12 May 2020

Carl Schmitt und die Pandemie. Teil II

Den ersten Teil dieses Beitrags finden Sie hier.

I. Schmitts erste Rechtfertigung der „kommissarischen Diktatur“ des Reichspräsidenten

Carl Schmitts vielfältige Ausführungen und auch Positionswechsel zur Auslegung des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) sind hier nicht zu sondieren. Es interessiert also nicht weiter, wie Schmitt vor und nach 1933 für eine Extension der Diktaturbefugnisse und der exekutiven Maßnahmen des Präsidialsystems sowie für den totalitären Führerstaat argumentierte. Vor der Adaption seiner Kategorien für die Gegenwart sei nur an die grundlegenden Ausführungen zur Diktatur des Reichspräsidenten erinnert, die Schmitt als erste positivrechtliche Analyse 1924 auf der 2. Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung in Jena präsentierte. Schmitt war kurzfristig eingesprungen. Sein Jenaer Referat geht nur mit wenigen verfassungsgeschichtlichen Bemerkungen auf die Vorgeschichte des Art. 48 WRV ein. Von der Kriegsverfassung des Ersten Weltkriegs schweigt Schmitt ebenso wie von der Spanischen Grippe. Nur die Entstehungsgeschichte von Art. 48 WRV zieht er für die Klärung des Wortlauts bzw. zur Bestätigung seiner Analyse hinzu.

Er geht von einem Widerspruch zwischen der „üblichen Auslegung“ und der neueren Praxis aus und versucht die Verfassungskonformität der Praxis durch eine buchstäbliche Auslegung des Textes zu erweisen, die den ersten Satz des Art. 48 Abs. 2 WRV von seinem Satz 2 entkoppelt. Die gängige Praxis des Art. 48 WRV suspendierte nicht nur einzelne Grundrechte, meint Schmitt, sondern führte auch zu einer „Machtkonzentration“((Carl Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung (1924), hier zitiert nach dem Wiederabdruck als Anhang zu ders., Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum Proletarischen Klassenkampf, 2. Aufl., München 1927, S. 219–259, hier: S. 219.)) bei der Exekutive, die durch die „übliche Auslegung“ nicht gedeckt sei. Schmitt unterscheidet die beiden Sätze des Art. 48 Abs. 2 WRV nach ihrer historischen und systematischen Bedeutung und entkoppelt das Maßnahmehandeln des Reichspräsidenten so von der Einschränkung auf einzelne Grundrechte. Das Wissen um den historischen und systematischen Bedeutungsunterschied der beiden Sätze findet er auch durch die Entstehungsgeschichte des Textes von 1919 bestätigt. Als Zwischenergebnis formuliert er:

Der Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 ergibt also, dass der Reichspräsident eine allgemeine Befugnis hat, alle nötigen Maßnahmen zu treffen und eine besondere Befugnis, gewisse aufgezählte Grundrechte außer Kraft zu setzen.“((Schmitt, ebd., S. 229.))

Diesen Befund spitze Schmitt schon 1921 in der Schrift Die Diktatur kritisch zu. Dort heißt es:

Es ist sinnlos, den Reichspräsidenten, der Städte mit giftigen Gasen belegen, Todesstrafen androhen und durch außerordentliche Kommissionen aussprechen darf, außerdem noch eigens darüber zu vergewissern, dass er z.B. den Behörden Zeitungsverbote freigeben kann. Das Recht über Leben und Tod wird implicite, das Recht zur Aufhebung der Pressfreiheit explicite erteilt.“((Schmitt, Die Diktatur (Fn. 1), S. 203.))

