13 May 2020

Corona Constitutional #23: Ultra Vires, Runde 2

Unser Podcast zum sogenannten „Ultra Vires“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von vergangener Woche geht in die zweite Runde. Wenn ein nationales Gericht Handlungen der Europäischen Zentralbank sowie des Europäischen Gerichtshofs für offensichtlich unverhältnismäßig und kompetenzwidrig hält, lohnt es, grundlegende Fragen aufzuwerfen. Welches Verständnis von Demokratie, Verfassung und staatlicher Souveränität liegt eigentlich solchen Entscheidungen aus Karlsruhe zu Grunde? Welche möglichen längerfristigen Motive treibt Richterinnen und Richter zu einer derartigen Eskalation eines lange schwellenden Konflikts an? Zu dieser und anderen Fragen unterhält sich Alexander Melzer mit dem Politikwissenschaftler OLIVER LEMBCKE von der Ruhr-Universität Bochum.


One Comment

  1. Bernhard Marquardt Thu 14 May 2020 at 11:46 - Reply

    BVerfG und EuGH im Kompetenz-Gerangel

    Angesichts der Entscheidung des BVerfG entgegen der des EuGH scheint ein Konflikt unausweichlich. Wie steht es um die Gewaltenteilung hier und dort?

    Das Durchsetzungsvermögen der Justiz steht und fällt mit der Effizienz der Gewaltenteilung.
    Damit auch Ansehen und Akzeptanz der Gerichte.

    Am 30. September 2009 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) in einer einstimmig gefassten Resolution (Nr. 1685/2009) Deutschland aufgefordert, ein System der Selbstverwaltung der Justiz einzuführen und die Möglichkeit abzuschaffen, dass Justizminister der Staatsanwaltschaft Anweisungen zu einzelnen Fällen geben.

    Hintergrund ist, dass es ohne einen unabhängigen Justizapparat keine effiziente Gewaltenteilung gibt. Auch nach Art.20 Abs.2 GG ist ist die Gewaltenteilung wesentliche Grundlage eines demokratischen Rechtsstaats. Der stützt sich auf die Verteilung der staatlichen Gewalt auf Legislative, Exekutive und Judikative. Letztere sollte das rechtsstaatliche Handeln der beiden anderen Institutionen kontrollieren.

    Nach den Erfahrungen unter dem Faschismus hat Italien in seiner Verfassung vom 27. Dezember 1947 die Judikative der Exekutive entzogen (Artikel 101 bis 113). Spanien folgte diesem Beispiel nach dem Ende der Franco-Diktatur im Dezember 1978 (Artikel 117 bis 127). Auch dort unterstehen die Gerichte und Staatsanwaltschaften nicht mehr der Regierung, sie werden von einem eigenständigen dritten Machtträger verwaltet, dem „Generalrat der rechtsprechenden Gewalt“. Die meisten Mitgliedsländer der Europäischen Union haben sich in modifizierter Form dem italienischen und spanischen Vorbild angeschlossen, meist mit der Einrichtung sog. Justizräte zur Auswahl von Richtern und Staatsanwälten. So hatte etwa auch Polen zum 1.April 2010 einen unabhängigen Justizrat eingeführt, macht diesen Schritt aktuell allerdings wieder rückgängig. Und wird dafür zu Recht von der EU sanktioniert. Anderweitig versuchen Regierungen, wenngleich deutlich subtiler, Einfluss auf die Zusammensetzung der Justizräte zu gewinnen.

    Weder die schrecklichen Erfahrungen mit einem staatlich gelenkten Justizapparat im „Dritten Reich“ noch dessen Fortsetzung unter anderen Vorzeichen in der DDR haben die Bundesrepublik veranlasst, Gerichte und Staatsanwaltschaften dem Einfluss der Exekutive zu entziehen.
    Über die Besetzung aller wesentlichen Positionen im Justizwesen (höchste Richterstellen und Staatsanwälte) entscheiden hierzulande Regierungen, Parlamentsausschüsse und Parteigremien. Sie kontrollieren in Wahrheit die Justiz. Nicht anders herum, wie im Grundgesetz vorgesehen. Die unselige Herrschaft der Parteien in Legislative und Exekutive über die Justiz unterbindet seit Bismarks Zeiten die Entfaltung einer effektiven Gewaltenteilung in Deutschland.

