Polexit – Quo vadis, Polonia?
„Wann kommen denn die Tage, an denen die Dummheit Dummheit zu nennen, kein Hochverrat sein wird!?“
Cyprian Kamil Norwid
Polen A. D. 2020: Was auf dem Spiel steht
Unkenntnis und Unwille sind in Polen heute an der Tagesordnung: Unkenntnis darüber, wie das europäische Recht und die europäischen Institutionen funktionieren und Unwille, sich an die freiwillig eingegangenen europäischen Verpflichtungen zu halten. Grundprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, verfassungsmäßige Rechte und Freiheiten, Unabhängigkeit der Gerichte sowie die Spielregeln der liberalen Demokratie (darunter Beachtung von Minderheiten- und Oppositionsrechten und unbedingte Achtung der Verfassung) haben das Feld geräumt. An ihre Stelle ist die dogmatische Behauptung getreten, die demokratisch erlangte Mehrheit legitimiere den Wahlsieger dazu, alles zu tun und sich an keinerlei Einschränkungen gebunden zu fühlen.
Kornel Morawiecki formulierte 2015 eloquent das Motto der damals frisch gewählten Regierung mit einem Geistesblitz, der mit anderen Worten schon ausgerechnet in Hans Franks [NS-Jurist und Generalgouverneur im besetzten Polen 1939–1945; Anm. d. Übers.] opus magnum „Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung“ von 1935 zu finden war. Bei Frank lautete es: „Alles, was dem Volke nützt, ist Recht, alles, was ihm schadet, ist Unrecht.“ Bei Morawiecki wurde daraus: „Über dem Recht steht das Wohl der Nation. Wenn das Recht dieses Wohl beeinträchtigt, ist es uns nicht gestattet, es als unantastbar zu betrachten. Ein Recht, das der Nation nicht dient, ist Unrecht.“
Die vergangenen fünf Jahre waren dem Zweck gewidmet, mit aller Entschlossenheit einen verfassungswidrigen Staatsstreich auszuführen. Nachdem das Verfassungsgericht mit willfährigen Richtern besetzt worden war, wurde der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt. Zuallererst führte uns der damalige Umweltschutzminister das einmalige Schauspiel vor, wie ein Urteilsspruch des EuGH zu obstruieren und dessen Richter mit persönlichen Attacken anzugehen seien: Im November 2017 war sein stärkstes Argument bei dem Streit um die Holzeinschläge im Białowieża-Nationalpark das berühmte Einmachglas mit einem Buchdrucker (einer Borkenkäferspezies), das er zur Verhandlung mitnahm. Jarosław Gowin, damals Minister für Wissenschaft und Bildung, leistete seinerseits einen Beitrag zur allgemeinen antieuropäischen Stimmung, indem er öffentlich ankündigte, Polen müsse davon Abstand nehmen, sich dem Urteil des EuGH zu beugen, denn ein vom EuGH in Antwort auf eine Anfrage des polnischen Obersten Gerichts ergangenes Urteil stehe im Widerspruch zum Geist des europäischen Rechts. Beim polnischen Pseudo-Verfassungsgericht war bereits eine Eingabe von Justizminister Zbigniew Ziobro anhängig; sie stellt das Prinzip der Vorabentscheidung in Frage, einen der Ecksteine des europäischen Rechts, demnach jedes polnische Gericht eine Anfrage zur Auslegung des europäischen Rechts an den EuGH richten kann.
Die von polnischen Gerichten geäußerten Zweifel an der von der PiS-Partei durchgeführten sogenannten „Reform des Justizwesens“ wurden dem EuGH auf dieser Grundlage vorgelegt, was erklären mag, wieso sich das Justizministerium plötzlich für die Möglichkeit der Vorabentscheidung interessierte.
