02 November 2020

Zwei Seiten einer Medaille

Bessere Rechtsbeachtung durch intelligentes Regelungsdesign in der Sekundärmigration

Eine erfolgreiche EU-Asylreform verlangt nicht nur, dass die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament sich einigen. Darüber hinaus müssen die Regeln so ausgestaltet sein, dass sie in der Praxis halbwegs funktionieren. Dies kann nur dann gelingen, wenn alle Mitgliedstaaten das Reformpaket als fair empfinden und Anreizstrukturen bestehen, damit sich Migranten und Flüchtlinge regelkonform verhalten. In der Gegenwart ist das nicht der Fall. Die EU-Asylpolitik leidet unter einem ausgeprägten Vollzugsdefizit, das sich exemplarisch bei einem Phänomen zeigt, das gerade aus deutscher Perspektive wichtig ist: die Sekundärmigration.

Der Begriff der „Sekundärmigration“ meint, dass Asylantragstellende irregulär in ein anderes EU-Land weiterziehen, anstatt dort zu bleiben, wo nach den Vorgaben der Dublin III-Verordnung eigentlich ihr Asylverfahren stattzufinden hat. In ihrem „Pakt für Migration und Asyl“ umging die Kommission den Begriff, der dennoch im Titel der begleitenden Pressemitteilung angedeutet wird, wenn diese vollmundig ein „neues Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität“ verspricht. In der verklausulierten EU-Terminologie verweist diese Formel darauf, dass für den zwischenstaatlichen Interessenausgleich die Umverteilung aus den Grenzstaaten (Solidarität) sowie die Vermeidung der Sekundärmigration (Verantwortung) zwei Seiten der sprichwörtlichen Medaille sind.

EU-Asylpolitik: zwei gegenläufige Narrative

In der politischen Diskussion gibt es zwei Defiziterzählungen, die erklären, warum es so schwierig ist, einen Ausgleich zwischen „nördlichen“ und „südlichen“ Ländern zu finden. Während die Außengrenzstaaten im Süden sich darüber beschweren, dass das Dublin-System sie strukturell übervorteilt, ist weiter nördlich die Klage über die vermeintliche Unfähigkeit der Südstaaten verbreitet, funktionsfähige Asylsysteme aufzubauen und die irreguläre Weiterwanderung zu unterbinden. Die größtenteils regierungskritische Migrationsforschung ergänzt die Perspektive der Migranten und Flüchtlinge, die aufgrund schlechter Lebensstandards und persönlicher Präferenzen nicht in Griechenland oder Italien bleiben möchten.

Während das erste Narrativ aufgrund der prominenten Bilder von der Seenotrettung vor Italien oder den Camps auf griechischen Inseln fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist, findet die Sekundärmigration heutzutage – anders als zu Zeiten der „Westbalkanroute“ – jenseits der medialen Aufmerksamkeit statt. Statistiken zeichnen dennoch ein klares Bild. In den vergangenen fünf Jahren wurden in der Bundesrepublik durchgehend mehr Asylanträge gestellt als in Italien, obwohl die italienische Asylantragstatistik auch diejenigen umfasst, die später weiterwanderten (während die deutschen Zahlen die gesetzlich fingierten Asylanträge neugeborener Kinder beinhalten). Im vergangenen Jahr richtete das BAMF beinahe 27 Tausend Rücknahmeersuchen an Italien, Spanien und Griechenland, von denen nur knapp 15 % tatsächlich vollzogen wurden.

Vor diesem Hintergrund konzentriert sich dieser Blogbeitrag bewusst auf diejenigen Aspekte der umfassenden Kommissionsvorschläge für eine EU-Asylreform vom 23. September 2020, die inhaltlich die Sekundärmigration betreffen. Damit behaupte ich nicht, dass dieser Aspekt wichtiger sei als die solidarische Lastenteilung, deren überbordende Komplexität andernorts von Francesco Maiani beschrieben wurde. Allerdings zeigt die Kritik deutscher Politiker an fortbestehenden Anreizen für die Sekundärmigration, wie wichtig diese speziell für die deutsche Debatte sind. Sinnvoll bewerten kann man die Vorhaben freilich nur, wenn man sich die Faktoren bewusst macht, welche die irreguläre Weiterwanderung beeinflussen.

