Corona-Gästelisten – maßlose polizeiliche Datennutzung
Wer heutzutage Veranstaltungen, Restaurants, Hotels, Spielhallen, Gottesdienste, Bestattungen, Prostitutionsstätten, Kinos, Sporteinrichtungen oder Kosmetikstudios besucht, muss dies in den meisten Bundesländern dokumentieren, nur in Sachsen ist dies freiwillig. Auch für Familienfeiern ab 20 Personen ist die Anwesenheitsdokumentation etwa in Berlin vorgeschrieben, § 3 Abs. 1 S. 2 Corona-Verordnung Berlin auf dem Stand vom 4. August 2020. Mit Unterschieden im Detail schreiben die Corona-Verordnungen der Bundesländer derzeit vor, dass Anwesende ihre Kontaktdaten in eine Liste eintragen müssen, damit die Gesundheitsämter Infektionsketten nachvollziehen können, falls andere Gäste später positiv auf das Virus getestet werden. Die Dokumentation hängt auch davon ab, wie die Lokalitäten ihre Pflichten aus der jeweiligen Corona-Verordnung interpretieren. Die Varianten reichen von einzelnen Zetteln über Absprachen mit bekannten Gästen („ihr wisst doch, wer alles da war, oder?“) bis zu Listen, die für alle einsehbar und damit datenschutzwidrig offen ausliegen. Auch die erhobenen Daten variieren. Gefordert werden Angaben wie Name, Adresse, Mobiltelefonnummer, Emailadresse, Ankunftszeitpunkt oder Zeitraum der Anwesenheit. Auf diese Daten haben Ermittler*innen der Kriminalpolizei offenbar mehrfach zugegriffen (z.B. hier, hier und hier). Die Hamburger Polizei bezeichnete das Vorgehen als Ausdruck eines „gesunden Menschenverstands“. Aus der Politik gibt es geteiltes Echo; einige Politiker*innen halten das Verhalten für unzulässig, andere für richtig und unterstützen die Polizei darin (hier und hier).Â
Erheblicher Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Jede Einsicht der Polizei in die Gästelisten stellt als Erhebung personenbezogener Daten einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. Datenschutzgrundrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 8 EU-GRCh) dar. Bei einer Sicherstellung oder Beschlagnahme wird dieser Eingriff noch vertieft, weil diese Daten nunmehr bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft für dortige Zwecke genutzt werden. Hiervon ist potentiell eine Vielzahl von Menschen betroffen, zuvörderst die Person, gegen die strafrechtlich ermittelt wird oder die als Zeug*in in Betracht kommt. Hinzu kommen Personen, die zufällig auf derselben Gästeliste stehen.Â
Ob eine Beschlagnahme solcher Daten rechtlich zulässig ist, wird unterschiedlich beurteilt. Die Bundesregierung und andere sind der Ansicht, hierfür reichten die strafprozessualen Beschlagnahmevorschriften aus. Der Hamburgische Datenschutzbeauftragte empfahl eine zurückhaltende Nutzung. Der bayerische Datenschutzbeauftragte meint, eine bundesweite Regelung für die Strafverfolgungsbehörden sei erforderlich; ähnlich auch der hessische Datenschutzbeauftragte. Sikora und Kugelmann halten die Beschlagnahme nicht für grundsätzlich ausgeschlossen, fordern aber eine Abwägung im Einzelfall.Â
Staatlicher Schutzauftrag
Im Kontext der Pandemie kommt der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Schutz von körperlicher Unversehrtheit und Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Form des Infektionsschutzes ein besonderes Gewicht zu (Fährmann; Hong). Dies umfasst auch die Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit des Gesundheitssystems (Carsten Bäcker; Lepsius). Diese Schutzpflicht ist aber in ein angemessenes Verhältnis zu den Freiheitsrechten und anderen staatlichen Aufgaben zu setzen, wobei zu beachten ist, dass die Risiken durch eine Ausbreitung der Pandemie schwer wiegen (BVerfG). Insofern muss in der Pandemie der Schutzauftrag bei der Gesetzgebung, der Gesetzesauslegung und beim behördlichen Handeln besondere Berücksichtigung finden (Kugelmann). Behördliche Maßnahmen dürfen die Ausbreitung der Pandemie nicht begünstigen oder Maßnahmen behindern, die eine Ausbreitung der Pandemie verhindern sollen. Eine Interessenabwägung kann ergeben, dass entsprechendes staatlichen Handeln zu unterlassen ist.
