29 March 2020

Die Stunde der Politik

Ist die Corona-Pandemie eine Frage für die Rechtsphilosophie? In seinem Beitrag hier auf dem Verfassungsblog sieht Uwe Volkmann in der gegenwärtigen Lage, die er als Ausnahmezustand beschreibt, vor allem Grundsatzfragen der wissenschaftlichen Ethik aufgerufen. Man kann seinen Ausführungen eine gewisse Skepsis anmerken gegenüber den politischen Entscheidungsmechanismen in der Krisenzeit, wenn er eine Ãœberdominanz der Exekutive und eine faktische Selbstauflösung der Opposition konstatiert. Und ohne Zweifel sind es Entscheidungen von grundsätzlicher ethischer Bedeutung, die in Zeiten einer solchen flächendeckenden Gesundheitsgefahr täglich aufs Neue getroffen werden müssen. Gerade deshalb ist hier jedoch nicht in erster Linie die Rechtsphilosophie, sondern vielmehr die politische Entscheidung in den dafür vorgesehenen demokratischen Institutionen gefragt. 

Dass die politischen Entscheidungen im demokratischen Verfahren auch in den gegenwärtigen Krisenzeiten noch funktionieren, hat gerade die Plenarsitzung des Bundestags am vergangenen Mittwoch gezeigt. So überdominant kann die Exekutive nämlich auch im so bezeichneten Ausnahmezustand gar nicht sein, dass sie nicht zwingend der Handlungen des Parlaments bedürfte: Der Nachtragshaushalt in Milliardenhöhe, die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die Aussetzung der Schuldenbremse – die Exekutive wäre machtlos, hätte der Bundestag hier nicht in seltener Einmütigkeit seine Zustimmung erteilt. Dabei enthält das gerade beschlossene Gesetzespaket durchaus auch hochproblematische Regelungen, die parlamentarische Befugnisse über das verfassungsrechtlich zulässige Maß hinaus auf die Exekutive verlagern. Die neu geschaffene Möglichkeit, dass der Bundesgesundheitsminister durch Rechtsverordnung von gesetzlichen Vorschriften abweichen darf, gehört etwa dazu. Man wird abwarten müssen, welcher Rolle der verfassungsgerichtlichen Kontrolle angesichts des politisch konsentierten Ziels, die Pandemie einzudämmen, hier noch zukommen wird. Und trotz der breiten parlamentarischen Zustimmung ist auch die politische Opposition – bei aller Tendenz zur „heroischen Bewährung“, wie Uwe Volkmann es nennt – noch nicht verstummt, sondern lässt insbesondere im Hinblick auf die mittel- und langfristigen Folgen der Maßnahmen deutliche Nachfragen anklingen. Je länger die Krisenmaßnahmen andauern werden, desto lauter werden diese Stimmen werden. 

Gerade dieser Effekt der zunehmenden kritischen Distanz bei länger andauernder Sondersituation ist notwendig um zu verhindern, dass der „Ausnahmezustand“ schleichend zur Normallage wird. Dabei kommt insbesondere dem Parlament als zentralem demokratischen Ort in dieser Situation eine besondere Bedeutung zu. Denn demokratische politische Entscheidungen setzen Öffentlichkeit und Diskussion voraus. Das Parlament ist das institutionelle Kernstück dieser demokratischen Idee. Normalerweise ist es jedoch eingebettet in eine gesellschaftliche Umgebung, in der die Möglichkeit zur alltäglichen Begegnung, zum Austausch, zur Diskussion oder auch zum Streit zwischen den Bürgern allgegenwärtig ist. Dabei muss es nicht immer nur um einen Austausch zu politischen Themen gehen. Jede alltägliche Begegnung mit anderen Menschen stärkt das Bewusstsein dafür, dass wir in einer demokratischen Gemeinschaft leben, durch diese verbunden sind und gemeinsam die Verantwortung für das Gemeinwohl tragen. In Zeiten, in denen jeder Fremde, dem man begegnet, zunächst einmal als virologische Gefahr gilt, geht dieser gesellschaftliche Rahmen verloren. Umso wichtiger ist es daher, dass die Abgeordneten im Bundestag (und in den Landesparlamenten) den Raum der Auseinandersetzung erhalten und damit in noch viel essentiellerem Maße als sonst an die Stelle derer treten, die sie repräsentieren. 

Gerade in der jetzigen Situation, in der wir mit einer Bedrohungslage konfrontiert sind, deren genaue Zusammenhänge die wenigsten von uns wirklich nachvollziehen können, ist diese Auseinandersetzung aber noch aus einem anderen Grund von besonderer Bedeutung. Denn in den letzten Jahren haben wir uns immer stärker daran gewöhnt, politische Entscheidungen als alternativlos zu begreifen – unter anderem auch deshalb, weil sie wissenschaftlich vorherbestimmt zu sein schienen. Ein solcher Rückzug auf das Unvermeidliche ist deshalb in gewisser Weise bequem, weil man sich so nicht dem mühsamen und oft unangenehmen Widerstreit der Meinungen aussetzen muss. Einem demokratischen Prozess entspricht er jedoch nicht. Denn selbst dann, wenn alle anderen Lösungen als unvernünftig, irrational oder auch hochgradig unethisch erscheinen, müssen genau diese Wertungen erläutert und offengelegt werden, um demokratische Legitimität zu erzeugen. 

Die Corona-Pandemie führt uns die Problematik einer Politik der Alternativlosigkeit nun deshalb besonders drastisch vor Augen, weil sich hier niemand auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zurückziehen kann, um seine Entscheidungen unangreifbar zu machen. Da es sich um einen neuen Virus handelt, zu dem die Forschung noch ganz am Anfang steht, können uns die Virologen und Epidemiologen keine verbindlichen, über alle Zweifel erhabenen wissenschaftlichen Handlungsanweisungen geben – und kommunizieren dies zum Glück auch offen. Das bedeutet für uns als demokratische Gemeinschaft, dass wir wieder lernen müssen, mit den Unsicherheiten und Ungewissheiten demokratischer Entscheidungen zu leben, die jetzt trotz dieser wissenschaftlichen Uneindeutigkeiten getroffen werden müssen. Wie Uwe Volkmann schreibt, werden wir erst hinterher wissen, ob wir richtig gehandelt haben.

Gerade in der ungewöhnlichen Situation, in der wir uns befinden, ist es daher aber meiner Meinung nach nötig, nicht allzu schnell in die düstere rhetorische Welt des Ausnahmezustands abzugleiten, sondern vielmehr eine neue Stunde der Politik auszurufen. Wenn wir dabei wieder lernen, demokratische Politik als etwas Streitbares, Fehlbares, mit Unsicherheiten Behaftetes und trotzdem überaus Wertvolles zu begreifen, hilft uns das auch für die Zeit nach der Krise.


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