Unlängst, während laufender Verhandlung vor dem EuGH in Sachen Landesjustizrat, sprang plötzlich ein Vertreter Ziobros hinter dem polnischen Regierungsbevollmächtigten hervor und stellte den peinlichen Antrag, EuGH-Präsident Koen Lenaerts von dem Verfahren auszuschließen. Justizminister Ziobro selbst ließ sich herablassend über eine der Schlussanträge des EuGH-Generalanwalts Jewgeni Tantschew aus, in der er die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts als unvereinbar mit europäischen Rechtsstandards eingestuft hatte. Während derartige Schlussanträge seit 1951 als autoritative Formulierungen europäischen Rechts gelten, handelt es sich für Ziobro lediglich um die „Meinung irgendeines Bulgaren“…
Die EuGH-Obsession der PiS-Partei tritt auch bei dem meisterlichen Plan gegen die Anfragen, die dem EuGH von polnischen Richtern vorgelegt wurden, in Erscheinung. Gemäß Antrag eines Richters des Obersten Gerichts, den der verfassungswidrige Landesjustizrat nominiert hatte, an das Pseudo-Verfassungsgericht sei die Auswahl der von dem „alten Landesjustizrat“ designierten Richter verfassungswidrig. Die Entscheidung des Pseudo-Verfassungsgerichts hierzu wird die PiS zweifelsohne nutzen, um gegen Anfragen polnischer Richter zu Vorabentscheidungen zu argumentieren, welche die „Reform des Justizwesens“ infrage stellen.
Der Versuch, die Autorität des EuGH zu untergraben, kommt nicht überraschend. Er fügt sich sehr gut in die verfassungswidrige und antieuropäische Doktrin der PiS ein. In deren Mittelpunkt steht die Übernahme sämtlicher Institutionen, die sich dem Programm des „guten Wechsels“ der PiS in den Weg stellen könnten. Innerhalb des populistischen Narratives der PiS ist der EuGH gar kein Gericht, sondern eine Ansammlung verantwortungsloser Richter, die der souveränen polnischen Nation und ihrer Rechtstradition fremde und an den Haaren herbeigezogene Auslegungen und Pflichten oktroyiere. Allerdings spielt dieses aggressive und polarisierende Narrativ mit hohem Einsatz, nämlich dem Verbleib Polens in der Europäischen Union. Wir sind Zeugen der Untergrabung der Grundprinzipien des Rechtssystems der EU. Wenn aber das Rechtssystem der EU in Polen nicht mehr wirksam ist, ist das: der Polexit.
Bei seinem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 akzeptierte Polen freiwillig die sich aus der Mitgliedschaft ergebenden Verpflichtungen, darunter die unbedingte Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs. Polen erkannte die letztinstanzliche Autorität dieses Gerichts an, die verbindlich den Umfang unserer Verpflichtungen gegenüber der EU und dieser gegenüber uns festsetzt. Diese Autorität in Frage zu stellen, geht weit darüber hinaus, die nur Rechtsexperten klaren Regeln des europäischen Rechts auszuhöhlen. Es bedeutet, die Grundlagen dieses Rechts nicht anzuerkennen, und es schadet dem Wesen der europäischen Nachkriegsordnung, die auf der Anerkennung liberaler Werte beruht. Die aus der europäischen Geschichte zu ziehende Grundlehre lautet: Nationalstaaten, die gegeneinander Kriege führten oder von ihnen profitierten, müssen einem Regime der Einhegung von außen unterworfen werden. Von Beginn der Europäischen Gemeinschaften an sollte dieses Regime nicht nur eine wirtschaftliche Dimension in Form des gemeinsamen Marktes haben, sondern auch als Sicherheitsventil und Bremse der Politik in den Nationalstaaten fungieren. So entstanden die Gemeinschaften durch die Koppelung zweier widersprüchlicher Anschauungen: einerseits der Annahme, die europäischen Staaten und Nationen seien durch gemeinsame Werte und eine gemeinsame Lebensweise verbunden, andererseits des Misstrauens und der schmerzhaften Erinnerung an das Leid, das dieselben Staaten einander zugefügt hatten.
Eine Rechtsgemeinschaft ohne Krieg
Einst regelten die europäischen Staaten ihre Streitigkeiten auf dem Schlachtfeld. Die Stärke und der Ehrgeiz der ersten Europäischen Gemeinschaften beruhten Recht und Institutionen, die alle miteinander verbanden. Daher waren nach 1945 die Standards der europäischen Kultur und verfassungsrechtlichen Praxis von der liberalen Denkweise geprägt, die dem Recht das Primat über die Politik gibt. Eingedenk der fatalen Erfahrungen der Vergangenheit, als der Wille der Mehrheit ein grobschlächtiges Unterdrückungsinstrument war und Unrecht und Verbrechen auslöste, waren die europäischen Staaten bereit, auf Teile ihrer Souveränität zugunsten starker supranationaler Institutionen zu verzichten.