Die Gästelisten dienen dazu, eine Nachverfolgung von Infektionsketten zu ermöglichen. Wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass im Falle eines sogenannten Superspreader-Events die beteiligten Menschen schnell isoliert werden müssen, um die Infektionsketten zu unterbrechen. Dies wird wesentlich erleichtert, wenn die Menschen den staatlichen Schutzmaßnahmen vertrauen und ihre korrekten Daten für die Kontaktnachverfolgung hinterlassen. Bei unzutreffenden Angaben werden auch dringend benötigte Ressourcen der Gesundheitsämter verschwendet, wenn sie erfolglos falschen Informationen nachgehen.
Wenn die Menschen damit rechnen müssen, dass ihre Daten zu Ermittlungszwecken verwendet werden, könnten sie davon abgehalten werden, korrekte Daten anzugeben, nicht nur, wenn sie eine Strafverfolgung befürchten. Nicht wenige Menschen fühlen sich generell von staatlicher Ãœberwachung verunsichert, zumal wenn nicht klar ersichtlich ist, wofür die Daten von der Polizei verwendet werden könnten. Neben strafprozessualen Maßnahmen ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Polizei die Daten auch zu Zwecken der Gefahrenabwehr sicherstellt oder beschlagnahmt. Im Ergebnis ist aktuell für die/den Einzelne*n nicht absehbar, welche Konsequenzen ein Eintrag in eine Gästeliste haben kann, weil es diesbezüglich weder ein geregeltes Verfahren noch klare rechtliche Grundlagen jenseits der sehr allgemein gehaltenen Erhebungsbefugnisse gibt.Â
Wenn eine Nachverfolgung nicht gewährleistet ist, kann dies zu einem Wiederanstieg der Infiziertenzahlen beitragen. Neben den Risiken für das Leben und die Gesundheit von vielen Menschen besteht auch die Gefahr, dass von staatlicher Seite wieder ein Lockdown verhängt wird, was zu massiven Grundrechtseingriffen und zur Außerkraftsetzung von Verfassungsprinzipien führen kann (z.B. Kingreen; Fährmann/Aden/Arzt).Â
Diese gravierenden Folgen sind bei Datenerhebungen zu berücksichtigen. Dies bedeutet zwar nicht, dass Daten der Gästeliste von Verfassung wegen niemals anderweitig verwendet werden dürften. Vor dem Hintergrund der Risiken, die durch einen Verlust des Vertrauens in die Anti-Corona-Maßnahmen für die gesamte Bevölkerung entstehen, gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber, dass eine Sicherstellung oder Beschlagnahme allenfalls denkbar ist, wenn konkrete Hinweise vorliegen, dass die Daten für die Aufklärung schwerer Straftaten oder die Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit erforderlich sind (ähnlich Sikora). Hierzu bedarf es allerdings hinreichend bestimmter Rechtsgrundlagen.
Verstoß gegen den Grundsatz der Zweckbindung
Die Sammlung der Gästedaten ist gleichsam eine neue Form der Vorratsdatenspeicherung, da die Daten unabhängig von einer konkreten Gefahr erhoben werden. Anders als bei der Speicherung von Telekommunikationsmetadaten auf Vorrat, werden die Daten hier nicht durch einen rechtlich verpflichteten Dritten speziell zum Zwecke der Ermöglichung der Strafverfolgung verarbeitet. Die Erhebung der Gästedaten bei Wirt*innen oder Veranstalter*innen ist eher der Erhebung von Straßenmautdaten zu Abrechnungszwecken durch den privatwirtschaftlich organisierten Mautbetreiber vergleichbar, die polizeilich beschlagnahmt wurden, bis dies vom Gesetzgeber untersagt wurde (§ 4 Abs. 3 S. 2 und 3 BFStrMG).
