05 October 2020

Das Scheitern eines Justiz-Experiments

Das UN-Tribunal für die Roten Khmer steht vor dem Aus

Nach mehr als zehn Jahren der Ermittlungen hat die Rechtsmittelkammer des UN-Tribunals für die Roten Khmer das Verfahren gegen den Angeklagten Ao An im August 2020 eingestellt. Die pragmatische Entscheidung ist vor dem Hintergrund politischer Einflussnahme seitens der kambodschanischen Regierung verständlich, die Begründung aber nicht vollständig überzeugend. Damit wird das Gericht seine Arbeit nach jahrelangem Hin und Her beenden müssen. Eine Vielzahl an Verbrechen bleibt wohl ungesühnt.

Das Ende des juristischen „Limbo“

Dass die Rechtsmittelkammer (Supreme Court Chamber) des UN-Tribunals für die Roten Khmer im Verfahren 004/02 gegen den ehemaligen Kader Ao An irgendwann den Schlussstrich ziehen musste, kam nicht überraschend. Das Verfahren stand seit Monaten still. Grund waren Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Gerichts, das sich aus kambodschanischen und internationalen Richtern zusammensetzt. Die Anklagebehörde und die Behörde der Untersuchungsrichter sind aufgeteilt in einen internationalen und einen kambodschanischen Zweig. Die beiden Untersuchungsrichter (Co-Investigating Judges), welche das Verfahren eigentlich zusammen betreiben und eine gemeinsame Abschlussentscheidung erlassen sollen, konnten sich jedoch nicht einigen: Der internationale Untersuchungsrichter wollte das Hauptverfahren eröffnen, der kambodschanische wollte das Verfahren einstellen.

Die für solche Fälle vorgesehene Streitschlichtungsinstanz, die Vorverfahrenskammer (Pre-Trial Chamber) – ihrerseits mit kambodschanischen und internationalen Richtern besetzt – konnte die Differenzen nicht beseitigen. Die Hauptverfahrenskammer, welche für die Hauptverhandlung zuständig gewesen wäre, war machtlos, denn sie hatte die (elektronische) Prozessakte des Verfahrens 004/02 von der Vorverfahrenskammer gar nicht erhalten, wie sie im April 2020 erklärte. Eine Annäherung der Ansichten über die Verantwortung von Ao An war nicht in Sicht, das Verfahren wäre wohl noch über Jahre im juristischen „Limbo“ verblieben. Stattdessen stellte die Rechtsmittelkammer mit ihrer Entscheidung vom August 2020 das Verfahren endgültig ein.

Politische Einflussnahme

Was war passiert? Ursache für den durch die gegenläufigen Abschlussentscheidungen ausgelösten Stillstand war ein Streit zwischen dem kambodschanischen und dem internationalen Untersuchungsrichter. Im Gerichtsstatut war 2004 nach jahrelangen zähen Verhandlungen zwischen der UN und Kambodscha eine fast paritätische Besetzung der Gerichtsorgane ebenso wie der Kammern festgelegt worden. Denn von Anfang an vertrauten die Vereinten Nationen dem Regime des seit 1985 regierenden kambodschanischen Ministerpräsidenten Hun Sen nicht. Regelmäßig berichten Menschenrechtsorganisationen, dass die Justiz im Land korrupt und dem Willen des Präsidenten unterworfen ist. Die Schaffung eines derartigen hybriden Gerichtes sollte einerseits die kambodschanische Seite in das Gericht einbinden und die gerichtliche Aufarbeitung fest in dem Land verwurzeln, in dem die Taten stattgefunden hatten. Andererseits sollte dies verhindern, dass die kambodschanischen Richter auf Geheiß von Hun Sen politische Entscheidungen treffen könnten.