Push- und Pull-Faktoren der Sekundärmigration

Die Sozialwissenschaft lehrt uns, dass es keine einfachen Erklärungen gibt, warum Menschen ihre Herkunftsländer verlassen, welche Faktoren die Zielstaatswahl beeinflussen und inwiefern sich diese Präferenzen im Laufe der Zeit verändern, wenn jemand zum Beispiel nach Monaten und Jahren plötzlich in ein zweites Land weiterzieht, sodass die ursprüngliche Destination zum „Transitstaat“ wird. Zahlreiche Push- und Pull-Faktoren überlagern sich, deren relatives Gewicht immer von den Umständen des Einzelfalls abhängen wird. Erschwert wird eine Gesamtbetrachtung durch den vergleichsweise geringen Wissensgrad der meisten Asylantragstellenden, wie die ethnographische Forschung wiederholt betonte. Ganz konkret folgt hieraus, dass öffentlichkeitswirksame Symbole und migrantische Erzählungen die Wanderungsentscheidungen beeinflussen können.

Trotz dieser Unsicherheit sind allgemeine Aussagen möglich, welche Faktoren typischerweise wichtiger sind als andere. So besitzen Asylantragstellende üblicherweise keine Detailkenntnis über das nationale oder europäische Asylrecht. Wanderungsentscheidungen werden daher nur am Rande durch diejenigen technischen Einzelheiten bestimmt, die die politische Debatte vielfach umtreiben. Sozialleistungen sind zwar ein Faktor unter mehreren, andere Aspekte dürften gemeinhin jedoch ein größeres Gewicht besitzen. Dies gilt neben der physischen Sicherheit, die zum Glück alle Mitgliedstaaten grundsätzlich bereitstellen, vor allem für die wirtschaftliche Perspektive, etwa durch eine erfolgreiche Jobsuche, sowie die generellen Lebensbedingungen vor Ort. Darüber hinaus sind ethnische und familiäre Netzwerke auch in der Asylmigration ein zentraler Faktor, warum eine Person sich für ein bestimmtes Zielland entscheidet.

Auch die Asylverfahrensdauer kann Entscheidungen beeinflussen, nicht zuletzt mit Blick auf die Beachtung einer eventuellen Ausreisepflicht nach einer Sekundärmigration. Je länger ein Verfahren dauert, desto mehr persönliche Kontakte werden geknüpft. Die notorische Ineffizienz des Rücknahmeverfahrens aufgrund der Dublin III-Verordnung kann insofern ein Element sein, das die Rechtsbeachtung erschwert, auch wenn die anderen genannten Faktoren ein größeres Gewicht besitzen dürften.

Folgen für die Reformdiskussion

Ein zentrales Defizit des aktuellen EU-Asylrechts besteht darin, dass für die Außengrenzstaaten angesichts der strukturell unfairen Zuständigkeitsregeln kein Anreiz besteht, auf eine bessere Rechtsdurchsetzung zu drängen. Darüber hinaus kontrastiert die faktische Reisefreiheit im Schengen-Raum mit dem Insistieren der Dublin III-Verordnung auf zwangsbasierte zwischenstaatliche Überstellungsverfahren. Aus Sicht der Asylantragstellenden schließlich würde die Rechtsbeachtung gefördert, wenn deren Präferenzen partiell abgebildet würden (hier, S. 103-118). Ein intelligentes Regelungsdesign versuchte, all diese Aspekte möglichst zu verbinden.

Nach den Erkenntnissen der ökonomischen Theorie der rationalen Entscheidung kann man individuelle Entscheidungen durch positive Anreize oder negative Sanktionen beeinflussen. Umgangssprachlich: „Zuckerbrot und Peitsche“. Nichtsdestotrotz prägt die politische Debatte vielfach ein binäres Entweder-oder. Während Nichtregierungsorganisationen dafür plädieren, migrantische Präferenzen ernster zu nehmen, konzentrieren sich viele Regierungen auf Sanktionen. Regelungstechnisch ist dies eine falsche Dichotomie: positive und negative Anreize sind kombinierbar. Ein solches Vorgehen fördert nicht nur die Rechtsbeachtung (was im Interesse aller ist), sondern unterstützt auch die politische Kompromissfindung innerhalb nationaler Regierungen sowie auf europäischer Ebene.