Ob eine Erhebung und Speicherung höchstpersönlicher Gästedaten in einer Rechtsverordnung geregelt werden kann, erscheint zweifelhaft (Härting, Petri). Wenn Daten intensivere Rückschlüsse auf ein Verhalten zulassen, bedarf es dafür einer eindeutigen Ermächtigungsgrundlage im Parlamentsgesetz (also hier im Infektionsschutzgesetz, IfSG), die Inhalt und Umfang der Datenerhebung genau beschreibt. Einzelheiten können dann in einer Rechtsverordnung ausdifferenziert werden. Alles andere wäre ein Verstoß gegen Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG (vgl. Fährmann/Arzt/Aden; Kießling; Klafki).Â
Die Verwendung der Daten zu anderen Zwecken (Zweckänderung) muss gesetzlich eindeutig geregelt werden. Das unmittelbar aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung folgende Gebot der Zweckbindung steht einer Rechtmäßigkeit der Sicherstellung oder Beschlagnahme ohne klare Rechtsgrundlage entgegen. Nach allen Corona-Verordnungen ist indes nur die Weitergabe der Daten an die Gesundheitsbehörden geregelt. Einige Verordnungen verbieten explizit die Verarbeitung zu weiteren Zwecken, etwa in Rheinland-Pfalz, § 1 Abs. 8 S. 4, Hamburg, § 7 Abs. 1 Nr. 5, dem Saarland, § 3 Abs. 3 oder Baden-Württemberg, § 6. Auch die Vorschriften in Hessen oder Bremen können so interpretiert werden, dass Daten nur zur Infektionsnachverfolgung verwendet werden dürfen. In diesen Ländern steht die Sicherstellung oder Beschlagnahme also bereits im Widerspruch zu den Rechtsverordnungen. In einigen Verordnungen bleiben weitere Zwecke unklar, etwa in Brandenburg, § 3, oder Nordrhein-Westfalen, § 2a. Es ist aber offensichtlich, dass eine Verwendung zur Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr jenseits des Infektionsschutzes nicht geregelt wurde und auch nicht aus dem IfSG folgt.Â
Eine hinreichend präzise gesetzliche Vorschrift zur Zweckänderung fehlt damit. Bei jeder Zweckänderung personenbezogener Daten handelt es sich jenseits der Erhebung um einen weiteren Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Daher bedarf es hierfür einer gesetzlichen Grundlage (siehe nur BVerfG) mit konkreter Beschreibung der neuen Zwecke. Will der Gesetzgeber eine Zweckänderung gestatten, hat er sicherzustellen, dass dem Eingriffsgewicht hinsichtlich der neuen Nutzung Rechnung getragen wird (BVerfG, Rn. 284). Dies gilt für die Gästelisten auch und insbesondere dann, wenn diese vorsorglich gesammelten Daten zu Strafverfolgungszwecken verwenden werden sollen. BVerfG und EuGH haben wiederholt betont, dass die Nutzung von auf Vorrat gesammelten Daten einen beträchtlichen Grundrechtseingriff darstellt, da sich die Menschen diesem kaum entziehen können. Daher ist eine vorsorgliche, anlasslose Datenspeicherung allenfalls ausnahmsweise zulässig. Sie unterliegt hinsichtlich ihrer Begründung und ihrer Ausgestaltung, auch in Bezug auf die vorgesehenen Verwendungszwecke der erhobenen Daten, besonders strengen Anforderungen (BVerfG, Rn. 206). Der Zugang zu diesen Daten muss vom Gesetzgeber auf das absolut Notwendige beschränkt werden, für die Strafverfolgung „ausschließlich auf die Zwecke einer Bekämpfung schwerer Straftaten“ (EuGH, Rn. 125).Â
Zudem fehlen Datenschutzkonzepte für die Gästelisten-Daten, obwohl es teilweise um hochsensible Daten geht, etwa im Saarland, wo auch der Besuch einer Prostitutionsstätte dokumentiert werden muss, § 3 Abs. 1 Nr. 8. Durch den Umfang der Daten könnten weite Teile des Tagesablaufs einer Vielzahl von Menschen nachvollzogen werden. Solche Daten dürften die Polizei oder andere staatliche Stellen unter normalen Umständen niemals erheben oder auswerten. Es bedarf daher einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage, die eine Verwendung zu Zwecken der Strafverfolgung gestattet, alles andere würde gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen. Die sehr allgemein gehalten Vorschriften z.B. der StPO oder der DSGVO reichen hierfür nicht aus (anders z.B. Sikora).