Für diesen Befund eines Widersinns zwischen Satz 1 und 2 von Art. 48 Abs. 2 WRV, entwickelt Schmitt dann eine doppelte Lösung: Einerseits fordert er die schnelle Ergänzung des „Provisoriums“ durch ein „Ausführungsgesetz“, das die Gesetzeslücke schließt; das wird er auch in späteren Texten immer wieder fordern((Dazu Schmitt, Das Ausführungsgesetz zu Art. 48 (sog. Diktaturgesetz), in: Kölnische Volkszeitung v. 30.10.1926; Widerabdruck in: Günter Maschke (Hg.), Carl Schmitt. Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, Berlin 1995, 38–42.)); und  andererseits limitiert er eine missbräuchliche Extension der Maßnahmekompetenz als „Staatsnotrecht“((Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48, S. 234 ff.)) durch eine systematische Erörterung der „Grenzen“ des Maßnahmebegriffs. Schmitt schreibt hier:

Die Eigenart der Maßnahme aber besteht in ihrer Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage. Die Maßnahme ist also ihrem Begriffe nach durchaus beherrscht von der clausula rebus sic stantibus. Ihr Maß, d.h. Inhalt, Verfahren und Wirkung bestimmen sich von Fall zu Fall nach Lage der Sache.“((Schmitt, ebd., S. 248.))

Schmitt sucht also rechtsstaatliche Grenzen des Maßnahmehandelns aus dem Begriff der Maßnahme selbst zu gewinnen. Er unterscheidet die Maßnahmen für den Einzelfall dabei vom allgemeinen Geltungsanspruch des Gesetzes. 1924 schreibt er noch: „Der Reichspräsident ist kein Gesetzgeber.“((Schmitt, ebd., S. 250.)) Seine Verfassungslehre wird 1928 dann ausführen, dass der „rechtsstaatliche Gesetzesbegriff“ mit dem Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes die rechtsstaatliche Gewaltenunterscheidung trägt. Die Legislative ist für allgemeine Gesetze zuständig, die Exekutive für Maßnahmehandeln. Schmitt wird in den folgenden Jahren detailliert analysieren, dass die exekutivstaatlichen Tendenzen die klare Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme unterlaufen und die weitere Entwicklung des Rechtsetzungsprozesses zu einer Paralyse der Form des Gesetzesbegriffs führte. Schmitt zeigt das nach 1933 mit einigen Artikeln und Aufsätzen auch für die nationalsozialistische Paralyse des Gesetzgebungsprozesses und führt es in seiner Schrift Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft dann im weiten Bogen aus. Die rechtspolitischen Absichten seines rechtstheoretischen Dekompositionsbefundes seien dahingestellt: Gewiss schrieb er nicht nur im Gestus der Historischen Rechtsschule Savignys, wie seine Broschüre es 1950 nahelegte, sondern auch als „aktiver Nihilist“, Mineur und Dekonstrukteur des „bürgerlichen Rechtsstaats“, der liberalen Gewaltenunterscheidung und des tragenden Gesetzespostulats. 1924 jedenfalls suchte Schmitt Grenzen des Maßnahmehandelns im Begriff der Maßnahme selbst auf und betonte hier das Kriterium der Zweckmäßigkeit „von Fall zu Fall nach Lage der Sache“. In seiner frühen Studie Diktatur und Belagerungszustand meinte er 1917 dazu schon sehr grundsätzlich:

Beim Belagerungszustand tritt unter Aufrechterhaltung der Trennung von Gesetzgebung und Vollzug eine Konzentration innerhalb der Exekutive ein; bei der Diktatur bleibt der Unterschied von Gesetzgebung und Vollzug zwar bestehen, aber die Trennung wird beseitigt, indem die gleiche Stelle den Erlaß wie den Vollzug hat.“((Schmitt, Diktatur und Belagerungszustand. Eine staatsrechtliche Studie (1916), in: ders., Staat, Großraum, Nomos (Fn. 4), S. 3–20, hier: S. 17.))

Die rechtliche Behandlung des rein tatsächlichen Zustandes einer konkreten Gefahr erfolgt also in der Weise, dass vom Recht ein rechtsfreier Raum abgesteckt wird, innerhalb dessen der Militärbefehlshaber jedes ihm geeignet erscheinende Mittel anwenden darf. […] Innerhalb des Raumes tritt sozusagen eine Rückkehr zum Urzustand ein, der Militärbefehlshaber bestätigt sich darin wie der verwaltende Staat vor der Trennung der Gewalten: er trifft konkrete Maßnahmen als Mittel zu einem konkreten Zweck, ohne durch gesetzliche Schranken behindert zu werden. […] Insoweit besteht die Teilung der Gewalten nicht mehr: innerhalb des dem Militärbefehlshaber überlassenen Spielraums ist die Rechtslage so, als hätte es eine Teilung nie gegeben. Bei der Diktatur aber bleibt die Teilung bestehen, die beiden Funktionen Gesetzgebung und Verwaltung werden jedoch von derselben Zentralstelle ausgefüllt.“((Schmitt, ebd., S. 18 f.))