Darüber hinaus lehrt uns die Diskussion der letzten Jahre, wie wichtig verlässliche Statistiken sind. Derzeit zählt die EU-Asylstatistik nämlich Asylanträge und nicht Antragstellende; bei einer Sekundärmigration wird ein Antrag mehrfach gezählt. Dies führt zu erhöhten Gesamtzahlen und bewirkt, dass man nicht verlässlich weiß, wie viele Personen sich noch in einem Land aufhalten (oder weitergezogen sind). Gewiss werden Asylstatistiken selten perfekt sein, weil die Behörden nicht immer alles konsequent überschauen, aber bessere Daten fördern eine rationale Debatte.

Daher ist es wichtig, dass die Kommission die Informationslage verbessern will, indem der vorliegende Vorschlag für eine Eurodac-Verordnung jüngst nochmals nachgebessert wurde. Eurodac soll zu einer veritablen Migrationsdatenbank ausgebaut werden, die Personen anstelle von Asylanträgen zählt und künftig auch Daten über den Rechtsstatus nach dem Asylverfahren enthalten soll. Politisch dürfte dies vergleichsweise unkontrovers sein, auch wenn der Datenschutz zu beachten ist. Der politische Streit wird den Solidaritätsmechanismus sowie „Zuckerbrot und Peitsche“ betreffen, mittels derer die Sekundärmigration verhindert werden soll.

Familienleben: ein zentrales Wanderungsmotiv

Angesichts der Wanderungsmotive kann die erweiterte Definition von „Familienangehörigen“, die die Kommission vorschlägt, ein Faktor sein, um die Rechtsbeachtung zu fördern. Künftig sollen auch Geschwister und Familien, die außerhalb des Herkunftslandes gegründet wurden, ein Grund sein, warum Familienangehörige nicht in den Außengrenzstaaten bleiben müssen (Art. 16-18 i.V.m. Art. 2 Buchst. g des Vorschlags für eine Asyl- und Management-Verordnung). Konkret heißt dies, dass eine syrische Familie von Griechenland ganz legal nach Deutschland reisen dürfte, wenn dort ein Bruder des Vaters als anerkannter Flüchtling wohnt.

Dasselbe gilt für eine nigerianische Frau, deren Bruder in Deutschland einen Asylantrag stellte, über den noch nicht entschieden wurde. Auf die Erfolgsaussicht kommt es nicht an. Erst wenn das BAMF einen Antrag ablehnt, müsste Deutschland die Familienmitglieder nicht mehr übernehmen (Art. 17). Diese vorrangige Zuständigkeit von Ländern, wo bereits Familienangehörige wohnen, gilt auch für Personen, die künftig dem Grenzverfahren unterfallen, weil dieses die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, optional die Dublin-Regeln anzuwenden (Art. 41 Abs. 7 des geänderten Vorschlags für eine Asylverfahrensverordnung).

Diese Beispiele zeigen, dass der erweiterte Familienbegriff speziell für Länder praktisch relevant wäre, wo bereits viele anerkannte Flüchtlinge leben. Der EU-Gesetzgeber legalisierte gleichsam dasjenige, was in der Migrationsforschung als „Kettenmigration“ entlang ethnischer oder familiärer Netzwerke bezeichnet wird. Diese Änderung hatte die Kommission schon im Jahr 2016 vorgeschlagen (hier, Art. 2 Buchst. g), was von Mitgliedstaaten jedoch abgelehnt wurde. Auch jetzt gab es wieder Kritik. Dagegen dürften die erweiterten Zuständigkeitsregeln aufgrund früherer Aufenthalte sowie eines Studiums (Art. 19 Abs. 4, Art. 20) weniger kontrovers sein.