Nach 1945 war es für den m europäischen Konstitutionalismus besonders wichtig, das Recht als Kraft herauszustellen, die den materiellen wie geistigen Wiederaufbau Europas gewährleistete. Das europäische Projekt nahm seinen Anfang darin, die Diktatur der Wahlurne abzulehnen. Seither muss jede demokratisch ermittelte Mehrheit die Grundregeln der verfassungsgemäßen Ordnung beachten; um diese zu ändern, reichte nicht länger das schlichte Argument: „Wir haben schließlich die Wahlen gewonnen.“. Die politische Macht sollte jedoch nicht nur von innen heraus eingehegt werden, sondern auch von außen, durch die europäischen Strukturen, damit Wahlen in den Nationalstaaten nie wieder autoritäre Regime und Massengräber namens der Nation hervorbrächten. Der in der symbolischen Verpflichtung zum „nie wieder“ verwurzelte europäische Konstitutionalismus setzt sich heute aus bestimmten Grundprinzipien zusammen: Die Verfassung muss als höchstverbindliches Recht akzeptiert werden, ohne Rücksicht darauf, wer im gegebenen Augenblick über die parlamentarische Mehrheit verfügt; Pflicht des Staates ist es, die jedem Regierungshandeln Grenzen auferlegenden verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten der Bürger zu achten; die nationale Regierung unterliegt einer Kontrolle von außen, die vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ausgeübt wird.
Ohne Gericht keine EU
Seit Anbeginn der Gemeinschaften ist die Grundfunktion des EuGH dieselbe geblieben. Er schärft den Staaten ihre Verpflichtungen ein, die sie am Tag ihres Beitritts in gutem Glauben eingegangen sind. Er gewährleistet, dass das Unionsrecht im Sinne eines Integrationsrechts einheitlich ist und nach denselben Bedingungen in der gesamten EU angewandt wird. Und den Bürgern der EU garantiert er, ihre Bürgerrechte mit Hilfe der unabhängigen nationalen Gerichte wirksam zu schützen.
In der Geschichte der europäischen Integration wurden der europäische Status und die Autorität des EuGH niemals infrage gestellt. So war es sechzig Jahre lang – bis zum Machtantritt der PiS in Polen. Diese Partei weist von vornherein Urteile des EuGH zurück, obwohl er seit 2004 integraler Bestandteil der polnischen Rechtsordnung ist. Bei seinem Beitritt zur EU hat Polen die Jurisdiktion des EuGH uneingeschränkt akzeptiert. Polnische Gerichte sind europäische Gerichte und wenden europäisches Recht als eigenes Recht an. Es ist die unbedingte Pflicht des nationalen Gesetzgebers, das Recht eines polnischen Gerichts zu respektieren, Anfragen an den EuGH zu richten, sofern Zweifel an Vorschriften des europäischen Rechts bestehen. Keine nationale Gesetzesvorschrift darf einem nationalen Gericht dieses Recht nehmen. Der über die Jahre andauernde Erfolg des europäischen Rechts geht großteils darauf zurück, dass den Gerichten als unabhängigen und unparteiischen Mittlern die Entscheidung in Konfliktfällen anvertraut ist, die die Staaten untereinander selbst nicht lösen könnten.
In der Europäischen Union achten alle Staaten das Recht in gleicher und bedingungsloser Weise – und nicht nur dann, wenn es ihnen ins Konzept passt und unter der Bedingung, dass auch die anderen es achten. Mit ihrem Beitritt zur EU schlossen die Staaten miteinander einen Vertrag, der sie verpflichtet, die Zuständigkeit des EuGH, seine Jurisdiktion und Verfahrensformen zu respektieren und jede von ihm gefällte Entscheidung umzusetzen. Damit diese Verpflichtung glaubhaft ist, darf sie nicht nur ex post factum eingehalten werden, also wenn das Urteil bereits gefallen ist, sondern muss bereits ex ante, wenn das Urteil noch aussteht, außer Frage stehen. Nur dann haben gemeinsamer Markt und politische Gemeinschaft Sinn. Im Gerichtssaal verfügt das mächtige Deutschland genauso über nur eine Stimme wie das kleine Luxemburg. Dort wird die Sprache von Grundsätzen und Regeln gesprochen, vor der die Tagespolitik zurückzuweichen hat.