Vermutlich traf Schmitts Jenaer Vortrag 1924 auch deshalb auf erbitterten Widerspruch, weil die Hörer die Nähe zur älteren Auslegung des Belagerungszustandes sahen. Für die frühere Unterscheidung zwischen „Belagerungszustand und Diktatur“ sprach Schmitt ab 1921, seit seiner Monographie Die Diktatur, terminologisch dann von „kommissarischer“ und „souveräner“ Diktatur.

II. Zur Anwendung einiger Kategorien auf die Corona-Politik

Hier sollen Schmitts Schriften nun nicht weiter gedeutet, sondern nur einige ihrer Kategorien für die Analyse der deutschen Corona-Politik adaptiert werden. Schmitt hat nach 1945 zur Bundesrepublik nur noch wenig gesagt. Sein wichtigster Beitrag, Die Tyrannei der Werte((Schmitt, Die Tyrannei der Werte (1960/1967), 3. Aufl., Berlin 2011.)), ist als Kritik der Verfassungsauslegung schon deshalb wenig überzeugend, weil die Polemik gegen die „Relativierung“ und „Neutralisierung“ der unbedingten Geltung von Normen, die Ablehnung einer Abwägung von Grundrechten als „Werte“, nicht mit der eigenen früheren Verfassungslehre vereinbar ist, die davon ausging, dass politische „Grundentscheidungen“ eine „Substanz“ der Verfassung stiften, die gegen die Geltung einzelner Verfassungsgesetze elastisch auszuspielen ist. Diese Kritik an der „Tyrannei der Werte“ trifft nicht zuletzt die eigene Rechtspolitik vor und nach 1933.

Was Schmitt zur aktuellen Corona-Politik gesagt hätte, ist nicht antizipierbar. Vielleicht hätte er seine Weimarer Kategorien gar nicht mehr angewendet. Seine grundbegrifflichen Stichworte „Souveränität“, „Ausnahmezustand und Normalzustand“, „Legalität und Legitimität“, „Gesetz und Maßnahme“ und anderes mehr lassen sich aber als geläufige juristische Termini auf die gegenwärtige Lage beziehen. Das wird hier nun knapp versucht.

Souveränität: Es ist keinesfalls offensichtlich, wer eigentlich die Akteure der Corona-Politik sind und ob es hier einen Souverän im Sinne Schmitts („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“) gibt. Von der juristischen Zurechnung ist dabei die politische Betrachtung zu unterscheiden. Juristisch mag das bundesdeutsche Handeln klar zurechenbar sein. Politikwissenschaftlich müsste aber näher untersucht werden, wer eigentlich entscheidend handelte. Das betrifft alle Akteure im „Mehrebenensystem“ globaler Politik. Waren die initialen Corona-Entscheidungen der Bundesrepublik signifikant europäisiert und internationalisiert? Zweifellos gab es hohe Übereinstimmungen. Donald Trump und Boris Johnson schwenkten in die Containment-Politik ein, Putin folgte nach, sodass Schweden bald als Vertreter eines „Sonderwegs“ relativ isoliert dastand. Gab es verbindliche Absprachen auf EU-Ebene? War „China“ vielleicht der Herr des Verfahrens? Eine starke Personalisierung und Zurechnung aller Entscheidungen auf die Bundeskanzlerin greift jedenfalls zu kurz, obgleich Merkel auch im Bund-Länder-Verhältnis immer wieder harte Maßnahmen forderte und zur einheitlichen Linie ermahnte.