Die Bedeutung der Änderung darf man nicht unterschätzen. Zum einen dürfte eine Beibehaltung des Status quo in vielen Fällen schlicht nicht funktionieren, weil Familienmitglieder auch dann häufig weiterwandern werden, wenn dies verboten ist. Man kann den Vorschlag mithin als Versuch deuten, den Rechtsbruch zu verhindern, indem man ihn legalisiert. Im Fall von Familien dürfte dies politisch leichter zu vermitteln sein als in anderen Fällen der Sekundärmigration. Zum anderen könnte man der legitimen Kritik durch eine politische Kompromissfindung anderweitig begegnen. So könnte man die Übernahme von Geschwistern auf die künftigen staatlichen Solidaritätsquoten anrechnen (Art. 45, 54) oder im Gegenzug andere Kompromisse erreichen, etwa durch eine halbwegs stabile Zuständigkeitsbestimmung, auf die weiter unten näher einzugehen sein wird.

„Zuckerbrot“: Anreize für die Rechtsbeachtung

Berücksichtigen möchte die Kommission die Präferenzen von Asylantragstellenden auch bei dem künftigen Verteilungsmechanismus. Die Mitgliedstaaten „müssen“ (shall) hierbei „hinreichende Verbindungen“ (meaningful links) einbeziehen, wenn sie entscheiden, welche Personen überstellt werden (Art. 57 Abs. 3 UAbs. 1, 49 Abs. 2 der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung). Die Kommission definiert hierbei nicht näher, was unter „hinreichenden Verbindungen“ zu verstehen sei. In Anlehnung an einen früheren Vorschlag des Europäischen Parlaments wird man darunter vor allem fassen: „humanitäre Gründe, die sich insbesondere auf familiäre, kulturelle oder soziale Bindungen, Sprachkenntnisse oder andere bedeutende Bindungen stützen, die seine Integration in den anderen Mitgliedstaat erleichtern würden“ (Art. 24b i.V.m. Art. 19 Abs. 2 des Berichts des LIBE-Ausschusses für eine Dublin IV-Verordnung).

Die praktische Bedeutung dieses Vorschlags hinge auch davon ab, ob der Familienbegriff ausgeweitet würde, denn die Umverteilung erfasst nur diejenigen Personen, die nicht aufgrund spezieller Regelungen ohnehin einem bestimmten Mitgliedstaat zugewiesen sind (Art. 57 Abs. 3 UAbs. 3 der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung). Deutschland müsste also die Familienzusammenführung zusätzlich zur solidaritätsbasierten Aufnahmequote gewährleisten. Soweit der Familienbegriff ausgeweitet würde, wären ergänzende „hinreichende Verbindungen“ etwa bei Sprachkenntnissen oder, kontroverser, einem religiösen Bekenntnis gegeben, wodurch Ungarn vorrangig Christen freiwillig übernehmen könnte.

Gewiss wird es die Sekundärmigration nicht verhindern, wenn man hinreichende Verbindungen berücksichtigt; vermindert werden könnte die Sekundärmigration auf diesem Wege jedoch. Andere positive Anreize, die die Kommission einführen möchte, dürften dagegen nur eine geringe Rolle spielen. So soll künftig ein EU-Daueraufenthaltsrecht für anerkannte Flüchtlinge bereits nach drei statt bisher fünf Jahren erhältlich sein (Art. 71). Berechnet würde dieser Zeitraum auch in Deutschland ab der Asylantragstellung (§ 9b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 AufenthG), während andere Mitgliedstaaten nur die Hälfte dieses Zeitraums anrechnen (Art. 4 Abs. 2 Nr. 3 der Daueraufenthaltsrichtlinie in der Fassung gemäß Richtlinie 2011/51/EU).

Vor allem jedoch müssten anerkannte Flüchtlinge die weiteren Voraussetzungen der Daueraufenthaltsrichtlinie erfüllen, um legal weiterwandern zu können. Insbesondere der Lebensunterhalt müsste gesichert sein, die betroffenen Personen also nicht von Sozialleistungen leben (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/109/EG). Weitere Einschränkungen hinaus könnten die Zielstaaten der Sekundärmigration vorsehen und etwa eine Vorrangprüfung oder Integrationskriterien vorsehen (Art. 14-17). All dies zeigt, dass die Änderungen in der Praxis wohl nur wenige beträfen. Sie sind wohl vor allem ein Ausgleich dafür, dass es für international Schutzberechtigte ausnahmsweise doch eine dauerhafte Zuständigkeit geben soll, die weiter unten näher dargelegt werden wird.

