27 March 2020

Etat d’urgence sanitaire

Wie Frankreich den Coronavirus bekämpft

In Frankreich stellt die aktuelle Krise Regierung und Verwaltung wie in vielen anderen Ländern vor eine Vielzahl an juristischen Herausforderungen. Die langen Reden des Präsidenten Emmanuel Macron an die Nation legen hiervon Zeugnis ab. Für einen deutschen Beobachter mussten die vielfachen Referenzen an einen „Krieg“ irritierend wirken. Dennoch sind die Maßnahmen in Frankreich als das zu beurteilen, was sie sind: Antworten auf Gefahren, die sich mit den bestehenden Instrumenten des Rechtsstaats nur schwer fassen lassen.

Zeitlich früher als die zuständigen deutschen Landesbehörden hat die französische Regierung im Laufe der vergangenen Tage eine Vielzahl an freiheitsbeschränkenden Maßnahmen erlassen, deren örtlicher Geltungsbereich das gesamte Staatsgebiet umfasst. Wie in allen betroffenen Ländern muss die Regierung eine Balance zwischen individuellen Freiheiten und Allgemeinwohl finden.

An erster Stelle ist hier die landesweite Ausgangssperre zu nennen, die Premierminister Edouard Philippe am 16.03.2020 verhängte. Gestützt wurde dieses Dekret auf seine landesweite Befugnis zur Gefahrenabwehr (heute Art. 21 Verfassung von 1958 und vom Conseil d’Etat 1919 erstmals bestätigt). Es „verschiebt“ die vorherigen Anordnungen des Gesundheitsministers auf die höchste Staatsebene. Dieser hatte am 14. und 15.03.2020 u.a. Läden, Restaurants und anderen Örtlichkeiten schließen lassen. Daneben können auf lokaler Ebene Maßnahmen der Gefahrenabwehr durch den Bürgermeister (Art. L. 2212-2 CGCT) und den staatlichen Vertreter im Département, dem Präfekten (Art. L. 2215-1 CGCT), getroffen werden. Die Zuständigkeit des Präfekten besteht, wenn Gefahren mehrere Kommunen betreffen. Zu diesen Maßnahmen gehört insbesondere das in mehreren Gemeinden (beispielsweise im Département Alpes-Maritimes) verhängte Ausgangsverbot (couvre-feu).

Der französische Gesetzgeber hat in einem beschleunigten Gesetzgebungsverfahren (Art. 42 Abs. 2 Verfassung 1958) einen ersten Anlauf unternommen, rechtlich die Covid-19-Krise in den Griff zu bekommen. Am 18.03.2020 stellte der Premierminister neben Modifikationen im Wahlrecht auch ein spezielles infektionsschutzrechtliches Notstandsregime (état d’urgence sanitaire) vor, das der Regierung die rechtlichen Möglichkeiten an die Hand gibt, wirtschaftspolitische Notmaßnahmen zu treffen. Der Conseil d’Etat hat hierzu als Rechtsgutachter der Regierung Stellung genommen. Am 21.03.2020 haben die Assemblée Nationale und am 22.03.2020 der Senat das Gesetz nach 48 Stunden Debatte und einer Intervention der Commission mixte paritaire – einem Vermittlungsausschuss beider Kammern – beschlossen. Gegen die maßgeblichen Teile des Gesetzes wurde kein a-priori-Kontrollantrag beim Conseil Constitutionnel gestellt, so dass das Gesetz im Amtsblatt am 23.03.2020 bekannt gemacht werden konnte.

Beschränkungen von Grundrechten und Freiheiten

In Frankreich sind die Ausnahmeregime – anders als im Grundgesetz, das gerade in der Krise Geltung beansprucht – schon in der Verfassung vom Oktober 1958 prominent vorgesehen. Neben Art. 16 (pouvoirs exceptionnels du Président de la République) enthält Art. 36 das tradierte Instrument des Belagerungszustands. Daneben gibt es einen « état d’urgence législatif », der erstmals 1955 – im Kontext des Algerienkrieges – vom französischen Gesetzgeber geregelt wurde. Unter außergewöhnlichen Umständen kann die Verwaltung zu Maßnahmen der Gefahrenabwehr befugt sein, die von den Grenzen des droit commun abweichen. Dieser état d’urgence wurde danach dreimal aktiviert, insbesondere im Jahr 2015 nach den Attentaten in Paris; er lief (erst) am 01.11.2017 aus. Entgegen den Wünschen des damaligen Präsidenten Hollandes wurde er nicht in der Verfassung verankert; es verbleibt dabei, dass dieses Regime im Rang eines einfachen Gesetzes steht. Seine Befugnisse wurden sehr weitgehend allerdings ins allgemeine Gefahrenabwehrrecht übertragen