Mit Schmitts Begriff des Politischen läge es nahe, für die supranationale Abstimmung eines einheitlichen Vorgehens etwa von Macrons Erklärung vom 16. März auszugehen: „Nous sommes en guerre!“ Gelegentlich wurde der Coronavirus in den Debatten auch ein „unsichtbarer Feind“ genannt. Mit Schmitt((Schmitt, Theorie des Partisanen, Berlin 1963, S. 87 ff.; ders., Ex Captivitate Salus, Köln 1950, S. 90.)) wäre hier zurückzufragen, ob der Virus ein „wirklicher“ Feind ist oder nicht eher die imaginäre Feindprojektion der „eignen Frage als Gestalt“. Gelegentlich wurde der Virus in den Debatten jedenfalls zum politischen Akteur erhoben und dämonisiert. Schmitts Begriff des Politischen mahnt aber zur semantischen Kritik und Identifikation der politischen Entscheidungen und Akteure. Der Virus selbst handelt nicht. Es gibt keine alternativlosen Zwangshandlungen, die aus der Pandemie folgen.

Offensiver noch als die Metaphorisierung des Virus‘ als Akteur war der Verweis auf „die“ Wissenschaft, insbesondere die Virologie. Politik rechtfertigte ihre Entscheidungen durch wissenschaftliche Expertise, Experten und Expertengremien. Die Debatte nahm expertokratische Züge an. Politiker erklärten, der Autorität oder den Empfehlungen der Wissenschaft zu folgen. Einige Zeit konnte man geradezu von einer „Diktatur der Virologen“((So schon mein Interview mit Joachim Frank in der Frankfurter Rundschau Jg. 76 (2020), Nr. 73 vom 26. März 2020, S. 4.)) sprechen, bis der Anschein eines wissenschaftlichen Konsenses zerfiel. Bald wurden diverse Fächer und Akteure einbezogen und beteiligt. Die Kommunikation wurde auch in den Medien immer bunter und heterogener und die Experten widersprachen einander und oft auch in kurzen Zeittakten sich selbst. Die Autorität virologischer Expertise wurde für Teile der Öffentlichkeit damit einigermaßen fragwürdig. Es gilt Äsops Fabel vom Hirtenjungen, der lügnerisch nach den Wölfen ruft, die angeblich kommen, sodass bald niemand mehr reagiert. Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Autorität der Virologen ist derart ruiniert, dass sie bei der nächsten schweren Pandemie, die gewiss kommt, nicht mehr das nötige Gehör finden könnte. Die Politik thematisierte und problematisierte die heterogenen Erklärungen gelegentlich als „Lernprozess“. Medienpräsente Experten waren dabei nicht immer entscheidende Akteure.

Legalität: Die positivrechtliche Legitimationsbasis der Maßnahmen war nicht das Grundgesetz, sondern das bis dahin der Öffentlichkeit wenig bekannte Infektionsschutzgesetz (IfSG), das um der stärkeren Legalisierung der Maßnahmen willen für „epidemische Lagen von nationaler Tragweite“ umgehend novelliert wurde. Im IfSG ist die primäre Zuständigkeit und Autorität der „Empfehlungen“ des Robert-Koch-Instituts (RKI) hervorgehoben. Juristisch betrachtet war das RKI damit eindeutig die wichtigste Legitimationsinstanz der Politik. Schmitt hätte sich für diese Marginalisierung des Grundgesetzes und die zentrale Rolle des IfSG vermutlich sehr interessiert. Das betrifft sowohl die Novellierung als auch den Umgang mit dem Gesetz, hier insbesondere die extensive Bedeutung von vagen Bestimmungen und Generalklauseln, die nicht intentional auf die Corona-Pandemie zugeschnitten waren.