Dabei gäbe es durchaus Optionen, wie eine konditional bedingte Freizügigkeit von anerkannten Flüchtlingen realisiert werden könnte. So könnte der EU-Gesetzgeber die Hochqualifizierten- oder Saisonarbeitnehmer-Richtlinien anpassen, die bisher für international Schutzberechtigte nicht gelten. Auch gänzlich neue Wanderungsregeln zum Zweck der Jobsuche sind denkbar. All dies etablierte keine freie Zielstaatswahl, wie sie bisweilen gefordert wird, sondern machte die Weiterwanderung von Kriterien abhängig. Vorschläge hierzu hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, dessen stellvertretender Vorsitzender ich bin, bereits im Jahr 2017 unterbreitet (hier, S. 41-45).

Schnellere Überstellungsverfahren

Gegenwärtig setzt die Dublin III-Verordnung auf komplizierte und hochgradig ineffiziente Überstellungsverfahren, die in der Praxis häufig scheitern. Dies führt dazu, dass in der deutschen Behörden- und Gerichtspraxis derzeit bis zu einem Jahr vergeht, binnen dessen erstens das BAMF eine Unzulässigkeitsentscheidung erlässt und zweitens die Verwaltungsgerichte über den einstweiligen Rechtsschutz entscheiden; allein letzteres dauert in Fällen des § 80 Abs. 5 VwGO derzeit rund fünf Monate (hier, S. 48). Solch lange Verfahren sind ein Problem für sich, zumal in der Praxis nach weiteren sechs Monaten häufig Deutschland doch ein reguläres Asylverfahren durchführen muss. Es geht viel wertvolle Zeit verloren.

Vor diesem Hintergrund ist evident, warum die Kommission die Verfahren merklich straffen möchte. Das aktuelle Aufnahmeverfahren wird in eine bloße „Notifikation“ mit kurzen Fristen umgewandelt (Art. 31 der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung) und der Rechtsschutz wird gestrafft: im einstweiligen Rechtsschutz soll binnen eines Monats entschieden werden (Art. 33 Abs. 3 UAbs. 1) und ganz allgemein soll es ein Rechtsmittel nur noch dann geben, wenn jemand eine familiäre Bindung oder unmenschliche Behandlung geltend macht (Art. 33 Abs. 1). Dies ist noch strenger als der Vorschlag von 2016 (hier, Art. 28 Abs. 4 f.).

Die letzte Einschränkung kehrt letztlich zum Status quo ante unter Geltung der Dublin II-Verordnung zurück, die einen einstweiligen Rechtsschutz mit Suspensiveffekt gleichfalls nur unter restriktiven Bedingungen erlaubt hatte. Der EuGH dürfte diese Änderung allein deshalb akzeptieren, weil jüngere Urteile, die den Rechtsschutz ausgeweitet hatten, auf den Inhalt der Dublin III-Verordnung gründeten. Wenn letzterer sich ändert, werden die Richter dies wie im Fall der Dublin II-Verordnung grundsätzlich akzeptieren. Art. 13 EMRK verlangt kein anderes Ergebnis, weil die Norm nur für diejenigen gilt, die eine anderweitige Grundrechtsverletzung geltend machen können (hier, Rn. 288), was die Kommission durch die verbleibenden Klageoptionen im Kontext von Art. 4 und 8 GRCh berücksichtigt. Schließlich dürfte auch Art. 47 GRCh gewahrt sein, weil die Bestimmung – ganz ähnlich wie Art. 19 Abs. 4 GG – subjektive Rechte nicht schaffen kann, wenn der Gesetzgeber diese gerade nicht bereitstellt (hier, Rn. 64-84).