Der état d’urgence, der eine akute Gefahr aufgrund schwerwiegender Störungen der öffentlichen Sicherheit oder eine öffentliche Katastrophe (calamité publique) voraussetzt, scheint zwar nahe zu liegen, allerdings gab es wohl keine Bestrebungen, ihn auszurufen. Vielleicht liegt dies daran, dass diese Regelungen unentrinnbar mit der terroristischen Gefahr und den damaligen Grundrechtseinschränkungen verbunden sind. Die Gefahr durch Covid-19 wird dagegen in der Bevölkerung ganz anders wahrgenommen.

In diesem thematischen Zusammenhang kann noch die théorie des circonstances exceptionnelles als ungeschriebenes Notstandsregime erwähnt werden. Soweit keine spezielleren gesetzlichen Vorschriften vorliegen, gestattet es der Conseil d’Etat seit der Heyriès-Entscheidung von 1918 der Verwaltung, unter außergewöhnlichen Umständen wie Krieg oder Katastrophen von gesetzlichen Vorgaben abzuweichen und auch Grundrechte rigoros einzuschränken.

Ein neues Krisenregime

Der Regierung war es ein Anliegen, derartige weitreichende Grundrechtseingriffe rechtssicherer zu gestalten. Vor allem das Nebeneinander von allgemeiner und speziell seuchenrechtlicher Gefahrenabwehr, gestützt darüber hinaus auf Richterrecht, erwies sich als unbefriedigend. Der Conseil d’Etat hat es deshalb in seinem Gutachten vom 18.03.2020 auch grundsätzlich begrüßt, dass die Regierung für eine Pandemiesituation spezielle Regelungen trifft (Rn. 15).

Das neue Gesetz vom 23.03.2020 (« Loi d’urgence pour faire face à l’épidémie de covid-19 ») schafft gestaffelte Kompetenzen in der crise sanitaire und der Steigerungsform einer catastrophe sanitaire; beide Regelungskomplexe sollen eng aufeinander abgestimmt sein. Die Zuständigkeit verlagert sich zum Teil auf den Premierminister, der „auf Grundlage eines Rapports des Gesundheitsministers“ weitreichende Maßnahmen treffen kann. Das Gesetz ermächtig ihn u.a. dazu, per Dekret die Freizügigkeit örtlich und zeitlich zu beschränken und Personen zu verbieten, ihre Wohnung zu verlassen, soweit familiäre oder gesundheitliche Gründe dies nicht gebieten. Darüber hinaus kann er in die freie Preisbildung bei bestimmten nachgefragten Produkten eingreifen oder jede Maßnahme ergreifen, um Erkrankten notwendige Medikamente zur Verfügung zu stellen. Die Kodifikation der Ausgangssperre erfolgte erst auf Anraten des Conseil d’Etat, der der Regierung davon abriet, diese bewusst nur auf eine Generalklausel zu stützen (Rn. 22). Soweit ersichtlich sollen Befugnisse zur Datenverarbeitung in Zusammenhang mit Pandemien nicht verankert werden. 

Der Gesundheitsminister bleibt zuständig für die Organisation und Abläufe im Gesundheitswesen, soweit nicht ein Dekret des Premierministers notwendig ist. Darüber hinaus kann er Einzelfallanordnungen treffen, um die Dekrete zu vollziehen. Das Gesetz weist ihm zudem die Aufgabe zu, die Maßnahmen des Premierministers durch Gutachten und Voten vorzubereiten („sur rapport“). 

Die Präfekten können weiterhin Maßnahmen treffen, die den örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen, also zum einen die landesweiten Maßnahmen verschärfen, etwa durch Ausgangsverbote, zum anderen sie aber auch abzumildern, etwa durch die Öffnung von Wochenmärkten, die grundsätzlich landesweit untersagt wurden. 