Dem Grundgesetz fehlte trotz seiner erweiterten Notstandsgesetzgebung offenbar eine klare Regelung des Pandemie-Krisenfalles. Das Infektionsschutzgesetz wurde deshalb gleichsam über Nacht das Ausführungsgesetz zur Corona-Politik. Das ähnelt Schmitts Darlegungen zum „Provisorium“ des Art. 48 WRV, die eine schnelle Verabschiedung eines Ausführungsgesetzes zur legalen Stiftung von Rechtssicherheit forderten. Schmitt betonte 1924 die Gefahr einer Auslegung der Gesetzeslücken als „Staatsnotstand“ und begegnete ihr mit systematischen Begrenzungen aller „Maßnahmen“ auf die „Zweckmäßigkeit“. Seine Thesen von 1924 sind auf die gegenwärtige Corona-Lage einigermaßen anwendbar: Die exekutiven Corona-Maßnahmen wurden, anders als in Weimar, allerdings durch das nachrangige IfSG legitimiert. Die Extension der Maßnahmebefugnisse wie die Zweckmäßigkeit vieler einzelner Maßnahmen ist strittig. Das gilt sowohl für die Zielformulierung als auch die kausalen Zuschreibungen und Mittel. Bundeskanzlerin Merkel erklärte in der Anfangsphase (März/April) der Corona-Politik die Sicherung des Überlebens von „Risikogruppen“ zum wichtigsten Zweck aller Maßnahmen; Bundestagspräsident Schäuble erinnerte im Berliner Tagesspiegel am 26. April 2020 dagegen an die Abwägungsdogmatik der Grundrechte, die keine Verabsolutierung eines einzelnen Grundrechts kenne.

Schmitt hatte in Legalität und Legitimität von einem „Widerspruch“ zwischen der „Werthaftigkeit“ der Grundrechtsbestimmungen und der „Wertneutralität“ des liberalen Gesetzgebungsstaates gesprochen; er trennte scharf zwischen Liberalismus und Demokratie und betrachtete die Grundrechtsbestimmungen als materiale „Gegen-Verfassung“((Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 307.)) zum wertneutralen Legalitätssystem. Schmitt sprach von zwei konfligierenden „Rechtfertigungssystemen“((Schmitt, ebd., S. 319.)), gar von „zwei Verfassungen“((Schmitt, ebd., S. 344.)), die die Weimarer Reichsverfassung selbstwidersprüchlich und selbstmörderisch als Verfassungskompromiss inkorporiert habe. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erfolgte erst 1948; die Weimarer Verfassung priorisierte noch nicht die „Menschenwürde“ und Grundrechte. Schmitt erklärte das Grundrechtsgefüge, anders als etwa Schäuble im Interview, deshalb nicht zum fundamentalen „Kern“ der Verfassung, hielt aber eine Auslegung für möglich, die die Grundrechtsbestimmungen zum substantiellen Zentrum erhob.

Normalzustand und Ausnahmezustand: Es wurde bereits gesagt, dass die Corona-Politik sich nicht durch das Grundgesetz rechtfertigte und keinen Ausnahmezustand erklärte; sie leugnete aber nicht, dass zahlreiche Grundrechte erheblich eingeschränkt wurden. Bald sprach sie von der Suche nach einer „neuen Normalität“, ohne einen klaren Zeitplan und eine Exit-Strategie der Rückkehr zum Normalzustand vorzulegen. Es gab also einen Zwischenzustand zwischen Normalzustand und Ausnahmezustand. Schmitts Forderung eines Ausführungsgesetzes legte nahe, dass seine „kommissarische Diktatur“ die Rückkehr zum Normalzustand postulierte. Es sei dahingestellt, ob der erklärte „Gegenrevolutionär“ heimlich den „Ausnahmezustand“ ersehnte. Schmitt beobachtete jedenfalls die Erosion und Transformation des liberalen „Gesetzgebungsstaates“ in einen exekutiven Maßnahme- und „Führerstaat“. Vielleicht hoffte er 1933 auf die Verfassungsfähigkeit des Nationalsozialismus und eine diktatorische Normalisierungspolitik und neue Normalität und Verfassung. Niemals entwarf er vor oder nach 1933 zwar eine klare Perspektive der Rückkehr in einen Normalzustand; buchstäblich optierte seine Verfassungslehre aber eindeutig für die „kommissarische Diktatur“ als Mittel der Rückkehr. Mit Schmitt – seiner Theorie, nicht den rechtspolitischen Intentionen – ist die schwache Rechtsgrundlage und Legalität der Corona-Maßnahmen also zu kritisieren und eine klare Exit-Strategie der Rückkehr zum Normalzustand und status quo ante zu fordern.