Die PiS fürchtet sich vor all diesem, weil die Partei weiß, dass im Gerichtssaal kein Platz für Gewalt und juristischen Zynismus ist. Wer gewinnen will, muss kraft seiner Argumente überzeugen und nicht mit seinem großen Einmachglas. Dieses kann vielleicht die Emotionen der Wähler ansprechen, im Gerichtssaal würde es nur blanken Hohn auslösen. Denn schließlich sollte sich die Macht der Argumente und nicht das Argument der Macht durchsetzen.
Loyalität zur Rechtsgemeinschaft
Seit den Anfängen der europäischen Integration ist das Loyalitätsprinzip ein Eckpfeiler der EU. Der Staat wird nicht nur im Hinblick auf politische Glaubwürdigkeit und Kompromissbereitschaft innerhalb der Union gesehen, in der jeder auf etwas verzichtet, um etwas dafür zu erhalten. Der Staat wird auch hinsichtlich seiner „rechtlichen Glaubwürdigkeit“ bewertet, verstanden als Bereitschaft, seine eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen und sich an den sogenannten Europäischen Besitzstand (acquis communautaire) zu halten. Gemäß den historischen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs „fußt die Europäische Union auf dem Recht“ und auf freiwillig übernommenen Verpflichtungen, die vom Europäischen Gerichtshof gegenüber allen durchgesetzt werden. Die Staaten treffen Entscheidungen zur Integration in der Vorannahme, dass die anderen Staaten in ähnlicher Weise bereit sind, sich an vorab festgesetzte Regeln zu halten. Sollten diese verletzt werden, ist kein Raum für Selbsthilfe nach dem Prinzip, der Staat nimmt das Recht in die eigenen Hände – er ist verpflichtet, sich an die verbindlichen Verfahren zur Lösung von Streitigkeiten zu halten, wie sie in den Verträgen beschrieben sind.
Die Stellung des EuGH im Rechtssystem der Europäischen Union ist so erdacht, dass die Staaten nur sehr geringe Möglichkeiten besitzen, in seine Rechtsprechung einzugreifen. Wenn sich ein Staat nicht an seine Verpflichtungen hält, können die übrigen nicht einfach ihre Grenzen dichtmachen und seine Bürger und Waren nicht mehr einlassen. Vielmehr müssen sie eine Entscheidung auf dem Gerichtsweg suchen, das Urteil abwarten und sich bedingungslos daran halten, egal, wie es ausfällt.
Die Rechtsprechung des EuGH verdeutlicht unablässig, was es bedeutet, dass die Europäische Union auf dem Recht aufgebaut ist. Ist das Prinzip rechtsstaatlichen Regierens bedroht, steht der EuGH als Hüter der Verträge bereit, auf Grundlage von Artikel 19 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zu intervenieren. Dieser Artikel lautet: „Der Gerichtshof der Europäischen Union sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.“ Die Berufung auf das Recht ist zentral; denn es erlaubt dem EuGH, bei der Lösung von Streitfällen innerhalb der EU das Element der Gerechtigkeit einzubringen.
Die Philosophie des europäischen Rechts
Am 19. November 2019 beantwortete der EuGH die Anfrage des Obersten Gerichts zur eigenen Disziplinarkammer und zum Landesjustizrat im Kontext des EU-Rechts. Die Lektüre der Entscheidung zeigt, dass daran nicht das allein das wichtig ist, was alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, nämlich was der EuGH sagt, sondern genauso wichtig ist, wie er es sagt. Der EuGH hat erstmals seit längerer Zeit systematisch dargelegt, welches die Grundprinzipien des europäischen Rechts sind und welche Schlussfolgerungen sich daraus ergeben. Das Urteil frappiert durch seine Kategorialität: völlig unbehelligte Ausübung der judikativen Funktionen durch die nationalen Gerichte ohne Einordnung in eine Hierarchie, ohne Anweisungsbefugnis einer anderen Partei und Unterordnung unter diese, Freiheit von jeder Einflussnahme von außen, welche die unabhängige Urteilsfindung gefährden könnte.
