30 October 2019

„Kinderrechte im Grundgesetz“ – Chancen und Risiken

Zum Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die ihrem eigenen Zeitplan um Monate voraus ist, kommt im parlamentarischen Geschäft eher selten vor. Hintersinnig ließe sich fragen, wovon die Große Koalition durch ihren Eifer zum „Gedöns im Grundgesetz“ (Jestaedt) tatsächlich ablenken will. Immerhin ist es positiv zu würdigen, dass der für Ende des Jahres angekündigte Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kinderrechte im Grundgesetz“ schon am 25. Oktober der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Abrufbar ist er inzwischen auf der Homepage des Justizministeriums.

Ausgangspunkt des Abschlussberichts (119 Textseiten zzgl. Anhängen) ist folgende Formulierung des Koalitionsvertrags. „Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern. Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang. Wir werden ein Kindergrundrecht schaffen.“ Hiervon ausgehend hat eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe seit Sommer 2018 sieben Mal getagt. Herausgekommen sind Varianten von Formulierungsempfehlungen dazu, wie Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden könnten. Auf ihrer Grundlage will das Justizministerium noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur Aufnahme von Kindergrundrechten vorlegen. 

Keine rechtliche Notwendigkeit der Aufnahme von Kinderrechten

Die politische Diskussion um die Kinderrechte ist in der Vergangenheit nicht immer sachlich geführt worden. Nicht hoch genug einzuschätzen ist daher jedenfalls eine Leistung dieses Abschlussberichts: Unmissverständlich stellt er klar, dass die Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz weder zur Schließung einer verfassungsrechtlichen Schutzlücke angezeigt noch aus europa- oder völkerrechtlichen Gründen erforderlich ist (vgl. S. 13 bis 24). Hierzu konnte die Bund-Länder-Kommission auf zahlreiche neuere wissenschaftliche Abhandlungen zurückgreifen, die ausweislich Literaturverzeichnis und Fußnotenapparat sorgsam ausgewertet wurden (vgl. für viele die Beiträge in Uhle (Hrsg.), Kinder im Recht, 2019).

Verfassungsrechtlich – darüber war man sich in der Arbeitsgruppe einig – sind Kinder als Grundrechtsträger nach dem Grundgesetz und der dazu ergangenen Rechtsprechung des BVerfG bereits jetzt umfassend geschützt: als Träger sämtlicher Grundrechte, die allen Menschen zustehen, sofern ihr Schutzbereich nicht auf bestimmte Gruppen zugeschnitten ist; als Bezugspunkte des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 GG, eines treuhänderischen Grundrechts zugunsten des Kindes; als Inhaber insbesondere eines Anspruchs aus Art. 6 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG darauf, dass der Staat die Sorge von Eltern für ihr Kind gewährleistet; als Bezugspunkte der religionsbezogenen Ausprägung des Elternrechts nach Art. 7 Abs. 2 GG.

Wie der Abschlussbericht herausstellt, folgt auch weder aus Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union noch aus der Kinderrechtekonvention (KRK) eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Änderung des Grundgesetzes. Denn die in der Grundrechte-Charta normierten Kinderrechte sind nach deren Art. 51 bei der Durchführung von Unionsrecht ohnehin zu beachten. Und die KRK, die nach Art. 59 Abs. 2 GG im Rang nur eines einfachen Bundesgesetzes steht, wenn sie nach der Rechtsprechung des BVerfG auch zugleich Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte ist, enthält keine Verpflichtung der Staaten, Kinderrechte in ihre nationalen Verfassungen aufzunehmen.

Die Funktion einer Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz kann daher nur darin liegen, die Grundrechte des Kindes sichtbar zu machen. 

Sichtbarmachung der Kinderrechte

Zuzugeben ist den Kritikern der gegenwärtigen Rechtslage, dass aus Wortlaut und Systematik der Verfassung die bereits umfassende Gewährleistung der Rechte des Kindes nicht hervorgeht. Das Grundgesetz gilt aber – mangels konsensfähiger religiöser oder philosophischer Alternativen – inzwischen als „Basis der Werteordnung unserer Gesellschaft“ (Bundesjustizministerin bei der Vorstellung des Abschlussberichts). Dies ist wohl eine der wichtigsten Lehren aus der Integrationsdebatte der vergangenen Jahre. Wenn die Funktion einer Verfassung heute nun aber auch darin besteht, Mindeststandards für das gesellschaftliche Zusammenleben vorzuhalten (S. 31), sollte sie Kinder nicht mehr nur insoweit erwähnen, als sie objektive Bezugspunkte der Elternverantwortung oder des staatlichen Wächteramts sind (vgl. Art. 6 Abs. 2 GG). Vielmehr entspräche es sowohl dem gewandelten Verständnis einer entwicklungsabhängigen Eigenständigkeit von Kindern und Jugendlichen als auch dem neu entdeckten politischen Stellenwert ihrer Meinungsäußerungen, sie im Verfassungstext als Rechtssubjekte zu verankern. Zurecht favorisiert der Abschlussbericht denn auch sog. kindzentrierte Formulierungen, welche die Grundrechtssubjektivität des Kindes betonen (S. 34-44).

Ein schwieriges Unterfangen dürfte es jedoch werden, in der nun einsetzenden politischen Diskussion drei Prämissen zu wahren, denen sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe grundsätzlich verpflichtet sah. Danach soll sich die Regelung in das Grundgesetz einfügen, die Rechtsprechung des BVerfG nur abbilden und schließlich die Elternverantwortung nicht ändern (S. 25).