„Peitsche“: Sanktionen bei einer Rechtsverletzung

Im Einklang mit der Einsicht, dass der Gesetzgeber positive und negative Anreize verbinden kann, möchte der Migrationspakt einige Sanktionen beibehalten, die der Kommissionsvorschlag für eine Dublin IV-Verordnung enthalten hatte. So soll die irreguläre Weiterwanderung auch künftig ein beschleunigtes Asylverfahren im zuständigen Mitgliedstaat bewirken (Art. 40 Abs. 1 Buchst. g des fortbestehenden Vorschlags für eine Asylverfahrensverordnung i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung). Ergänzend soll verspätetes Vorbringen eine materielle Präklusionswirkung entfalten (Art. 10 Abs. 2). Für sich genommen zahnlos ist hingegen die formale Verpflichtung, nicht weiterzuwandern und Überstellungsentscheidungen zu beachten (Art. 9 Abs. 4 Buchst. a, Abs. 5).

Die wichtigste Sanktion sind die einschneidenden Sozialleistungskürzungen, die nach dem bisherigen Verhandlungsstand bei einer jeden illegalen Sekundärmigration erfolgen sollten (Art. 17a des fortgeltenden Vorschlags für eine Aufnahmerichtlinie) – auch wenn eine bestehende Öffnungsklausel speziell für Deutschland sozialpolitische und verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, die die Sanktion unterlaufen hätten können (hier, S. 6-8). Die Kommission schränkte diesen früheren Vorschlag in doppelter Hinsicht ein. Zum einen soll es im Fall zweiter Asylanträge keine automatische Kürzung geben, die erst eintritt, wenn die Überstellungsentscheidung notifiziert wurde. Zum anderen spricht die Systematik des Vorschlags dafür, dass wieder volle Leistungen zu zahlen sind, sobald die Zuständigkeit auf den Aufenthaltsstatus überging, weil eine Überstellung scheiterte.

Ungeachtet dieser Einschränkungen sollte man die Folgewirkungen gekürzter Sozialleistungen nicht überschätzen. Diese beeinflussen das Wanderungsverhalten durchaus, allerdings sind andere Faktoren wichtiger. Dies gilt etwa für die wirtschaftlichen Aussichten und die allgemeinen Lebensumstände, die die Kommission schwerlich beeinflussen kann. Die Sozialleistungen sind mithin eine der wenigen Zugriffsmöglichkeiten, über die der EU-Gesetzgeber überhaupt verfügt. Dies gilt während des Asylverfahrens ebenso wie nach der Anerkennung, wenn das EU-Recht sich am Leistungsniveau für eigene Staatsangehörige orientiert, die sich zwischen den Mitgliedstaaten erheblich unterscheiden (hier, S. 1561 f.). Europäische Rechtsharmonisierung stößt an ihre Grenzen.

Fortsetzung des Status Quo: Zuständigkeitsübergang partiell begrenzt

Eine der überraschendsten Neuigkeiten des Asyl- und Migrationspakts ist der Verzicht auf eine „stabile“ oder gar „ewige“ Asylzuständigkeit. Stattdessen belässt es die Kommission dabei, dass innerhalb der EU weiterhin mehrere Asylanträge gestellt werden können (Art. 27 Abs. 1 i.V.m. Art. 35 Abs. 1 f. der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung). Abgeschafft wird nur die aktuelle Dreimonatsfrist, binnen derer ein Aufnahmegesuch gestellt werden muss, was in der deutschen Praxis heute nur noch eine geringe Rolle spielt, weil die Asylverfahren schneller sind als 2015/16. Diese gesetzgeberische Kehrtwende ist vor allem dann beachtlich, wenn man bedenkt, dass sogar das Europäische Parlament künftig nur einfache Asylanträge zulassen wollte und auch die Mitgliedstaaten im Rat sich auf eine mehrjährige stabile Zuständigkeit eingestellt hatten (hier, Art. 9a).