Die Entscheidung macht verständlich, dass es dem EuGH nicht allein um unabhängige Gerichte in Polen geht, sondern auch um sich selbst, um den Fortbestand der EU und das Grundprinzip der Gemeinschaft und ein Charakteristikum der europäischen Nachkriegsordnung: Dass nämlich sich die Politik stets dem Recht und nicht das Recht der Politik anzupassen habe. Wobei wichtig ist, wie hier Recht verstanden wird: nicht als trockene Norm, vielmehr als großgeschriebenes Recht, das Recht einer ungeschriebenen Idealvorstellung von Recht. Dieses Urteil ist tatsächlich ein Manifest der europäischen Rechtsphilosophie. In Zeiten der Krise und Abkehr von Europa ist diese Philosophie durch vier Gesichtspunkte definiert.
Der erste ist die Rechtsgemeinschaft. Keine Institution und kein Mitgliedstaat kann sich mit ihrer oder seiner Politik unabhängiger gerichtlicher Kontrolle entziehen. In der Rechtsgemeinschaft passt sich die Politik dem Recht an, nicht umgekehrt. Die größte Stärke der Rechtsgemeinschaft besteht darin, dass sie das Recht der Politik entwunden und es den Bürgern in die Hand gegeben hat, die ihr Recht vor ihren jeweiligen nationalen Gerichten einklagen können.
Der zweite Bestandteil ist das Wesen (die Essenz) des Rechts. Die richterliche Unabhängigkeit ist der gerichtlichen Streitschlichtung inhärent, was bedeutet, dass es ohne Unabhängigkeit kein Gericht gibt. Gegenüber früheren Fällen hat der EuGH jedoch einen weiteren Kernpunkt ergänzt, nämlich, dass die Unabhängigkeit nicht nur das Wesen des Grundrechts auf ein faires Verfahren bildet, sondern auch des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Schutz. Die Mitgliedstaaten sind dazu verpflichtet, die Unabhängigkeit ihrer nationalen Gerichte zu sichern, damit diese den Anforderungen effizienter Kontrolle durch die Judikative entsprechen.
Der dritte Bestandteil geht auf das Wesen des Justizsystems selbst zurück. Es gibt keinen wirksamen Rechtsschutz, wenn ein Gericht nicht unabhängig ist. Bemerkenswerterweise hat der EuGH Artikel 19 EUV als Schlussstein des gesamten europäischen Rechtssystems und Konkretisierung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit herausgestellt. Diese Vorschrift beschreibt die Verpflichtung der EU-Gerichte sicherzustellen, dass bei Auslegung und Anwendung des Vertrags das Recht gewahrt wird; diese Aufgabe obliegt nicht nur dem Europäischen Gerichtshof, sondern auch den nationalen Gerichten. Diese üben gemeinsam mit dem EuGH im Rahmen der europäischen Rechtsordnung die gerichtliche Kontrolle aus.
Der vierte Bestandteil ist das Fundament in Gestalt des EU-Mandats des nationalen Gerichts (Artikel 19 EUV) und des Prinzips des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts. Für den EuGH sind dies die höchsten Werte. Das Urteil schärft nachdrücklich ein, dass jedes Staatsorgan verpflichtet ist, die volle Effektivität des europäischen Rechts sicherzustellen, während das nationale Recht diesen effet utile nicht beeinträchtigen darf. Jedes nationale Gericht ist zur Rechtsauslegung zugunsten der EU verpflichtet, die unverbrüchlich mit dem europäischen Rechtssystem verbunden ist. Diese Auslegung soll die höchstmögliche Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem europäischen Recht gewährleisten. Sollte dies nicht möglich sein, ist das Gericht verpflichtet, die volle Effektivität des EU-Rechts dadurch sicherzustellen, dass es die mit dem EU-Recht nicht zu vereinbarenden nationalen Rechtsvorschriften nicht anwendet, ohne auf die Beseitigung der Vorschrift nach nationalem Recht zu warten.
Polexit und „das Leben dazwischen“
Che fece… il gran rifiuto
Zu manchen Menschen kommt heran ein Tag,
Wo sie das große Ja oder das große Nein
Aussprechen müssen. Augenblicks wird sichtbar sein,
Wer in sich birgt das Ja – er sagt’s und mag
In Ehre so und Selbstvertrauen weiterstreben.
Wer abgelehnt, empfindet keine Reue.