Standort im Grundgesetz

Einzufügen sind Kinderrechte nach Ansicht der Arbeitsgruppe in Art. 6 GG. Dort sollen sie aber nicht in Absatz 1 Eingang finden, wie dies Bündnis 90/Die Grünen in einem eigenen Gesetzentwurf vorgeschlagen hatten – mit der Formulierung „Kinder, Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“. Nach den Vorstellungen der Bund-Länder-Kommission soll vielmehr ein neuer Absatz in Art. 6 eingepflegt werden, voraussichtlich ein neuer Art. 6 Abs. 1a GG oder ein neuer Absatz 2 vor dem jetzigen Absatz 2, der dann Absatz 3 würde (S. 115).

Diese Standortwahl verdient Zustimmung. Denn eine Gewährleistung von Kinderrechten vor Elternverantwortung und Wächteramt (im jetzigen Absatz 2, dh dem künftigem Absatz 3) bringt eben das an richtiger Stelle zum Ausdruck, was bereits jetzt das austarierte Dreiecksverhältnis Eltern-Kind-Staat prägt: seine Ausrichtung am Kindeswohl. 

Formulierungsvorschläge

Vorgeschlagen werden drei Regelungsvarianten. 

Die Ausgangsformulierung, welche die Rechtsprechung des BVerfG lediglich abbilden soll, lautet: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung und Schutz seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen.“ (S. 112). 

Die zweite Regelungsvariante stärkt demgegenüber die Rechte des Kindes deutlich. Danach wird dem Kind ein Recht nicht nur auf Achtung und Schutz sondern zugleich auf „Förderung“ seiner Grundrechte zugestanden. Auch soll danach das Wohl des Kindes bei allem staatlichen Handeln, das Kinder (auch nicht nur unmittelbar) betrifft, „wesentlich“ berücksichtigt werden. 

Die dritte – über die Rechtsprechung des BVerfG hinausgehende – Variante enthält neben dem Recht des Kindes auf „Förderung“ seiner Grundrechte (insoweit wie Variante 2) zugleich die Verpflichtung, das Wohl des Kindes bei allem staatlichen Handeln, das Kinder betrifft, „vorrangig“ zu berücksichtigen.

Welche der drei Regelungsvarianten das Bundesjustizministerium seinem Gesetzentwurf zugrunde legen wird, und welche Gestalt die Neuerung nach Abschluss des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens letztlich annehmen wird, bleibt eine offene, gerade im Detail spannende Frage. Möglicherweise wird es zusätzlich zur Verankerung eines Anspruchs auf rechtliches Gehör kommen sowie zu einem neuen Staatsziel des Inhalts „Die staatliche Gemeinschaft trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen.“ (S. 114). Für Diskussionsstoff dürfte insbesondere die auch in der Arbeitsgruppe kontrovers diskutierte Problematik sorgen, wie sich eine Verankerung von Kinderrechten auf die Elternverantwortung auswirkt. Gerade sexuellem Missbrauch in der Familie ist allerdings nicht mit einer Grundgesetzänderung beizukommen sondern durch bessere personelle und finanzielle Ausstattung der Jugendämtern im Sinne einer effektiven Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts. 

Fehlende Gesetzesfolgenabschätzung

Was in dem langen Abschlussbericht gänzlich fehlt, ist eine Folgenabschätzung dazu, wie sich die einzelnen Formulierungsvarianten zu den Kinderrechten auf die Auslegung des einfachen Rechts auswirken, etwa auf das Familien-, das Schul- und das Aufenthaltsrecht, aber auch auf das Bau- oder das Straßenrecht. Hinzuweisen ist immerhin darauf, dass eine wohlklingende, vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls (Variante 3) dazu führen würde, dass sich Behörden bei der Planung von Wohnvierteln oder beim Straßenbau primär am Kindeswohl zu orientieren hätten. Im Konfliktfall müssten dann die Interessen anderer Grundrechtsträger, etwa von Senioren oder Behinderten, zurücktreten. Wie sich dies mit Art. 3 Abs. 1 und 3 GG vereinbaren ließe, ist fraglich. 

Als Fazit bleibt festzuhalten: Das Projekt einer Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz birgt Chancen und Risiken zugleich. Eine Chance liegt grundsätzlich darin, durch die Verankerung eines Entwicklungsgrundrechts den Stellenwert sichtbar zu machen, der Kindern und Heranwachsenden in einer modernen Rechts- und Gesellschaftsordnung zukommt. Auch für den besonderen Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) könnte in dem nach wie vor typischen Fall, dass aus dieser rechtlichen Verbindung Kinder hervorgehen, das dann in Art. 6 GG explizit genannte Kindeswohl neue Begründungsansätze liefern.

Überschreitet die Novellierung allerdings die vom BVerfG zum Dreiecksverhältnis Eltern-Kind-Staat abgesteckten Grenzen, etwa durch Verankerung von Förderansprüchen oder einer Pflicht zur vorrangigen Berücksichtigung von Kinderrechten, könnte bereits die politische Diskussion dazu den fragilen gesellschaftlichen Zusammenhang gefährden und soziale Spaltungen zwischen Alt und Jung befördern. Im schlimmsten Fall hätten dann die Befürworter von Kinderrechten das Gegenteil von dem erreicht, wofür sie angetreten sind.


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