Regulierung des Wirtschaftslebens

Einen weiteren Schwerpunkt des Gesetzes (Titel II) stellen wirtschaftspolitische Maßnahmen dar. Hierbei entledigt sich das Parlament sehr weitgehend seiner Befugnisse zugunsten der Regierung. Die französische Verfassung weist dem Gesetzgeber ausdrückliche Kompetenzen zu (domaine de la loi); was hiervon nicht umfasst ist, kann die Regierung regeln (Art. 37). Mehrere Themenkomplexe, die von einem wirtschaftlichen Notplan berührt sind, fallen in die domaine de la loi. Nach Art. 38 der Verfassung von 1958 kann die Regierung zu solchen Themen für begrenzte Zeit ordonnances erlassen, wenn das Parlament einer diesbezüglichen Bitte der Regierung nachkommt (habilitation). 

43 Ermächtigungen enthält das Gesetz vom 23.03.2020; sie gelten für drei Monate. Die Regierung hat die 25 aus ihrer Sicht dringlichsten ordonnances im Ministerrat bereits vorgestellt, etwa zum Arbeitsrecht, zur Schaffung eines Solidaritätsfond für Selbstständige, zum Recht der Arbeitslosenversicherung, zum öffentlichen Dienst und zum Insolvenzrecht. Es werden Eingriffe in private Verträge gestattet; allgemein aber auch insbesondere im Wohnraummietrecht und bei Verträgen über Wasser, Strom und Gas. 

Das Problem der Kommunalwahl 

Eines der ersten handfesten juristischen Probleme, vor dem die französische Regierung stand, trat letzten Sonntagabend auch so in Bayern auf: die Zukunft des zweiten Wahldurchgangs der Kommunalwahlen (élections municipales), die in Frankreich national organisiert sind und am gleichen Tage durchgeführt wurden. Sowohl die bayerische als auch die französische Rechtslage lässt wenig Spielraum. Dennoch forderten viele von der französischen Regierung, die Wahl entgegen dem Wortlaut des Gesetzes zu verschieben – durch Änderung des Gesetzes oder sogar einer Aktivierung des von de Gaulle konzipierten Notstands-Artikels 16 der Verfassung von 1958, der das reguläre Recht vollständig auszuhebeln vermag (was aber bei einer Kommunalwahl völlig überdimensioniert ist). Für ca. 30.000 Gemeinden, in denen der erste Wahlgang bereits genügte, um endgültige Ergebnisse zu ermitteln, stellte sich kein Problem; lediglich die Wahlbeteiligung mit 44% (zum Vergleich: 2014, ca. 63%) eröffnete Zweifel, ob ein derartiger Wahlakt ausreichende Legitimität vermitteln könne. Problematisch war alleine, was dort passiert, wo ein zweiter Durchgang nötig wird (4922 Gemeinden). Politisch bestand Einigkeit, dass die Wahl nicht stattfinden kann, so dass durchaus diskutiert wurde, per Dekret den zweiten Wahlgang zu verschieben – in voller Kenntnis dessen Rechtswidrigkeit. 

Es ist dem Gesetzgeber hoch anzurechnen, dass er diese Krise des Verfassungsrechts abgewandt hat (dazu unten) und den plausiblen Weg beschritten hat, die Ergebnisse des ersten Durchgangs zu sichern und auf eine Besserung der Lage bis Juni zu hoffen, beschritten hat. Ob die Ergebnisse des ersten Durchgangs allerdings bestehen bleiben können angesichts der Wahlumstände, muss wohl am Ende die Verwaltungsgerichtsbarkeit entscheiden: Mehrere Klagen sind bereits anhängig. 