Dagegen möchte die Kommission die Regel beibehalten, dass die Asylzuständigkeit übergeht, wenn die Überstellung binnen sechs Monaten scheitert. Ganz konkret heißt dies, dass die Bundesrepublik ganz offiziell für eine Person zuständig wird, die irregulär einreist, während in Italien noch ein Asylverfahren läuft. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine Überstellung nicht binnen sechs Monaten vollzogen wird (was in der Praxis die Regel ist). Eine Ausnahme soll – offenbar dauerhaft – künftig nur dann gelten, wenn eine Person „untertaucht“ bzw. „flüchtig ist“ (absconds). Dies ist im Einklang mit der EuGH-Judikatur freilich dann der Fall, wenn jemand sich den Behörden bewusst entzieht (hier, Rn. 52-65). Der bloße Umstand, dass jemand bei einer Abschiebung einmalig nicht zu Hause angetroffen wurde oder im offenen Kirchenasyl lebt, würde mithin den Zuständigkeitsübergang nicht verhindern. Die nach Willen der Kommission nun offiziell illegale Sekundärmigration würde gleichsam nachträglich legalisiert.

Für ein Szenario möchte die Kommission doch eine stabile Zuständigkeit einführen, nämlich für international Schutzberechtigte. Letztere sind von der Dublin III-Verordnung bisher nicht umfasst, was in der Praxis dazu führt, dass die Rücküberstellung noch schlechter funktioniert als bei Personen, die sich andernorts noch im Asylverfahren befinden. Stattdessen gibt es in Deutschland ganz regulär ein zweites Asylverfahren, das nach der jüngeren EuGH-Rechtsprechung jedenfalls nicht systematisch unter Verweis auf die anderweitige Anerkennung als unzulässig abgelehnt werden darf. Dies möchte die Kommission ändern. Die Zuständigkeitsregeln sollen künftig auch für international Schutzberechtigte sowie Personen, die umgesiedelt worden waren, gelten (Art. 26 Abs. 1 Buchst. c, d). Nach einer anderweitigen Anerkennung gibt es keine zweite materielle Prüfung mehr (Art. 36 Abs. 2 des beibehaltenen Vorschlags für eine Verfahrensverordnung) – und auch einen Zuständigkeitsübergang soll es nicht geben (Art. 27 Abs. 1 UAbs. 2 der künftigen Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung).

Das sich hieraus ergebende Gesamtbild ist durchaus ambivalent und nicht frei von Widersprüchen. So würden etwa Syrer, die einen griechischen Flüchtlingsstatus besitzen, in Deutschland kein zweites Asylverfahren erhalten. Die griechische Zuständigkeit wäre auf Dauer gestellt. Etwas anderes würde für einen Afghanen gelten, der illegal weiterreist, während das griechische Asylverfahren noch läuft – und auch Nigerianerinnen mit einem italienischen „humanitären Status“, der kürzlich wieder eingeführt wurde und ungefähr den deutschen Abschiebungshindernissen entspricht, würden weiterhin ein zweites Asylverfahren in Deutschland erhalten, wenn die Überstellung scheitert. Dasselbe scheint sogar für diejenigen zu gelten, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Selbst wenn der zweite Antrag nach dem Zuständigkeitsübergang in Deutschland scheitert, griffen gleichwohl die regulären Regeln für abgelehnte Asylbewerber mit Rechtsschutzoption, Duldungserteilung, Sozialleistungszugang, et cetera.

Es steht zu erwarten, dass die Frage der „stabilen“ oder gar „ewigen“ Zuständigkeit politisch erneut diskutiert werden wird. So forderte die deutsche Ratspräsidentschaft die anderen Mitgliedstaaten im Nachklang zur Videokonferenz der Innenminister am 18. Oktober in einem Arbeitspapier, das ich von Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten informell erhielt, dazu auf, sich zu folgender Frage zu äußern: „In this context, it is also necessary to discuss ways to prevent unauthorised movements, such as stable responsibilities and unbureaucratic transfers, prevention of multiple applications, and in principle granting reception benefits only in the Member State responsible“ (Ratsdok. WK 10621/2020 INIT).