    In Artikel 97(1) GG heißt es zwar:
    „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“

    Aber die Realität sieht anders aus.
    Paulus van Husen (1952-1959 Präsident des Verfassungsgerichtshofes NRW) formulierte 1951:
    „Das Grundübel liegt in der Richterernennung durch die Exekutive. Zunächst besteht die häufig verwirklichte Gefahr, dass für das Richteramt ungeeignete Personen aus sachfremden Gründen, die der Exekutive nützlich erscheinen, ernannt werden. Wie soll ein Richter unabhängig sein, der sein ganzes Leben lang hinsichtlich der Beförderung in Aufrückestellen von der Exekutive abhängt. Nicht jeder Mensch ist zum Märtyrer für eine Idee geboren, andererseits hat aber jeder Mensch die Pflicht, für seine Familie und sein eigenes Fortkommen zu sorgen. Die richterliche Unabhängigkeit ist eine verlogene Angelegenheit, so lange dieses System besteht.“
    aus „Die Entfesselung der Dritten Gewalt“, Paulus van Husen 1951

    Der/die Justizminister/in ist für die Auswahl und Ernennung der Staatsanwälte zuständig. Die sind seinen/ihren Weisungen unterworfen. Er/sie bestimmt Art und Weise der Beurteilung von Richtern und Staatsanwälten in Dienstzeugnissen ebenso wie die Art und Weise der periodischen Überwachung der Richter und Staatsanwälte in Geschäftsprüfungen, er/sie entscheidet über die Beförderungen der Richter und Staatsanwälte.

    Derselbe Paulus van Husen formulierte deshalb ebenfalls bereits 1951 drastisch:
    „Der Weg zur Unabhängigkeit der Gerichte führt über die Leiche des Justizministers“…

    Der 40. Deutsche Juristentag hat bereits 1953 angemahnt: „Gesetzgeberische Maßnahmen, um die Unabhängigkeit des erkennenden Richters sowohl durch die Art seiner Auswahl und Beförderung als auch durch seine Stellung gegenüber der Verwaltung institutionell zu sichern, sind notwendig zur Durchführung des Grundgesetzes.“

    In den Kriterien der Europäischen Union über die Aufnahme neuer Mitgliedsländer heißt es:
    „Die für die Auswahl und Laufbahn der Richter zuständige Behörde sollte von der Exekutive unabhängig sein“.
    Demnach hätte Deutschland heute größte Probleme, neu in die EU aufgenommen zu werden.

    Dennoch, selbst nach der o.g. Resolution des Europarates hat sich keine deutsche Regierung ernsthaft bemüht, diesen Rechtsmangel zu beheben.

    Im Gegenteil:
    Auf eine „Kleine Anfrage“3/2010 mehrerer Bundestagsabgeordneter
    „Wie stellt sich die Bundesregierung die Umsetzung der Aufforderung der Parlamentarischen
    Versammlung des Europarates vor, zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz in der Zukunft ein System der gerichtlichen Selbstverwaltung unter Berücksichtigung der föderalen Struktur der deutschen Justiz einzurichten – und zwar nach dem Vorbild der bestehenden Justizräte in der überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten?“

    antwortete die Bundesregierung:
    „Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in ihrer Resolution 1685 (2009) geforderte Einführung eines Systems der Selbstverwaltung der Justiz in Form von Justiz(verwaltungs)räten in Deutschland wäre nach allgemeiner Ansicht nicht ohne entsprechende Änderungen des Grundgesetzes realisierbar. Hierzu bedürfte es breiter Zustimmung in den gesetzgebenden Körperschaften, die schon mit Rücksicht auf die überwiegend ablehnende Haltung der Länder gegenwärtig nicht erkennbar ist.“

    Gilt Art.20 Abs.2 GG nicht mehr?

    Auf der Justizministerkonferenz am 14. November 2013 haben lediglich Sachsen, Brandenburg und Schleswig-Holstein einem Vorstoß in dieser Richtung zugestimmt. Regierungen und die sie tragenden Parteien weigern sich schlichtweg, ihre Macht über die Justiz abzugeben. Aber genau das ist der Sinn der Gewaltenteilung.

    Mangelhafte Unabhängigkeit der obersten Gerichte
    Die Richter der Bundesgerichte (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht usw.) werden von einem Richterwahlausschuss gewählt, dem die Justizminister der Länder und 16 vom Bundestag gewählte Mitglieder angehören. Lediglich 9 Bundesländer können auf ein gesetzlich geregeltes Richterwahlverfahren verweisen. Und auch dort behält die jeweilige Landesregierung bei der Wahl und der Ernennung von Richtern das Heft des Handelns fest in der Hand. Von einem unabhängigen, unparteiischen Wahlverfahren ist nirgends die Rede.