Titel III des Gesetzes versucht eine Lösung für das Problem der angefangenen Kommunalwahl zu finden. Zunächst sichert der Gesetzgeber die Ergebnisse des ersten Wahlgangs erst einmal – womöglich deklaratorisch – als Ausdruck der Souveränität des Volkes (Art. 3 der Verfassung von 1958). Der zweite Wahlgang findet spätestens Ende Juni statt; die noch amtierenden Mandatsträger verbleiben in ihrem Amt. Ist es im Juni nicht möglich, einen zweiten Wahlgang zu veranstalten, wird in den fraglichen Gemeinden der gesamte Wahlvorgang wiederholt, da beide Wahlgänge als einheitlicher Vorgang konzipiert sind. Der Premierminister hat bereits sein Dekret, mit dem er den zweiten Wahlgang festgesetzt hat, durch ein neues ersetzt. Diese Dringlichkeit – das neue Dekret spricht von „vu l’urgence“ – hätte an sich den Gesetzgeber nicht derart auf dem falschen Fuß erwischen müssen. Der Conseil Constitutionnel gab bereits 1973 dem Gesetzgeber auf, für außergewöhnliche Situationen bei Wahlvorgängen Vorsorge zu treffen. Anlass der Entscheidung war eine Verschiebung der Wahl zur Nationalversammlung auf La Réunion, die durch einen Zyklon notwendig wurde. Der Conseil Constitutionnel ließ die Verschiebung – allerdings nur um eine Woche (in einem Wahlkreis) – angesichts des Schweigens des Gesetzgebers unter den außergewöhnlichen Umständen zu. 

Entwicklungen, Perspektiven, Fragen

Die schnellen Entwicklungen bedingen es, dass das Gesetz vom 23.03.2020 nur eine vorläufige juristische Einordnung der Ereignisse ist. Zwar ist es prinzipiell zu begrüßen, dass der Gesetzgeber „das Heft des Handelns“ auch in Krisenzeiten in die Hand nimmt (zu Deutschland), allerdings bedarf es weiterhin einer Begleitung der Entwicklungen durch die Rechtswissenschaft.

Grundrechtseingriffe sind in der Covid-19 Krise die eine Seite; staatliche Schutzpflichten, die ebenfalls ihren Ursprung in den Grundrechten finden, eine andere. Trotz einer bereits weitreichenden Beschränkung der Freizügigkeit und Unternehmensfreiheit haben Gewerkschaften, die medizinisches Personal vertreten, einen Antrag beim Conseil d’Etat gestellt mit dem Ziel, die Regierung u.a. zu einer totalen Ausgangssperre zu verpflichten. Die zu schützende Freiheit, die dieses Verfahren voraussetzt („sauvegarde d’une liberté fondamentale“), ist das Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK. Am Sonntag, dem 22.03.2020 hat der juge des référés des Conseil d’Etat die Anträge überwiegend zurückgewiesen. Eine Verletzung des Untermaßverbotes stellte er nicht fest. Vielmehr dient die teilweise Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens und gewisser Aktivitäten auch dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Der Conseil d’Etat hat den Premierminister aber verpflichtet, das Dekret genauer zu formulieren; die weiteste, denkbare Auslegung mancher Ausnahmetatbestände verkenne das Gewicht des Rechts auf Gesundheit und Leben. Aus diesem Grund hat der Premierminister das Dekret geändert und die Ausnahmen für „Gesundheitsgründe“ und „kurze Ortswechsel“ enger gefasst und Wochenmärkte im Regelfall verboten. 

Der Beschluss unterstreicht die Fähigkeit des Conseil d’Etat – wie auch im Notstand nach den terroristischen Anschlägen 2015 – schnellen und effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Nicht nur kann der Regierung ein freiheitsverletzendes Verhalten untersagt werden, sondern es können auch provisorische, aber doch strenge Vorgaben gemacht werden. Gerade die Möglichkeit einer „Regelungsanordnung“ (nach deutscher Terminologie) war bei der Einführung dieses Rechtsbehelfs im Jahr 2000 eine wesentliche Verstärkung des Grundrechtsschutzes, die nun in der Krise zum Tragen kommt. Dies hat aber auch Kritik hervorgerufen, da der Conseil d’Etat mit dem Beschluss vom 22.03.2020 nicht nur Anordnungen für einen Einzelfall, sondern für das gesamte Staatsgebiet vorgeschrieben hat und sich somit eine normsetzende Kompetenz anzueignen scheint. 

Ob diese Rechtsprechung eine Fortsetzung findet, entscheidet sich schon bald: Am 30.03.2020 verhandelt der juge des référés beim Conseil d’Etat über Anträge von Hilfsorganisationen für Obdachlose, die eine Verpflichtung der Regierung auf adäquate Schutzmaßnahmen begehren, u.a. die Beschlagnahme von Ferien- und Airbnb-Wohnungen. 