Die Befürchtung, Ministerpräsident Hun Sen könnte sich in die Verfahren einmischen und die richterliche Unabhängigkeit verletzen, bestätigte sich schnell. Schon 2010 erklärte er bei einem Besuch des damaligen UN-Generalsekretärs Ban-Ki Moon öffentlich, er wünsche keine weiteren Verfahren. Mit den Verfahren 002 gegen die vier noch lebenden Hauptverantwortlichen der Roten Khmer – ursprünglich waren Nuon Chea, Khieu Samphan, Ieng Sary und Ieng Thirith angeklagt – sowie dem Verfahren 001 gegen Kaing Guek Eav, genannt Duch, sollte es sein Bewenden haben.

Die internationalen Richter steckten in einem Dilemma: Dass ihre Arbeit die Hauptverhandlung je erreichen würde, war nach derartigen Äußerungen seit Jahren unwahrscheinlich. Aber sich dem Willen des Autokraten zu beugen und die offensichtliche Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit zu akzeptieren war keine Alternative. So arbeiteten die internationalen Richter in Phnom Penh unbeirrt weiter, sammelten Beweise und werteten sie aus.

Der offene Bruch

Der erste Härtetest ging noch glimpflich aus. Das Verfahren 004/01 gegen Im Chaem wurde in Übereinstimmung zwischen nationalem und internationalem Untersuchungsrichter eingestellt. Im Chaem sei weder eine Führungspersönlichkeit der Roten Khmer noch in besonderer Weise verantwortlich für ihre Verbrechen gewesen. Da das Mandat des Gerichts ausweislich seines Statuts nur für diese zwei Personengruppen („senior leaders and those most responsible”) greift, schied sie aus der persönlichen Gerichtsbarkeit des Gerichts aus.

Im August 2018 kam es dann jedoch zum ersten offenen Bruch. Der deutsche Untersuchungsrichter am Tribunal, Michael Bohlander, veröffentlichte eine detaillierte Abschlussentscheidung, in der er darlegte, warum er im Verfahren 004/02 gegen Ao An die Hauptverhandlung eröffnen wollte. Für ihn stand fest: Es gab ausreichend Beweise, dass Ao An im Regime der Roten Khmer hohe politische Stellungen in verschiedenen Gremien innehatte, in denen er Arbeitslager errichten und massenhaft Unschuldige töten ließ. Überdies habe Ao An den Befehl gegeben, die Minderheit der Cham im Land festnehmen und umbringen zu lassen, so Bohlander. Dies sei als Völkermord zu klassifizieren.

Der kambodschanische Untersuchungsrichter You Bunleng sah dies anders. Er sah keine ausreichenden Beweise dafür, dass Ao An über genügend Autorität oder Befehlsgewalt verfügt habe, um als Hauptverantwortlicher zu gelten. Ao An sei nur einer von vielen Tätern der Roten Khmer gewesen. Für diese sei das Tribunal aber nicht zuständig. Natürlich lässt sich von außen nicht beurteilen, ob auch diese konkrete Entscheidung das Resultat politischer Einflussnahme war. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Äußerungen des autokratischen Herrschers Hun Sen, der das Verfahren ablehnte, drängt sich dies indes auf. Den gleichen Weg gingen auch die beiden anderen noch ausstehenden Verfahren. Im November 2018 folgten die gegenläufigen Abschlussentscheidungen im Verfahren 003 gegen Meas Muth, im Juni 2019 die im Verfahren 004 gegen Yim Tith.

Die Verfahrensregeln hatten den Fall gegenläufiger Abschlussentscheidungen nicht explizit geregelt. Zwar bestimmen sie, dass bei Uneinigkeit innerhalb der Vorverfahrenskammer das Verfahren grundsätzlich fortzuführen ist (Internal Rule 77(13)(b)). Daher waren die internationalen Richter der Vorverfahrenskammer ebenso wie die internationale Chefanklägerin der Meinung, das Verfahren habe fortzuschreiten und die Hauptverfahrenskammer sei mit dem Verfahren zu befassen. Ob diese Verfahrensregel indes auch auf den Fall zweier gegenläufiger Abschlussentscheidungen der Untersuchungsrichter anwendbar ist, ist umstritten. Die Rechtsmittelkammer hat es schlussendlich verneint.