    Mangelhafte Unabhängigkeit des BVerfG
    Bundestag und Bundesrat wählen je die Hälfte, also vier Richter, in die Senate
    Im Bundesrat werden die Richter durch das Plenum gewählt. Grundlage ist hierbei in der Regel ein durch die Ministerpräsidenten eingebrachter Antrag.
    Ein zwölf Mitglieder umfassender Wahlausschuss des Bundestages beschließt mit mindestens acht von zwölf Stimmen, dem Bundestag einen Wahlvorschlag zu unterbreiten, der dann ggf. mit einer Zweidrittelmehrheit im Plenum bestätigt wird. Bis zum Jahr 2016 teilten sich CDU/CSU sowie die SPD das Vorschlagsrecht in Bundesrat und Bundestag. Ein Richter wurde von der FDP, einer von den Grünen vorgeschlagen. Seit 2016 wurden den Grünen wegen deren Sperrminorität im Bundesrat jede fünfte Richter-Benennung eingeräumt. Dafür entfiel das Vorschlagsrecht der FDP.

    Ergebnis: Zu Zeiten einer großen Koalition beherrschen die von den beiden Regierungsparteien vorgeschlagenen Richter beide Senate mit einer 7:1 Mehrheit.
    Sieht so die notwendige kritische Distanz und Unabhängigkeit von Richtern aus, die das rechtsstaatliche Agieren von Legislative und Exekutive überwachen sollen?

    Mangelhafte Unabhängigkeit des EuGH
    Keineswegs besser steht es um die Unabhängigkeit der Richter am EuGH. Von jedem Mitgliedsland der EU wird ein Richter zum EuGH entsandt. Dabei wird bei der Auswahl seitens der jeweiligen Regierung sicherlich sorgsam darauf geachtet, dass „ihr/e Richter/in“ die Interessen des eigenen Landes bei Gericht tatkräftig unterstützt. Auch gegen die Interessen andere Mitgliedsländer.
    Wenn nach den Grundsätzen der EU Rechtsstaatlichkeit nur gewährleistet ist mit unabhängigen Richtern und Staatsanwälten, muss sich der EuGH selbst dieser Anforderung stellen. Derzeit erfüllen die Richter des EuGH diesen Anspruch sicher nicht. Richterliche Unabhängigkeit und Objektivität sieht anders aus. In Wahrheit handelt es sich bei den Richtern des EuGH drastisch formuliert um juristische Lobbyisten des jeweiligen Landes.

    Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?
    Es gibt eine Lösung, den Justizapparat vom Einfluss der Legislativen und der Exekutiven effektiv und nachhaltig zu lösen, bereits erprobt und erfolgreich.

    Allerdings ist das schon eine Weile her:
    „In den Jahren 508/07 bis 322 v. Chr. herrschte in Athen eine direkte Demokratie, mit einer Bürgerbeteiligung, deren Ausmaß von keiner späteren Demokratie wieder erreicht worden ist.
    Athens Demokratie erstreckte sich auch auf die Gerichte, die wegen ihres besonderen Charakters als Gerichtsversammlungen bezeichnet werden müssen. … 6000 Bürger bestimmte das Los jährlich zu Richtern. Berufsrichter gab es nicht. Die Richter hatten einen Eid zu leisten, der sie verpflichtete, in Übereinstimmung mit den Gesetzen sowie den Beschlüssen von Volk und Rat zu urteilen…..Die etwa siebenhundert Amtsträger wurden prinzipiell durch das Los bestimmt, ihre Amtszeit war strikt begrenzt, und sie unterlagen lückenloser Kontrolle und Rechenschaftslegung. Nur wenige herausgehobene Ämter, die besondere Kenntnisse erforderten, wie etwa die Finanzverwaltung, der Städtebau, die Wasserversorgung und das Amt der Strategen, der militärischen Befehlshaber, die vor allem für die äußere Sicherheit und die Kriegsführung zuständig waren, wurden durch Wahl vergeben. Ansonsten war das Los das Symbol für bürgerschaftliche Gleichheit, weil es gesellschaftliche Stellungen, Vermögensunterschiede und unterschiedliche Interessen neutralisierte. Das Losverfahren verhinderte Protektionismus und andere Formen der Bevorteilung im Prozess der Ämterbesetzung. Nirgends drückte sich das Ideal der gleichen Chance auf Teilhabe und Teilnahme an der Politik so klar aus wie in der athenischen Demokratie.“
    Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 6.1.2014

    Interessanterweise wurde in der Schweiz am 26. August 2019 eine Justizinitiative eingereicht, welche die Bestimmung der wählbaren Kandidaten durch eine vom Bundesrat ernannte unabhängige Fachkommission vorsieht und die Besetzung der frei gewordenen Bundesrichterstellen anschließend durch ein Losverfahren vornehmen möchte.