Wissenschaftliche Begleitung der Regierung

Das Gesetz vom 23.03.2020 verankert zudem textlich auch die wissenschaftliche Beratung der Regierung durch einen Conseil Scientifique Covid-19. Er besteht aus 11 Mitgliedern aus verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen. Die Regierung erhofft sich wissenschaftlich fundierte Antworten auf ihre konkreten Fragen, die sich ihr beim Krisenmanagement stellen. Angesichts der Fragen, die eine Pandemie aufwirft, ist es geradezu geboten für eine Regierung, wissenschaftliche Expertise zu mobilisieren und sich zu eigen zu machen. Problematisch wird es aber dann, wenn es um mehr als Wissensvermittlung geht, sondern konkrete Vorschläge für Maßnahmen unterbreitet werden. 

Darüber hinaus hat der Präsident ein weiteres Beratungsgremium geschaffen, das Comité analyse, recherche et expertise (CARE). Es besteht aus zwölf Forschern und Medizinern. Es soll eng mit dem oben erwähnten Conseil zusammenarbeiten (wofür auch eine personelle Verflechtung sorgt). Dabei soll sein Beratungsschwerpunkt aber technischer und wissenschaftlicher sein. Aufklärung soll insbesondere über neue Forschungsergebnisse (neue Medikamente und Therapievorschläge) geleistet werden, insbesondere zur Frage der Testkapazität. Es geht wohl weniger um Einbindung in politische Prozesse; gleichwohl soll auch eine „digitale Strategie zur Verfolgung von Infektionsketten“ auf der Agenda von CARE stehen. 

Diese Vermengungen von Politik und Wissenschaft wurden teils kritisch beäugt. Politische Letztverantwortung, gerade in ungewissen Situationen, muss die Regierung tragen. In Berlin ließ sich dies angesichts mancher Entscheidung des Berliner Senats, die nicht den Empfehlungen bekannter Virologen zu folgen schienen, bereits beobachten (zurecht Professor Franz C. Mayer auf Twitter). Auch im Pandemiefall hängen Entscheidungen letztlich von einer Bewertung und Gewichtung unterschiedlichster Parameter ab, bei denen nicht ein Kriterium schlechterdings Vorrang beanspruchen kann. 

Verwaltungsgerichtliche Kontrolle im Notstand

Dekrete, die der Premierminister im état d’urgence sanitaire erlässt, unterliegen einer vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Der Regierung ist kein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Dies gilt auch für jede Individualmaßnahme gegenüber dem Bürger. Das Gesetz verspricht einstweiligen Rechtsschutz innerhalb von 48 Stunden. 

Der Conseil d’Etat hat in seinem Beschluss vom 22.03.2020 erstmals die materiellen Maßstäbe derart weitreichender Maßnahmen geklärt. Auch im Recht des Infektionsschutzes gilt das Übermaßverbot. Diese Selbstverständlichkeit regelt der état d’urgence sanitaire auch nochmals zur Selbstvergewisserung, indem ausdrücklich die örtliche und zeitliche Komponente des Übermaßverbotes offengelegt wird: Les mesures prescrites en application du présent article sont proportionnées aux risques sanitaires encourus et appropriées aux circonstances de temps et de lieu. Il y est mis fin sans délai lorsqu’elles ne sont plus nécessaires (Art. L. 3131-15Code de la santé publique; zum deutschen Recht ; bereits Seewald, NJW 1987, 2265, 2272 f.). 

Viele gesundheitspolitische Krisen wurden in der Vergangenheit vom Conseil d’Etat in nachfolgenden Haftungsverfahren aufgearbeitet. In Frankreich steht weniger der Vermögensschutz wegen Aufopferung im Fokus, sondern mögliche Schädigungen der Gesundheit und des Lebens durch ein pflichtwidriges Unterlassen des Staates (z.B. fehlende Beschaffung von Schutzausrüstung).

Auch weitere Akteure neben den Gerichten werden in den kommenden Wochen Sorge dafür tragen müssen, dass die Grundrechte auch im infektionsrechtlichen Notstand Geltung erlangen. Zu denken ist etwa an den Défenseur des Droits (entspricht einem Ombudsmann), der bereits auf die diffizile Situation in den überfüllten Gefängnissen hinwies. Die Bürgermeister müssen den Schutz von Obdachlosen effektiv gewährleisten; der Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt hat sich bereits jetzt als wichtige Aufgabe der Sicherheitsbehörden herausgestellt. Hierfür hat die Regierung angekündigt, zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich um die Rechte von Mitbürgern verdient machen, in der Pandemiezeit zu unterstützen. Wie oben angedeutet, können diese Organisationen auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit Verbandsklagerechten für ihre Ziele mobilisieren.