Die strafprozessuale Regelung zur Sicherstellung in § 94 StPO enthält hingegen weder Vorgaben zur Zweckänderung im Rahmen der Beschlagnahme personenbezogener Daten noch wird klargestellt, unter welchen Umständen und mit welchen Verfahrensvorkehrungen die Daten beschlagnahmt werden dürfen. Der Richtervorbehalt in § 98 StPO greift nur, wenn Wirt*innen oder Veranstalter*innen die Daten nicht freiwillig herausgeben.Â
Ãœberholte Vorschriften der Strafprozessordnung
Seit Jahren wird immer deutlicher, dass die Regelungen der StPO zur Sicherstellung und Beschlagnahme dringend einer Überarbeitung bedürfen, da diese nicht auf Massendaten ausgerichtet sind, sondern vielmehr auf körperliche Gegenstände. Dies zeigt sich bei den Debatten um die Beschlagnahme von digitalen Daten wie etwa Emaildaten oder Mautdaten. Aktuell wird die Rechtsordnung vielfach so interpretiert, auch bezüglich der Gästelisten, dass zumindest die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich zunächst auf annähernd alle Daten Zugriff nehmen könnten. Eine Ausnahme bilden die wenigen Normen zum Schutz des Kernbereichs der Persönlichkeit und Beschlagnahmeverbote, die aus dem Zeugnisverweigerungsrecht folgen, § 97 StPO. Die Beschlagnahmeregelung aus den §§ 94 ff. ist sehr weit gefasst, da sie nur an einen Tatverdacht anknüpft. Grundsätze wie der Schutz besonders sensibler Daten oder der Datenminimierung finden im Kontext der Beschlagnahme faktisch keine Anwendung, obwohl diese durch EU-Recht vorgeschrieben sind, für die Strafverfolgung durch die JI-Richtlinie. Ermittlungsbeamt*innen gehen häufig mit der „Staubsaugermethode“ vor, was zunächst zur Beschlagnahme aller vorhandenen Daten führt (Basar/Hiéramente, NStZ 2018, 681). Die oft unvermeidbaren Datenspuren Einzelner, die Aufschluss über sehr privates Verhalten ermöglichen (Masing NJW 2012, 2305, 2309), haben zur Konsequenz, dass ein solches Vorgehen heute nicht mehr zulässig ist.
Private Stellen sammeln zu geschäftlichen Zwecken oder wie bei den Gästelisten aufgrund staatlicher Vorgaben personenbezogene Daten in einem nie da gewesenen Umfang (Aden/Fährmann, S. 35). Durch die viel zu unpräzisen StPO-Vorschriften erhält die Polizei umfassenden Zugriff auf diese Datenbestände. Der Übergang dieser Daten in das Strafverfahren ist nicht geregelt und wird daher auf die Ermittlungsgeneralklausel gestützt (vgl. VerfGH Rheinland-Pfalz, Rn. 47 f.). Vor dem Hintergrund der möglichen Sensibilität und der schieren Datenmengen ist dieser Zustand nicht mehr haltbar. Insbesondere bedarf es klarer Regeln, wann Daten von Privatpersonen beschlagnahmt werden dürfen, damit die Beschlagnahmevorschriften nicht zu einer Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür führen, auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zu den Grenzen der Vorratsdatenspeicherung (EuGH; dazu z. B. Max Schulze; Kühling)
Fazit
Die Gesetzeslage lässt aktuell keine Verwendung der Corona-Gästelisten zur Strafverfolgung zu. Dazu bedürfte es einer bereichsspezifischen Norm, die datenschutzrechtliche Grundsätze beachtet. Die Nachverfolgung von Infektionen sollte bereits im IfSG genauer geregelt werden. Die Verwendung hierfür erhobener Daten sollte grundsätzlich auf den Zweck der Infektionsrückverfolgung beschränkt werden. Dort könnte eine eng begrenzte gesetzliche Ausnahme vorgesehen werden, die aber hinreichend bestimmt und abgrenzungsscharf eine eindeutige Regelung enthält, unter welchen engen Voraussetzungen eine Zweckänderung zugunsten der Strafverfolgung im Einzelfall zulässig ist. Dabei sollten Schutzgüter benannt oder ein Bezug auf die Mindeststrafe der in Betracht kommenden Straftaten genommen werden; eine Beschränkung auf Verbrechen erscheint im Sinne der Verhältnismäßigkeit angemessen. Nach der Doppeltür-Rechtsprechung des BVerfG würde eine solche Regelung Wirt*innen und Veranstalter*innen Rechtssicherheit verschaffen, wenn die Polizei die Herausgabe von Daten verlangt. Zugleich sind die StPO-Regelungen dem heutigen Stand des Grundrechtsschutzes anzupassen. Anderenfalls könnte der Staat Privatpersonen dazu ermächtigen, personenbezogene Daten zu erheben und zu speichern und diese dann einfach beschlagnahmen, sogar solche, die staatliche Stellen gar nicht erheben dürften.
Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie zwingend der Zugriff auf die Corona-Listen für strafrechtliche Ermittlungen ist. Während einer Pandemie muss der Gesundheitsschutz der Bevölkerung auch im Verhältnis zur Strafverfolgung einen hohen Stellenwert genießen. Wenn die Möglichkeit eines jederzeitigen polizeilichen Zugriffs auf diese Listen – mit einer Vielzahl von Daten Unverdächtiger – viele Menschen dazu motiviert, dort falsche Angaben zu machen, sollte im Interesse des Gesundheitsschutzes auf den Zugriff verzichtet werden. Und schließlich zeigt das Beispiel der Corona-Listen einmal mehr, dass die Vorschriften zur Sicherstellung und Beschlagnahme ebenso wie andere StPO-Vorschriften dringend an das im Informationszeitalter erforderliche Schutzniveau für die Grundrechte anzupassen sind.
Der Beitrag baut auf einer richtigen Forderung auf. Die entsprechenden Datenbestände dürfen nur zur Eindämmung der Krankheit verwendet werden. Diese Forderung lässt sich verfassungsrechtlich anreichern, wenn darauf abgestellt wird, dass die Richtigkeit der gemachten Angabe so wichtig für den Gesundheitsschutz ist, dass dem keinerlei “Abschreckung” im Weg stehen darf. Ob das zwingend ist, soll hier dahinstehen. Denn die Forderung ist – und das gilt ohne Einschränkung auf bestimmte Straftaten o.Ä. – jedenfalls politisch richtig.
Der Beitrag ist aber im rechtlichen Bereich an vielerlei Stellen fehlerhaft und teilweise in sich selbst unschlüssig.
Zweifel an der Konsequenz weckt etwa, dass Sie höchstens eine Verwendung bei “schweren Straftaten” zulassen wollen. Damit dürfte auf den Katalog in § 100a II StPO abgestellt sein. Ein Blick in die Beispielsfälle aus dem ersten Abschnitt zeigt, dass in jedem der dort genannten Fälle der Verdacht eine Katalogtat (bzw. eines Verbrechens) vorlag (“Raubüberfall” = § 100a II Nr. 1 k); “versuchter Totschlag” = § 100a II Nr. 1 h); “gravierende Eigentumsdelikte bis hin zu Tötungsdelikte”, “Rauschgiftermittlungsverfahren” = § 100a II Nr. 1 h), j)-l), Nr. 7 b); “Bedrohung mit Teppichmesser” = § 100a II Nr. 1 h)). Würde es nun das Vertrauen der Bevölkerung stärken, wenn diese Fälle nicht über die Ermittlungsgeneralklausel, sondern über eine Spezialnorm geregelt wäre? Eher nicht. Denn die Abschreckung geht ja nicht von der genauen Höhe der Wahrscheinlichkeit aus, dass ein ganz bestimmter Lokalbesuch von der Polizei in Erfahrung gebracht wird, sondern davon, dass das realistisch möglich ist. Wäre die Einsicht nur beim Verdacht des Hochverrats gegen den Bund möglich, mag man eine reale Abschreckung noch verneinen. Bei alltäglicheren Delikten wird es dem bloßen Zeugen aber letztlich egal sein, ob die Liste wegen Verdacht des Raubes oder der Beleidigung eingesehen wird.
Es wirkt auf mich, als würden Sie hier ein zu stark vom Gefahrenabwehrrecht geprägtes Verständnis haben. Der Gefahrbegriff ist im Grundsatz nie auf Erforschung angelegt. Die Bedeutung der Maßnahme erschöpft sich daher meist in sich selbst. Im Strafverfahren geht es hingegen immer um Unbekanntes. Die Maßnahme zielt auf die spätere Beweisverwertung. Jede Katalogisierung kann daher für die Beweiserhebung nur an Verdacht anknüpfen. Die Einführung von Deliktskatalogen hat daher in der Praxis eher einen ausdehnenden Effekt: Der Anfangsverdacht etwa für Raub oder versuchten Totschlag ist schnell und ohne Willkür gefunden – selbst wenn’s hinterher doch nur eine Nötigung oder die versuchte Körperverletzung war. Wenn dann die Maßnahme irgendeinen Erfolg verspricht, wirkt der Katalog eher wie die Freigabe zur Durchführung. Das ist bitte nicht als Aufforderung zur Formlosigkeit zu verstehen – nur als Denkanstoß, dass ein Gewinn an Form gelegentlich mit größeren Verlusten in der Sache einhergeht.