In der Folge stand das Verfahren zunächst still. Der Hauptverfahrenskammer waren die Hände gebunden, denn ohne Akte konnte sie ihre Arbeit nicht aufnehmen. Die kambodschanischen Richtr der Vorverfahrenskammer weigerten sich, ihr diese zu übermitteln. Die internationalen Richter der Vorverfahrenskammer hatten daraufhin erklärt, am Ende ihrer Möglichkeiten zu sein und nichts weiter tun zu können, um die Prozessakte weiterzuleiten. In einer Mitteilung vom April 2020 schilderte die Hauptverfahrenskammer den Parteien ihr Dilemma und stellte klar, dass sie vor diesem Hintergrund realistisch gesehen kein Verfahren eröffnen könne.

Das endgültige Ende

Zunächst war die Anklagebehörde am Zuge, welche die Mitteilung der Hauptverfahrenskammer vom April 2020 – also die faktische Verfahrenseinstellung – vor der Rechtsmittelkammer angriff. Sie sollte die Hauptverfahrenskammer dazu verpflichten, das Hauptverfahren zu eröffnen. Dem erteilte die Rechtsmittelkammer – einstimmig – eine Absage. Das Rechtsmittel sei bereits unzulässig. Die Mitteilung der Hauptverfahrenskammer sei ein rechtliches Nullum, da sie mangels Akte noch gar nicht offiziell mit dem Verfahren 004/02 betraut sei. Somit habe sie keine bindende Verfügung erlassen können, welche die Anklagebehörde habe angreifen können. Dennoch entschied sich die Rechtsmittelkammer, im Interesse der Opfer und der Rechtssicherheit auch in der Sache auf die aufgeworfenen Fragen einzugehen, um Klarheit darüber zu schaffen, ob es ein Verfahren geben werde oder nicht.

In ihrer ablehnenden Entscheidung stellt die Rechtsmittelkammer insbesondere auf die (in diesem Teil einstimmige) Entscheidung der Vorverfahrenskammer ab, nach welcher der Erlass zweier gegenläufiger Abschlussentscheidungen durch die Untersuchungsrichter rechtswidrig gewesen sei. Hierfür hatte die Vorverfahrenskammer unter anderem auf den Wortlaut der Verfahrensregeln verwiesen: Sie sprechen von einer Abschlussentscheidung der Untersuchungsrichter, die einen Beschuldigten entweder anklagt oder das Verfahren einstellt (Internal Rule 67(1)). Da das Vorgehen der Untersuchungsrichter rechtswidrig gewesen sei, seien beide Abschlussentscheidungen nichtig. Da eine wirksame Abschlussentscheidung fehle, sei das Verfahren einzustellen. Aus diesem Grund sei auch das Grundprinzip nicht anwendbar, nach dem im Zweifelsfall das Verfahren fortzuschreiten habe (Internal Rule 77(13)(b)). Denn wenn es keine bestandskräftige Abschlussentscheidung gebe, könne das Verfahren auch nicht fortgeführt werden.

Die Entscheidung der Rechtsmittelkammer ist unerschrocken pragmatisch und erfrischend ehrlich. Sie macht deutlich, was am Gericht seit langem jeder wusste: Ein Verfahren gegen den Willen des kambodschanischen Personals war nicht denkbar. Dennoch beruht sie auf einer juristischen Fiktion, die mit der Realität nicht viel zu tun haben dürfte. Denn selbst wenn der Erlass gegenläufiger Abschlussentscheidungen rechtswidrig war – was wäre die realistische Alternative gewesen? Die Vorverfahrenskammer hatte verlangt, dass die Untersuchungsrichter ihre jeweiligen Streitpunkte der Vorverfahrenskammer vorlegen, statt abweichende Abschlussentscheidungen zu erlassen. Es stand jedoch nicht zu erwarten, dass sich die Vorverfahrenskammer selbst einigen würde. Auch sie ist zwischen den kambodschanischen und den internationalen Richtern zerstritten und konnte sich nicht darüber einigen, welche der gegenläufigen Abschlussentscheidungen Bestand haben sollte. Es wäre wohl in jedem Fall zum gleichen verfahrensrechtlichen Stillstand gekommen wie jetzt auch. So aber kann die Öffentlichkeit das Ermittlungsergebnis der beiden Untersuchungsrichter immerhin nachvollziehen. Die Abschlussentscheidungen sind öffentlich, jeder kann die Beweislage einsehen.