Parlamentarische Kontrolle

Wie so oft in Krisenregimen ist eine weitgehende Zurückdrängung des Gesetzgebers aus der Kontrollaufgabe der Regierung zu fürchten – insbesondere in den Zeiten, in denen die Zusammenkunft des Parlaments an sich mit gesundheitlichen Risiken behaftet ist. Die Assemblée Nationale war selbst auch stark vom Virus betroffen. Diese Lage hat die Verantwortlichen des Präsidiums im Einvernehmen mit der Regierung veranlasst, die Tätigkeit der Assemblée Nationale auf ein Minimum herunterzufahren. Fragen beantwortet die Regierung nur noch vor den Fraktionsvorsitzenden. Nicht umfasst sind ausdrücklich Tätigkeiten in Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie, wie die Entscheidung über Gesetze oder die Kontrolle der Regierung.

Dem Ministerrat obliegt die Entscheidung, den neuen Regelungsmechanismus auszulösen. In der aktuellen Situation hat aber der Gesetzgeber selbst für zwei Monate den Notstand ausgerufen. Die zentrale Rolle der Regierung im état d’urgence sanitaire hat Kritik hervorgerufen, da sie noch über das Gesetz von 1955 hinausgeht. Das Parlament kann jede Information von der Regierung anfordern. Die Assemblée Nationale hat, wie bereits am 17.03.2020 angekündigt, eine mission d’information beschlossen, die wöchentlich die Maßnahmen der Regierung einer Kontrolle unterziehen soll. Diese proaktive Kontrolle noch während der Krise kann nach Beendigung des Ausnahmezustands in einen Untersuchungsausschuss übergehen, der bereits am Wochenende durch die Opposition (namentlich die Republikaner) für den Herbst gefordert wurde. Es soll darum gehen, das wirtschafts- und gesundheitspolitische Krisenmanagement der Regierung zu bewerten und hieraus die notwendigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen; Ziel soll es gerade nicht sein, die Regierung „auf die Anklagebank“ zu setzen. Diese hat bereits angekündigt, die Untersuchungen zu unterstützen und in den Ausschüssen Rede und Antwort stehen zu wollen. 

Schlussbemerkung

Angesichts einer sich derart schnell entwickelnden Situation werden einige der aufgeworfenen Fragen in naher Zukunft präzisiert und neu beurteilt werden müssen. Einen Überblick über die Entwicklungen in Frankreich in den verschiedensten Rechtsgebieten findet sich hier. Allerdings sieht es so aus, als böte die Krise sowohl deutschen wie auch französischen Juristen Anlass, über große, prinzipielle Fragen des Staatswesens zu reflektieren. Eine Krise, die es anders als vorhergehende schafft, Kontinente weitestgehend zum Stillstand zu bringen, muss Anlass dafür sein, über einen Rechtsrahmen in einer globalisierten Welt – die uns zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschmiedet – nachzudenken, und über den Weg, ihn zu schaffen. Ein Rechtsrahmen, der auf derartige Herausforderung globale Antworten bieten kann. Trotz der Schließung der europäischen Binnengrenzen und Zeiten der Ausgangsbeschränkung/-verbote bleibt die Rechtsvergleichung – wie hier auf dem Verfassungsblog (Merci!) – ein offenes Fenster, um miteinander über die Entwicklung des Rechtstaats in Krisenzeiten zu diskutieren.


2 Comments

  1. […] [14] Pour une analyse de la situation française, on lira les billets publiés sur ce blog et à notre billet sur le Verfassungsblog. […]

  2. mohadese Thu 11 Feb 2021 at 08:28 - Reply

    Vielen Dank für Ihren guten Artikel. Ich habe etwas nicht verstanden, wenn Sie es erklären könnten. ”Ausnahmestatus” Entspricht das französische Gesetz am 23. März? Warum wird dieses Konzept in der französischen Rechtsliteratur nicht verwendet?

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