher Wesenselemente der Sozialversicherung“. Ein Gleichheitsproblem bestehe „erst dann, wenn im Rahmen des sozialen Ausgleichs Versicherte ohne Sachgrund ungleich behandelt werden“. Verfassungsrechtlich, dies seine Schlussfolgerung in Ansehung des vorliegenden Sachverhalts, werde die Grundrente deshalb nicht scheitern.

Hierzu einige Gedanken: Das Sozialversicherungsrecht dient, nicht anders als das Steuerrecht und das Sozialhilferecht, zur Verlagerung und Zuordnung von Finanzmitteln. Weil Geld als solches abstrakt ist, wird der Gleichheitsmaßstab hier nur sehr begrenzt durch die Lebenswirklichkeit vorgeprägt. Sollen die Ausgestaltungen des Steuerrechts, des Sozialversicherungsrechts und des Sozialhilferechts gleichheitsgerecht sein, sind bereichsspezifische Konkretisierungen der Gleichheit deshalb unerlässlich.

Im Steuerrecht wurde aus genau diesem Grund seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entwickelt und zunehmend normativiert. Jeder soll nach dem Maß seiner Leistungsfähigkeit zur Staatsfinanzierung beitragen. Damit konnte (und kann) eine zumindest grundsätzliche Antwort auf die Frage gegeben werden, in welcher Höhe der einzelne Steuerbürger besteuert werden soll; dies in einer Situation, in der er sich nach der weitgehenden Auflösung der Stände unmittelbar der monarchischen Hoheitsgewalt ausgesetzt sah und zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr durch das Äquivalenzprinzip geschützt wurde, das der Bemessung der alten „bede“ zugrunde gelegen hatte. Steuerrechtliche Abweichungen vom Leistungsfähigkeitsprinzip, etwa aus Lenkungsgründen, sind deshalb als Abweichungen von der bereichsspezifischen Gleichheit in jedem Fall rechtfertigungsbedürftig. Dies wird im Steuerrecht ganz überwiegend so gesehen, trotz der Tatsache, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip als solches ausfüllungsbedürftig ist. Soweit vereinzelt anderes vertreten wird, insbesondere steuerliche Lenkungszwecke als selbst gleichheitsausgestaltend und nicht weiter rechtfertigungsbedürftig eingeordnet werden, droht eine Besteuerung ohne jedes innere Maß und ohne Grenze. Ganz erhebliche Ungleichbelastungen und auch erdrosselnde Kumulationen nebeneinander stehender Lenkungsteuern wären möglich.

Im Sozialhilferecht wird die Gleichheit, dem dort maßgeblichen Regelungsziel entsprechend, durch das Bedürftigkeitsprinzip angeleitet. Und im Sozialversicherungsrecht ist es das schon genannte Äquivalenzprinzip, das systemprägend wirkt und für Gleichheitsgerechtigkeit in Last und Leistung sorgt. Natürlich trägt die Sozialversicherung seit ihren historischen Anfängen auch das Element des Solidarischen in sich, das in der Tat zu ihrer raison d’être gehört – die Krankenversicherung zeigt dies besonders deutlich. Dies mag zu der Frage veranlassen, ob sozialversicherungsrechtliche Regelungen, die der Solidarität dienen, tatsächlich als gesondert rechtfertigungsbedürftige Abweichungen vom Äquivalenzprinzip einzuordnen sind, oder ob die Solidarität hier vielmehr als ihrerseits ausgestaltungsanleitend anzusehen ist. Im Ergebnis dürfte in diesem Zusammenhang entscheidend sein, dass das Solidaritätsgebot, anders als die Äquivalenz, sehr vage bleibt, weshalb eine folgerichtige Ausgestaltung vor allem dann gelingen wird, wenn man in der Sozialversicherung vom Äquivalenz- oder auch Versicherungsprinzip ausgeht und dieses durch Anforderungen der Solidarität – wie weitreichend auch immer – modifiziert.

Bei genauerer Betrachtung ist teilweise freilich schon nicht ganz klar, was sich in der Rentenversicherung aus der Äquivalenz ergibt und was aus der Solidarität. Wenn zusätzliche Entgeltpunkte für Zeiten der Kindererziehung gewährt werden, mag man dies als solidarisch ansehen – oder aber als äquivalenten Ausgleich für einen erwerbszeitengleichen Beitrag im Dienst der Gesellschaft bzw. als Ausgleich für einen der Gesellschaft dienlichen Nachteil in der Erwerbsbiographie.