Fazit: den Teufelskreis durchbrechen

Traditionell verfolgt die EU-Kommission eine politische Kommunikationsstrategie, die Win-win-Szenarien akzentuiert. Ganz anders beim Asyl- und Migrationspakt. Ganz offen prognostizierte Kommissarin Johansson: „Es wird keinen Mitgliedstaat geben, der sagt, dass der Vorschlag perfekt sei.“ Die zurückhaltende Reaktion der Südstaaten auf den schwachen Solidaritätsmechanismus und die Kritik aus dem Norden an der fehlenden Härte gegenüber der Sekundärmigration bestätigten dies. Ebenso richtig könnte Johansson freilich in der Prognose liegen, dass der Vorschlag als „ausgeglichen“ wahrgenommen wird, weil alle gleichermaßen unzufrieden sind – und sich pragmatisch bereitfinden: „Lasst uns daran arbeiten.“

Einmal angenommen, die Vorschläge würden ohne wesentliche Modifikationen angenommen: Wäre die tatsächliche Situation mittelfristig zufriedenstellend? Ich bezweifle, dass speziell die Spannungen zwischen Süd- und Nordstaaten aufgelöst würden. Einerseits bleibt der Solidaritätsmechanismus schwach und verlangt eine quasi-permanente Aushandlung der jeweiligen Beiträge, die den gesetzgeberischen Kompromiss um den Preis erkaufen, dass es dauerhafte Streitigkeiten gibt. Andererseits vollzieht das neue Asylpaket keinen Strategiewechsel bei der Sekundärmigration, die ebenso wie bisher fortexistieren dürfte.

Das Ergebnis könnte ein Teufelskreis an Schuldzuweisungen sein, die – ganz ähnlich wie bisher – die fehlende Solidarität und die fortdauernde Sekundärmigration gegeneinander aufrechnen. Anstatt gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, würde das zwischenstaatliche Misstrauen gestärkt. Das Ergebnis könnte die Verständigung auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner sein, der darauf hinwirkt, dass von vornherein möglichst wenig Asylbewerber nach Europa kommen, um sich vertrackte Debatten über Solidarität und Sekundärmigration möglichst zu ersparen. Für jeden, der dieses Ergebnis nicht will, kann die Lehre nur heißen: mehr Solidarität und weniger Sekundärmigration sind kein Gegensatz, sondern können durch positive Anreize und negative Sanktionen miteinander verbunden werden.

Eine englische Fassung des Beitrags ist auf dem EU Immigration and Asylum Law Blog des Odysseus-Netzwerks erschienen, für den Daniel Thym derzeit eine englischsprachige „Special Collection“ an Blogbeiträgen zum Migration- und Asylpaket der Europäischen Kommission editiert, die schrittweise veröffentlicht werden.


One Comment

  1. Thomas Hohlfeld Mon 9 Nov 2020 at 10:31 - Reply

    Sehr geehrter Herr Thym,

    in Ihrem Text findet sich die falsche Behauptung, dass Verwaltungsgerichte derzeit fünf Monate benötigen würden, um über einen einstweiligen Rechtsschutzantrag gegen eine Dublin-Unzulässigkeitsentscheidung zu entscheiden. Das sollte richtig gestellt werden.
    Der von Ihnen verlinkten Drucksache ist zu entnehmen, dass diese Eil-Gerichtsverfahren nach §80 V VwGO im Jahr 2019 knapp 66 Tagen dauerten, das sind gut zwei Monate (und nicht fünf). Ein behördliches Dublin-Verfahren beim BAMF dauerte 2019 sogar nur 1,5 Monate (BT-Drs. 19/23630, Frage 3), d.h. ein Dublin-Verfahren dauerte 2019 insgesamt, inklusive gerichtlicher Überprüfung, im Durchschnitt 3,5 Monate (nur in Fällen, in denen Rechtsmittel eingelegt wurden, sonst 1,5 Monate).

    Mich wundert, dass Sie erneut die falsche Angabe verwandt haben, obwohl ich Sie vor einiger Zeit hierauf hingewiesen hatte. Könnte es daran liegen, dass die korrekten Zahlen nicht recht zu der Argumentation passen wollen, wonach es “vor diesem Hintergrund” “evident” sei, warum die Kommission die Verfahren merklich straffen wolle?

    Dass das gesamte Dublin-System “ineffizient” ist, stimmt dessen ungeachtet, aber das hat m.E. ganz andere Gründe, vor allem die völlig einseitige Zuständigkeitszuweisung an die Ersteinreiseländer und daraus folgende Probleme, an der der Vorschlag der EU-Kommission im Kern aber gerade nichts ändert.

    Mit freundlichen Grüßen
    Thomas Hohlfeld

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