28 October 2020

Große Erwartungen

Das Chilenische Referendum über eine neue Verfassung

Vergangenen Sonntag, am 25. Oktober 2020, haben die Chilenen in einer historischen Abstimmung den Weg für eine neue Verfassung freigemacht. Schon über ein Jahr protestieren die Bürger des Landes und nun ist es ihnen gelungen, diese Proteste durch das Referendum auf eine demokratische Weise zu kanalisieren. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die neue, noch zu erarbeitende Verfassung.

Der Weg zum Referendum

Noch vor wenigen Jahren wurde eine neue Grundordnung vom aktuellen Präsidenten Sebastián Piñera als nicht notwendig angesehen. Im Laufe der landesweiten Protestbewegung ab dem 18. Oktober 2019 entwickelte sich dies aber zu einer immer klareren Forderung und gelangte so schließlich auch auf die politische Agenda. Die monatelangen Proteste, die mit einer geplanten Erhöhung der Ticketpreise in öffentlichen Verkehrsmitteln und protestierenden Studierenden und Schülern begannen, zeigten den Wunsch vieler Chilenen nach Reformen insbesondere im Renten-, Bildungs- und Gesundheitssystem.

Die Regierung reagierte auf die Proteste ab dem 19. Oktober 2019 zunächst mit dem verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand nach den Artikeln 32 Nr. 5, 42 der Chilenischen Verfassung in Verbindung mit dem Gesetz (LOC) Nr. 18.415 und dem Dekret Nr. 5964 (2019). Mitte November 2019 hat dann ein breites Bündnis von Parteien und Parlament ein „Abkommen für den Sozialen Frieden und für eine Neue Verfassung“ als Grundlage für ein verfassunggebendes Verfahren verabschiedet. Dieser Vorschlag beinhaltete auch ein Referendum, das ursprünglich im April 2020 abgehalten werden sollte, aufgrund der Covid-19 Pandemie aber auf den Oktober verschoben wurde.

Im Abkommen wurde auch eine verfassunggebende Kommission etabliert, die schon im Vorfeld des Referendums im November und Dezember 2019 die verbindlichen Rahmenrichtlinien für die Verfassunggebende Versammlung für den Fall festlegte, dass die Menschen für eine neue Verfassung stimmten. Die 14-köpfige Kommission stellte unter anderem die Bedingungen auf, dass die Verfassunggebende Versammlung paritätisch besetzt und Plätze für die indigene Bevölkerung garantiert werden müssen.

Ein klares Ergebnis

Das Referendum wurde aufgrund der Pandemie unter besonderen hygienischen Maßnahmen abgehalten. So gab es beispielsweise separate Abstimmungsmöglichkeiten für ältere Menschen. Bei 99,85 % der ausgezählten Stimmen entschieden sich 78,27 % für eine neue Verfassung. Die Wahlbeteiligung lag mit 50,90 % über der Teilnahme der letzten Wahlen.

Die Wahlberechtigten stimmten zusätzlich zu der Frage nach einer neuen Verfassung auch darüber ab, in welcher Form eine Verfassunggebende Versammlung zusammenkommen sollte. Zum einen gab es die Möglichkeit einer gemischten Verfassunggebenden Versammlung, deren Mitglieder jeweils zur Hälfte aus Parlamentariern und einzig zu diesem Zweck gewählten Bürgern besteht. Zweite Option war die Verfassunggebende Versammlung, bei der sämtliche Mitglieder frei gewählt werden. Hier können Parlamentarier zwar auch teilnehmen, sie müssen aber bei einer Kandidatur ihren Abgeordnetenstatus aufgeben und dürfen danach ein Jahr lang nicht bei öffentlichen Wahlen kandidieren.

Auch bei dieser Frage war das Ergebnis der Abstimmung deutlich: 78,99 % der Menschen entschieden sich für eine Versammlung mit ausschließlich frei gewählten Mitgliedern des verfassunggebenden Organs.

Die Proteste kanalisiert

Auffällig war, dass viele junge Menschen zwischen 18 und 34 Jahren am Referendum teilnahmen. Bei den letzten Abstimmungen war die Beteiligung dieser Altersgruppe eher gering. Innerhalb des Landes zeigte sich vor allem in urbanen Gebieten ein besonders hohes Interesse an der Abstimmung. Hier hatten auch die Proteste vorrangig stattgefunden. Dort, wo die soziale Segregation offen zu Tage tritt, insbesondere in der Hauptstadt Santiago, wurde auch offensichtlich, dass in den Bezirken, in denen vor allem die Oberschicht lebt, eine neue Verfassung überwiegend abgelehnt wurde. Grund hierfür ist die Überzeugung, die aktuelle Verfassung sei der Grund für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes in den letzten 30 Jahren. Befürwortet wurde hier vermehrt, höchstens Teile der jetzigen Verfassung zu reformieren. Kritisiert wurde auch, dass das Verfahren zu einer neuen Verfassung durch Gewalt der Demonstranten erzwungen wurde und deshalb abzulehnen sei.

Die Befürworter hingegen stimmten vor allem deshalb für eine neue Verfassung, um die Reformen im Bildungs-, Gesundheits- und Rentenwesen umsetzen zu können. Sie erhoffen sich eine Verankerung der sozialen Rechte in der neuen Verfassung. Obwohl Artikel 19 der chilenischen Verfassung bereits bestimmte Rechte, wie das Recht auf Umweltschutz und das Recht auf Gesundheitsschutz aufzählt, sieht Artikel 20 Rechtsschutz für einzelne Bürger nur bedingt und für ausgewählte Rechte vor. Beim Recht auf Gesundheitsschutz ist beispielsweise nur die Auswahl zwischen einem staatlichen und einem privaten Gesundheitssystem verfassungsrechtlich geschützt. Ein weiterer Grund war auch der Wunsch nach einem Wandel des neoliberalen Systems. Das Ende der geltenden Verfassung bedeutet für viele Menschen auch den Abschluss für die Zeit von Pinochet. Darüber hinaus erhofft man sich durch eine neue, „sozialere“ Verfassung bessere Löhne und im Allgemeinen eine bessere Lebensqualität.

Nur ein erster Schritt

Die Gründe der Befürworter machen deutlich, dass die Forderungen der Proteste auf die neue Verfassung projiziert wurden. Daher setzen sie nicht nur große Hoffnungen in, sondern haben auch hohe Erwartungen an diese neue Grundordnung.

Im April 2021 werden die Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung gewählt. Sie haben dann neun Monate Zeit, einen neuen Verfassungstext zu erarbeiten, wobei dieser Zeitraum noch einmal um maximal drei Monate verlängert werden kann. Innerhalb von 60 Tagen nach der Ausarbeitung dieses neuen Verfassungstextes wird ein ratifizierendes Referendum abgehalten, bei dem die Abstimmung der Bürger verpflichtend ist.

Viele Menschen haben im Laufe des letzten Jahres das Gefühl bekommen, dass sie mit ihrer Beteiligung etwas verändern können. So entstanden beispielsweise vor der Pandemie auf lokaler Ebene im ganzen Land Zusammenkünfte, bei denen sich die Menschen über die Bedeutung einer Verfassung informierten, die aktuelle Verfassung lasen und über wesentliche Bestandteile einer neuen Verfassung diskutierten. Der Weg hin zu einer neuen Verfassung ist noch lang. Das bisherige Verfahren hat aber gezeigt, dass die politischen und sozialen Proteste auf demokratische Weise kanalisiert und Lösungen gefunden werden können.


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