Fragten sie wieder, sagt’ er Nein aufs Neue.
Und doch lahmt jenes – richtige – Nein sein ganzes Leben.
Konstantínos Kaváfis (1863–1933)
(übersetzt von Helmut von den Steinen)
Die Ereignisse der letzten gut zwölf Monate und die bereits angekündigten weiteren Vergeltungsmaßnahmen gegen den EuGH und die fortgesetzte Eskalation des offenen Konflikts durch den polnischen Justizminister rechtfertigen die im Titel gestellte dramatische Frage: Quo vadis, Polonia? Wie steht es mit deinem Einverständnis, die freiwillig eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten und Urteile und Verfahrensweisen zu achten?
Bereits die Fortsetzung der Abholzung im Białowieża-Nationalpark entgegen der Vorabentscheidung des EuGH, alle Arbeiten dort auszusetzen bis zur Entscheidung über die Klage der EU-Kommission gegen Polen, war ein Schritt auf den Polexit zu. Die bedenkenlose Säuberung des Obersten Gerichts, schließlich die Aushebelung der Vorabentscheidung, die Einschüchterung der Richter durch Disziplinarverfahren, das alles ist leider bereits der Polexit.
Richtig verstanden bedeutet der Polexit allerdings sehr viel mehr als die Nichtanerkennung des europäischen Rechts und die Angriffe auf die Gerichte. Die Zerstörung des unabhängigen Justizwesens drängt Polen nicht allein letztlich aus der EU, sondern macht aus dem polnischen Bürger wieder einen Untertanen des Staates und einen europäischen Bürger zweiter Klasse: des Schutzes beraubt, den Recht, Gericht und Vorabentscheidungsverfahren gewähren. Der PiS-Staat will fügsame Bürger, die vom Wohlwollen des Staates überzeugt sind. Der „gute Wechsel“ fragt die betroffenen Bürger gar nicht erst, sondern nimmt a priori an, was gut für den Staat sei, müsse auch gut für jeden von uns sein.
Dagegen beruht die wahre, nicht politisch instrumentalisierte Idee und Geist des europäischen Rechts darauf, die Bürger rechtlich mit eigenständigen Rechten auszustatten und den Anspruch des Staates abzulehnen, für sie zu entscheiden, wo und wie sie leben sollen. Die Europäischen Union und ihr Recht emanzipieren den Bürger dank der Rechtsprechung des EuGH und des Vorabentscheidungsverfahrens, und machen ihn so zum wirklichen Nutznießer der Integration. Mittels des europäischen Rechts lebt der Bürger zwischen den Systemen, das heißt er gehört nicht mehr ausschließlich dem Staat an, in dem er lebt. Er trifft seine eigenen Entscheidungen, wo er arbeiten, seine Auto kaufen will und so weiter. Er entscheidet selbst, welche Lebensweise im Rahmen der Union für ihn die beste ist. Das europäische Recht hat gerade deshalb sechzig Jahre überdauert, weil es in individuellen Fällen von den nationalen Gerichten angewandt wird. Der in Polen so schwer verständliche Geist der Integration beruht also auf der unbedingten Einhaltung von Urteilen und letztlich darauf, den Bürger vom Korsett des allmächtigen Staates zu befreien, in dessen Enge der Bürger zuvor gelebt hat. Der Geist des europäischen Rechts bedeutet einen wirksamen Schutz der Bürger vor dem Staat, eröffnet ihnen neue Wirkungssphären und bietet ihnen zuvor unbekannte Wahlmöglichkeiten.
Dagegen will der PiS-Staat den Bürger um jeden Preis in den altgewohnten staatlichen Rahmen pressen. Während Nachkriegseuropa eine Verfassungskultur der Zurückhaltung und Selbstbeschränkung pflegt, will der PiS-Staat unbegrenzt in Leben und Rechte seiner Bürger eingreifen. Für die PiS ist ein guter Bürger ein fügsamer Bürger, überzeugt, dass staatliche Entscheidungen für ihn stets gut seien, sodass er sie gehorsam hinnimmt. Dies ist eine Rückkehr zu den Zeiten, in denen Herr Kowalski sich im vom Staate abstrahlenden Licht wärmte. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass die PiS das europäische Recht und den als Hüter des emanzipierten Bürgers auftretenden EuGH als Todfeinde sieht.