    Wie könnte unter den heutigen politischen Rahmenbedingungen eine tatsächlich unabhängige Fachkommission gebildet werden? Und wie sollte das Losverfahren ablaufen?

    Ein Vorschlag im Entwurf:
    1. Unabhängigkeit
    Richter und Staatsanwälte einschl. der zugehörigen Justizverwaltung sind von Legislative und Exekutive unabhängig und nur dem Grundgesetz unterworfen.
    2. Voraussetzungen
    Per Gesetz ist jeder zum Richter an einem obersten Landes- bzw. Bundesgericht sowie an den jeweiligen Verfassungsgerichten, zu einem Bundesanwalt und zu einem Generalstaatsanwalt geeignet, der mindestens 40 Jahre alt ist und nach dem Deutschen Richtergesetz die Befähigung zum Richteramt besitzt. Er muss zum Deutschen Bundestag wählbar sein, darf aber weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören. Auch nicht mindestens ein Jahr zuvor.
    3. Organisation
    Im Sinne einer fachlichen Qualifikation werden von der Exekutive und Parteien unabhängige berufliche Organisationen für Richter, Staatsanwälte und Anwälte gebildet.
    4. Losverfahren
    zur Besetzung der obersten Richter und Bundesanwälte bzw. Generalstaatsanwälte.
    Die drei o.g. Organisationen erstellen Vorschlagslisten für zu besetzende Stellen am Bundesverfassungsgericht, an den Landesverfassungsgerichten und an den Bundesgerichten, sowie bei der Bundesanwaltschaft und für Posten der Generalstaatsanwälte. Die Zahl der Vorgeschlagenen soll pro o.g. Organisation das Dreifache der Zahl der zu besetzenden Stelle pro Gerichtsbarkeit bzw. pro Staatsanwaltschaft betragen. Aus dem Fundus der vorgeschlagenen jeweils neun Kandidaten wird jede neu zu besetzende Stelle verlost. Nach einer Berufung schlägt die Organisation, aus dessen Reihen der Richter/Staatsanwalt gelost wurde, einen Ersatzkandidaten vor.
    Weder Parteien oder deren Gremien noch Teile der Exekutive sind an diesem Verfahren beteiligt.
    5. Amtszeit
    Die Amtszeit aller unter 4 genannten Richter bzw. Staatsanwälte wird in dieser Position auf 6 Jahre begrenzt. Jeder Richter/Staatsanwalt darf auf Vorschlag ein zweites Mal an der Auslosung seiner Position teilnehmen.
    6. Beförderung
    Über die Beförderung innerhalb der Gerichte/Staatsanwaltschaften entscheidet nicht mehr die Dienstzeit, sondern eine Mehrheit der dort tätigen Richter/Staatsanwälte in geheimer Wahl. Auch die Zeit in dieser Position ist auf 6 Jahre limitiert. Anschließend erfolgt eine neue geheime Wahl.
    7. Besoldung
    Die Besoldung erfolgt in einer dann inkonstanten Kombination aus Dienstzeit und Position.
    8. Berufsrecht
    Bei berufsrechtlichen Auseinandersetzungen entscheidet eine Berufsrechtskammer, die ebenfalls von den o.g. Organisationen per Los gebildet wird.

    Ergänzung: Angesichts der allseits beklagten Überlastung der beiden Senate des BVerfG mit der Folge einer unangemessenen Verfahrensdauer ist eine Erweiterung um zwei weitere Senate sinnvoll. Schon bei der Besetzung dieser beiden Senate könnte das Losverfahren zum Zuge kommen.

    Fazit: Das Los schafft Diversität im Justizwesen. Es verhindert Parteienklüngel, Lobbyismus, Protektionismus und andere Formen der Beeinflussung im Prozess der Ämterbesetzung. Das wiederum könnte neues Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit dieser Republik schaffen. Möglicherweise ist es bis zur Besetzung der wichtigsten Posten im Justizwesen durch ein Losverfahren ein längerer Weg. Der beginnt bekanntermaßen aber immer mit dem ersten Schritt.

    Andere Vorschläge zur Erlangung der geforderten Unabhängigkeit der Justiz müssten sich an den Vorteilen eines Losverfahrens messen lassen.

    Ein vergleichbares Auswahlverfahren wäre auch für die Richter am EuGH möglich, …..wenn man das denn wollte. Da sich der EuGH jedoch aus juristischen Staatslobbyisten zusammensetzt, erscheint eine enge Begrenzung seiner Kompetenzen zwingend.

    13.Mai 2020
    Bernhard Marquardt

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