Unzutreffend sind die Ausführungen zur Zweckänderung. Das Doppeltürmodell ist darauf ausgerichtet, dass Daten durch staatliche Stellen erhoben wurden. Soweit Sie darauf abstellen, dass jede Einsichtnahme einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung darstellt, ist das zwar richtig, aber weitgehend ohne Aussagekraft. Denn jede Ermittlungsmaßnahme greift darin ein. Wird einem Zeugen eine Frage zum Beschuldigten gestellt, wird zumindest in die Rechte beider eingegriffen. Dafür werden die Vorschriften der StPO als ausreichende Ermächtigungsgrundlage angesehen. Es hat gute Gründe, warum sich die Rechtswidrigkeit von Beweiserhebungsakten im Wesentlichen aus Aufzählungen im Gesetz ergibt und die Rechtswidrigkeit nicht die Nichtigkeit bewirkt. Soll von diesem Konzept abgewichen werden und es für alles eine Spezialgrundlage geben, hat das unter Umständen die Konsequenz, dass ein Unschuldiger verurteilt wird, weil für “sein” Beweismittel noch keine Ermächtigungsgrundlage besteht. Der Gesetzgeber hat etwa in § 53 StPO eine generalisierte Entscheidung getroffen, wann das Recht auf informationelle Selbstbestimmung überwiegt. Die Regelungen der StPO sind gerade nicht allgemein gehalten – sie sind nur sehr weitreichend, dabei aber die wohl präzisesten Regelungen, die es in diesem Bereich gibt.
Das Doppeltürmodell wurde dafür entworfen, die Umgehung strafprozessualer Vorschriften über das Gefahrenabwehrrecht zu verhindern. Das liegt wegen der Doppelrolle der Polizei nah. Nun mag man annehmen, dass diese Umgehung auch anderweitig droht. Dabei gibt es aber einen deutlichen Unterschied: Die Einführung einer strafprozessualen “Protokollierungspflicht für Anwesende in Lokalen” wäre generell verfassungswidrig. Das Doppeltürmodell kann daher schon deshalb keine entsprechende Anwendung finden, weil es keine Tür im Strafverfahren geben kann. Daraus folgt aber kein generelles Verbot zum strafprozessualen Zugriff. Der Nachbar, der ohne Anlass aufschreibt, wann wer aus der Nachbarschaft wegfährt, macht etwas, was der Polizei generell verboten wäre. Zeuge kann er deshalb trotzdem sein.
Sie legen dem vlt. stillschweigend die Auffassung zu Grunde, dass das Doppeltürmodell auch dann Anwendung finden muss, wenn die Datensammlung bloß staatlich veranlasst ist. Dann fehlt aber ebenso die Erläuterung, warum die Tür in § 161 I StPO unzureichend sein soll. Es gibt heute kaum Strafverfahren, in denen nicht auf Daten zugegriffen wird, für die irgendeine gesetzliche Sammelpflicht besteht (Kontodaten, Abrechnungsunterlagen, selbst der Kilometerstand eines Fahrzeuges). Wenn das, was Sie schreiben, zutrifft, müsste es nicht nur für Sicherstellung und Beschlagnahme, sondern auch für den Zeugen gelten. Es kann ja kaum einen Unterschied machen, ob sich der Wirt die Gäste aufgeschrieben hat, ob er sie sich merkt oder ob er der Polizei berichtet, was in seinen Aufzeichnungen steht.
Auch wenn Sie das über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz korrigieren wollen, wird das kaum funktionieren. Denn in den lässt sich auf der einen Seite nur eine Variable einsetzen, weil der Wert des Beweismittels zwangsläufig unbekannt ist. Der Zeuge, den Sie über die Coronaliste bekommen, könnte nichts gesehen haben oder letztlich alleine das Urteil tragen. Deshalb lassen sich auf dieser Ebene nur die Ermittlungshandlungen ausschließen, bei denen die Belastung bereits so groß ist, dass selbst bei maximalem Beweiswert der jeweilige Verdacht die Erhebung nicht rechtfertigen würde.
Dass die Beschlagnahme im Widerspruch zu den Rechtsverordnungen steht, ist mit der Systematik kaum zu vereinbaren. Etwa § 7 I der Verordnung aus Hamburg lässt sich doch deutlich entnehmen, dass dieses Verbot nur an den Datenerheber gerichtet ist. Selbst wenn es anders sein sollte, dürfte das kaum relevant sein. Denn soweit § 160 IV StPO auch auf Landesvorschriften Rücksicht nimmt, müssen diese wirksam sein. Für eine so verstandene Einschränkung gibt es keine Rechtsgrundlage.