Vor unseren Augen läuft ein politisches Schauspiel ab, bei dem jeder seine Rolle auf dem von der PiS gewählten Spielbrett nach dem Motto „Wie man Recht und Institutionen manipuliert“ und „Wie man Recht und Institutionen zerstört, wenn sie sich zur Wehr setzen“ spielt. Dies geschieht unter kriegerischen Parolen staatlicher Souveränität, und die Akteure sind Regierungsmitglieder, die sich gegenseitig an Ignoranz, Streitsucht und tränenreicher Selbstinszenierung als Opfer übertreffen, in der Hoffnung ihre Wählerschaft werde das schon zu schätzen wissen. Dies ist ein Schauspiel, in dem sich das Pseudo-Verfassungsgericht zur Vereinbarkeit des Vorabentscheidungsverfahrens mit der polnischen Verfassung äußert und das Parlament alle naselang per Gesetzgebung Versuche unternimmt, die letzten Bastionen der unabhängigen Justiz unter Kontrolle zu bringen, und Anfragen polnischer Gerichte an den EuGH ihres Sinns beraubt. Dieses Schauspiel wandelt sich von der Tragikomödie zum Drama des Rechtsstaats und der europäischen liberalen Demokratie, wenn der stellvertretende Justizminister sich nicht unterwerfende Richter mit Internetkampagnen überzieht und Gerichten für die Anwendung europäischen Rechts Disziplinarverfahren drohen …
Ich wiederhole: Der Polexit befindet sich bereits im Vollzug.
Wenn Recht und Institutionen zu Dienstmägden der Politik werden und diese nicht länger zivilisieren und einhegen, wird ein Fundament der europäischen Nachkriegsordnung zerstört: Die Überzeugung, politische Macht müsse von unabhängigen Institutionen eingehegt und kontrolliert werden, vor allem von Gerichten. Damit ist klar, um welchen Einsatz hier gespielt wird. Nämlich um unseren Verbleib in der europäischen Rechtsgemeinschaft, deren Regeln und Grundsätze wir 2004 aus freiem Willen akzeptiert haben und von denen ganze Generationen von Polen nach 1945 geträumt hatten. Die Alternative ist der endgültige Polexit.
Rule of law, Recht, Autorität der Gerichte, Geltung der Urteile, Rechtsgemeinschaft, gerichtlicher Dialog, Integration – das sind die Schlüsselwörter, die das europäische Recht umreißen. Die europäische Rechtsgemeinschaft ist die Zielvorstellung, die Europa nach 1945 vom Rest der Welt unterscheiden sollte. Die Kategorien dieser Gemeinschaft und die Verteidigung des europäischen Rechts und der zivilisatorischen Wahl, welche die Polen 2004 trafen, sind die polnische Staatsräson in diesen schlechten Zeiten im illiberalen Polen des Jahres des Herrn 2020.
Ich lese also nochmals Kaváfis’ ergreifendes Gedicht „Che fece… Il gran Rifiutto“ von der Macht des Widerstands und dem Mut, in Zeiten der Probe die Stimme zu erheben. Ich weiß jetzt, in wessen Namen ich mein eigenes Ja als Bürger hinausschreien muss: Zur Verteidigung der Integration, des europäischen Rechts und des Gerichts – und damit zugunsten eines friedlichen Europas und seines Strebens zur engstmöglichen Verbindung seiner Nationen.
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Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht als „POLEXIT. Quo Vadis Polonia?“ in DIALOG Deutsch – Polnisches Magazin Nr 131(1)/2020; die Ausgabe stand unter dem Thema „Rechtsstaatlichkeit. Das Ende der liberalen Demokratie in Polen?“
Die hiesige Textfassung ist eine abgeänderte Version der Übersetzung aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann.
Der Autor dankt Basil Kerski, Director of the European Solidarity Center in Gdańsk und Chefredakteur von „Dialog“ für die Erlaubnis, den Beitrag auf dem Verfassungsblog zweitveröffentlichen zu dürfen.
[…] we write these words, the constitutional destruction of the state, law and customs has already happened. Today, we live in a time of trial and disturbing and unanswered questions. The last five years have […]
[…] we write these words, the constitutional destruction of the state, law and customs has already happened. Today, we live in a time of trial and disturbing and unanswered questions. The last five years have […]