Legitimität: Schmitt hat Legalität und Legitimität stets begrifflich unterschieden und antiliberale Konzeptionen von Legitimität und Recht präferiert. Seine Schrift Legalität und Legitimität skizziert 1932 mit der These von den „zwei Verfassungen“ die Möglichkeit einer antiliberalen Demokratie, bei der ein plebiszitär getragener Reichspräsident, Diktator oder „Führer“ Legalitätsbrüche durch die politische Verwirklichung von Grundrechten rechtfertigt. Für die Anfangsphase der Corona-Politik und die öffentlichen Erklärungen der Maßnahmen durch die Kanzlerin muss von einer fragwürdigen Legalität und einer plebiszitär getragenen Legitimität gesprochen werden: Merkel hob ohne juristische Differenzierungen auf die unbedingte Sicherung des Überlebens von „Risikogruppen“ ab und negierte so, ein einzelnes Grundrecht verabsolutierend, das Abwägungsprinzip der Grundrechtsdogmatik. Die plebiszitäre Legitimierung dieser Maßnahmepolitik erfolgte dabei nicht durch Wahlen, sondern durch Meinungsforschung und mehr oder weniger repräsentative Befragungen, die hohe Zustimmungsquoten und akklamative Bejahungen der Maßnahmen ermittelten.

Für einige Wochen wurden die Maßnahmen trotz ihrer schwachen juristischen Rechtfertigung, vielfach fragwürdigen Zweckmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit und ihrer enormen negativen (ökonomischen wie psychosozialen) Nebenfolgen mehrheitlich akzeptiert und akklamiert. Spätestens Anfang Mai erfolgte jedoch ein Stimmungsumschwung in Teilen der Bevölkerung, zumal die tödliche „Welle“ einigermaßen ausblieb und die negativen Nebenfolgen des Lockdowns verstärkt sichtbar wurden. Die Opposition gegen die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen wurde lauter. Einige Länder leiteten erste Individualisierungen und Sonderwege ein. Am 6. Mai erfolgte dann ein Kurswechsel, den viele Medien als Niederlage Merkels und Ende der ersten Phase der Corona-Politik kommentierten. Die erste, von Merkel dominierte restriktive Unitarisierung wurde sehr plötzlich auf föderale und lokale Verantwortlichkeiten umgestellt und man interpretierte das ohnehin weit und elastisch aufgefasste Infektionsschutzgesetz plötzlich in seinen Zuständigkeitsbeschreibungen um. Vielleicht wäre es besser gewesen, auf einen starken „Shutdown“ von Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt zu verzichten und sich auf die Optimierung der medizinischen Versorgung zu konzentrieren. Solche Bilanzen, als konjunktivistische Betrachtung ohnehin fragwürdig, sind aber erst mit historischem Abstand einigermaßen verlässlich möglich.

Abschließend sei deshalb nur rekapituliert, dass Schmitts Theorie der „kommissarischen Diktatur“ im Ausnahmezustand, in der Fassung von 1924, trotz der Münchner Erfahrung der Spanischen Grippe nicht auf Pandemien ausgerichtet war. Sie stellte, abgesehen von Schmitts eigenen rechtspolitischen („gegenrevolutionären“ und antiliberalen) Intentionen, aber einige verfassungstheoretische Kategorien zur Verfügung, die anwendbar sind und grundsätzliche Orientierung bieten können. Da die verfassungsrechtliche Bewertung der Corona-Politik noch aussteht und auch keineswegs einfach und eindeutig ist, schon weil das Grundgesetz offenbar Regelungslücken aufwies, ist die neuerliche Auseinandersetzung mit Schmitts Verfassungslehre im Kontext der Corona-Politik sinnvoll. Deren Kategorien können freilich die differenzierte dogmatische Beschreibung nicht ersetzen.


One Comment

  1. […] lásd Mehring, Reinhard, Carl Schmitt und die Pandemie. Teil II, Verfassungsblog, 2020. május 12., https://staging.verfassungsblog.de/carl-schmitt-und-die-pandemie-teil-ii/%5B4%5D Lásd többek között Kelsen, Hans, Allgemeine Staatslehre. Studienausgabe der Originalausgabe […]

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