Im Fall der geplanten Grundrente liegen die Dinge allerdings anders. Ihre Natur ergibt sich aus der Koalitionsvereinbarung, die zeigt, dass es um den Schutz langjährig Berufstätiger vor Altersarmut gehen soll, ursprünglich nach Maßgabe der Bedürftigkeit. Dies ist, wie gesagt, ein in höchstem Maße anerkennenswertes Regelungsziel. Doch entspricht es weder dem Wesen einer Versicherung noch ihren leitenden Prinzipien. Der unmittelbare Schutz vor Armut ist Gegenstand der Sozialhilfe, deren Maßstab die Bedürftigkeit ist. Dem rentenversicherungsrechtlichen Solidargedanken lässt sich die Grundrente schon deshalb nicht zuordnen, weil sie gerade nicht auf einer Solidarleistung der Versichertengemeinschaft beruhen soll, sondern auf einem Steuerzuschuss. Steuerfinanziert ist zu Recht die Sozialhilfe.

Was sind mögliche Gestaltungsoptionen? Zum einen und an erster Stelle sollte die gesetzliche Rentenversicherung so ausgestaltet sein, dass Menschen, die 35 Jahre lang arbeiten und Beiträge einzahlen, eine auskömmliche Rente erzielen. Unter den gegebenen Umständen wäre es demgegenüber eine system- und maßstäbekonforme Lösung, Bedürftigkeit in der Grundsicherung aufzufangen, deren Verwaltung auf die Erfassung und Linderung von Bedürftigkeit ausgerichtet ist. Die tatsächlich geleisteten Vorsorgeanstrengungen in der gesetzlichen Rentenversicherung könnten – und dies sollte hinzutreten – dadurch Anerkennung finden, dass den gesetzlich Versicherten in der Grundsicherung nicht anrechenbare Freibeträge gewährt werden, ebenso wie es bei Riester- und Betriebsrentnern der Fall ist. So könnten die gesetzlich Versicherten eine bedürftigkeitsgerechte Grundsicherung erhalten und diese durch ihre Rente – zumindest zu einem Teil – aufstocken. 

Würde man so vorgehen, wäre dem Regelungsanliegen systematisch, in den Maßstäben und in den Verwaltungsstrukturen zutreffend Rechnung getragen. Finanziell würden die Rentner dabei im Grundsatz keineswegs schlechter stehen als nach dem Grundrenten-Modell. Und gleichheitsrechtliche Probleme, die das Grundrenten-Modell aufwirft, würden nicht entstehen (problematische Gleichbehandlung trotz ungleicher Beitragsleistungen; fehlende Treffsicherheit der Begünstigung durch die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung); gegenwärtig bestehende Gleichheitsprobleme wären gelöst (gebotene Gleichbehandlung von gesetzlichen Rentnern, Riester- und Betriebsrentnern bei den nicht anrechenbaren Freibeträgen in der Grundsicherung).


2 Comments

  1. Ulrich Reinhardt Wed 23 Oct 2019 at 20:50 - Reply

    Ursprünglich war die Rente eine Zusatzzahlung des Staates zum Gehalt der älteren Arbeiter, da diese von den Arbeitgebern wegen geringerer Leistungsfähigkeit weniger Lohn als jüngere, leistungsfähigere Arbeitnehmer bekamen und sollte lediglich die Lohnsenkung im Alter ausgleichen.

    Auch wenn die Rente gerade in Deutschland natürlich die heilige Kuh sondergleichen ist, so wird an einer Rückführung der Rente hin zu einer bloßen Unterstützung langfristig meiner Ansicht nach kein Weg vorbei führen, auch wenn sich dies natürlich kein Politiker zu sagen traut.

    Darüber hinaus wird selbst eine reduzierte Rente nicht nachhaltig ohne eine weiter reichende Finanzierung durch Steuern möglich sein. Eine möglichst bald auff Steuern basierte Rente wäre daher meiner Meinung nach die einzige tatsächliche Chance das Rentenniveau zumindest länger so hoch wie möglich zu erhalten.

    Alles andere kann schlicht und einfach nicht dauerhaft refinanziert werden.

  2. Peter Camenzind Fri 8 Nov 2019 at 06:56 - Reply

    Anrechenbare Freibeträge in der Grundsicherung müssen ebenso wenig völlig klar systemmkonform wirken. Solche können zudem nicht leicht auf die Fälle einer diskutierten “Respektrente” zu begrenzen sein. Es muss nicht klar überzeugen,nur um anderswo “systemmatische Ungereimtheiten” zu vermeiden, nur an anderer Stelle eventuell ähnlich “systemmatisch ungereimt” vorzugehen.

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