Auch die Entscheidung, dass das Grundprinzip der Fortführung des Verfahrens nicht anwendbar sein soll, wenn die Untersuchungsrichter gegenläufige Abschlussentscheidungen erlassen, erscheint wie ein „juristischer Kniff“. Der Wortlaut der Verfahrensregel 77(13)(b) hätte wohl auch eine andere Auslegung ermöglicht. Die einstimmige Entscheidung der Rechtsmittelkammer war wohl dem Pragmatismus geschuldet. Nach Jahren des Stillstands und der politischen Einflussnahme seitens der kambodschanischen Regierung war nicht damit zu rechnen, dass es jemals tatsächlich zur Hauptverhandlung kommen würde. Die Entscheidung der Rechtsmittelkammer ermöglicht es dem internationalen Personal, das Verfahren in einer Weise zu beenden, die ihr Gesicht wahrt.

Für die Opfer und ihre Nachfahren ist die endgültige Entscheidung der Rechtsmittelkammer in jedem Fall eine herbe Enttäuschung. Jahrelang hofften sie darauf, dass die Kader der Roten Khmer in einer Hauptverhandlung zur Verantwortung gezogen würden. Ihnen muss die Ungewissheit und das ewige Hin und Her wie ein Hohn vorgekommen sein.

Magere Bilanz

Die Folgen der Entscheidung sind weitreichend. Sie läutet wohl das Ende des Gerichtes ein, das die Verbrechen der Roten Khmer untersuchen und aburteilen sollte. Auch in den noch ausstehenden Verfahren 003 gegen Meas Muth und 004 gegen Yim Tith liegen gegenläufige Abschlussentscheidungen der Untersuchungsrichter vor. Nach der Entscheidung im Fall Ao An ist es also nur eine Frage der Zeit, wann diese Verfahren ebenfalls eingestellt werden.

Nun geht es an die Abwicklung. Wenn es schon nicht zur Hauptverhandlung kommen wird, so sind dennoch die Beweismittel zu sichern und zu archivieren. Die Ergebnisse der akribischen Arbeit des Untersuchungsrichters Bohlander, der sich detailliert mit den Vorwürfen gegen Ao An auseinandergesetzt hat, dürfen nicht verloren gehen. Auch müssen die Opfer über den Stand des Verfahrens und die Gründe der Verfahrenseinstellung informiert werden. Das sind die UN ihnen schuldig.

Die Bilanz des Tribunals ist mager: Mehr als zehn Jahre Arbeit und 300 Millionen Euro Kosten haben zu lediglich drei Verurteilungen geführt. Zwar sind hohe Kosten und lange Verfahrensdauern im Völkerstrafrecht nichts Ungewöhnliches und ein Strafverfahren kann nicht nach purer Effizienz betrieben werden. Der lange Zeitablauf seit den Verbrechen – das Rote-Khmer-Regime endete bereits 1979 – und das Versterben hochbetagter Beschuldigter tat sein Übriges. Eines ist indes klar: Ein hybrides Gericht unter Beteiligung eines Landes, dessen Justiz nicht unabhängig ist, wird nicht funktionieren. Will man jemals wieder ein gemischt besetztes Tribunal schaffen, muss im Vorhinein eindeutig geklärt werden, wie mit Patt-Situationen umzugehen ist. Das UN-Tribunal für die Roten Khmer jedoch ist kein Modell, das kopiert werden sollte.


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