Wissenschaftsfreiheit in den Fesseln des Strafprozessrechts?
Informantenschutz in der empirischen Forschung
Perspektiven(wechsel)
Reiben sich nur Wissenschaftler*innen (und seien es solche des Rechts) verwundert die Augen, wenn Strafverfolgungsbehörden Forschungsunterlagen beschlagnahmen? Es wäre wünschenswert, dass auch inzwischen in der Justiz tätige Akademiker*innen nicht vergäßen, welcher Stellenwert der Forschungsfreiheit gebührt (auch wenn ihr – hier: juristisches – Studium von der Forschung allzu weit entfernt angesiedelt gewesen sein mag).
Will ein Tatverdächtiger nicht mit Polizei und Justiz reden, ist das hinzunehmen (nemo tenetur se ipsum accusare). Stattdessen – oder auch zusätzlich bzw. ergänzend – auf andere Quellen für entsprechende Gesprächsinhalte zuzugreifen, ist grundsätzlich rechtmäßig, es sei denn, dem stehen wiederum Beweiserhebungs- oder -verwertungsverbote entgegen. Das können z.B. Geheimhaltungsvorschriften sein oder auch der sog. Informantenschutz im Medienbereich.
Warum die Münchener Staatsanwaltschaft Anfang 2020 meinte, auf Unterlagen aus einem Forschungsprojekt der Universität Erlangen (Institut für Psychologie) zugreifen zu müssen, um mehr über einen in der JVA Bamberg Inhaftierten zu erfahren, blieb unklar – erbracht hat es offenbar nichts (der Betroffene wurde inzwischen aus der Haft entlassen und ist unbekannten Aufenthalts), oder doch jedenfalls nichts im Sinne der Strafverfolgung wegen des Anfangsverdacht der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung: Erbracht hat es allerdings als Kollateralschaden einen wissenschaftspolitischen Flurschaden auf dem Feld der Forschungsfreiheit.
Hier soll es denn auch nicht um die Rechte eines Beschuldigten gehen, der sich – sollte es noch einmal darauf ankommen – ggf. auf die Nichtverwertbarkeit von aus den beschlagnahmten Unterlagen folgenden Erkenntnissen berufen könnte. Es geht vielmehr um die Rechte der an jenem Forschungsprojekt Beteiligten, allen voran Prof. Dr. Mark Stemmler, im Besonderen und mittelbar um die Rechte empirisch Forschender im Allgemeinen.((vgl. auch Spiegel Online 28.08.2020))
Möglicherweise ist bereits die Perspektive entscheidend: Wer in dem kriminalpolizeilichen resp. strafprozessualen Zugriff auf Forschungsunterlagen kein grundsätzliches – und im Lichte des Art. 5 Abs. 3 GG grundgesetzliches – Problem sieht, wird nicht nach einer Rechtsgrundlage suchen, die solches ausnahmsweise erlaubt, sondern – wenn überhaupt – nach einer solchen, die dies ausnahmsweise verbietet.
Unter dieser Prämisse fanden weder die Staatsanwaltschaft noch das Oberlandesgericht (OLG) in München((Beschluss des OLG München vom 23.1.2020, Az. OGs 19/20 in: NK Neue Kriminalpolitik, Seite 251 – 253, NK, Jahrgang 32 (2020), Heft 3, ISSN print: 0934-9200, ISSN online: 0934-9200, https://doi.org/10.5771/0934-9200-2020-3-251)) in der Strafprozessordnung (StPO) ein Verbot der Beschlagnahme: Insbesondere sei § 97 StPO nicht einschlägig, da dem Forschenden weder ein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO zustehe (dass die Interviewpartner ihm bzw. seiner Mitarbeiterin als behandelnde Psychologen ihre Informationen anvertraut hätten, wäre abwegig, stand aber auch nie ernsthaft zur Debatte) noch aus Nr. 5: Er sei keine Person, „die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken, Rundfunksendungen, Filmberichten oder der Unterrichtung oder Meinungsbildung dienenden Informations- und Kommunikationsdiensten berufsmäßig“ mitwirke, weshalb er sich auch nicht auf den entsprechenden Informantenschutz (aaO S. 2) berufen könne: Er dürfe demgemäß – jenen inhaftierten Interviewpartner betreffend – nicht das Zeugnis verweigern über (so die StPO in einer komplexen Klausel) „die Person des Verfassers oder Einsenders von Beiträgen und Unterlagen oder des sonstigen Informanten sowie die ihm im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemachte Mitteilungen über deren Inhalt sowie über den Inhalt selbst erarbeiteter Materialien und den Gegenstand berufsbezogener Wahrnehmungen“. Und mangels Informantenschutzrecht eben – so die Münchener Jurist*innen – auch kein Beschlagnahmeverbot aus § 97 Abs. 5 StPO.
Forschende als Medienvertreter?
Die Frage nach einem etwaigen Informantenschutz (und ggf. dessen Reichweite) wird sich eher wenigen Forschenden überhaupt stellen – erst recht werden sie sich wohl nicht als Medienvertreter*innen verstehen, die entsprechend geschützte Geheimhaltungsinteressen geltend machen (könnten). Gerade der vorliegende Fall macht jedoch recht anschaulich, dass es dabei um den Schutz der Wissenschaftsfreiheit im Allgemeinen und den der qualitativen empirischen Forschung im Besonderen geht:
Auch wenn empirisch Forschende im Hinblick auf die von Privatpersonen erlangten Informationen (hier: aus einem Interview im Rahmen eines qualitativen Forschungsprojekts) selbstverständlich nicht der strengen Schweigepflicht des § 203 des Strafgesetzbuchs (StGB) unterliegen, wie dies etwa im Arzt-Patienten- oder Anwalt-Mandanten-Verhältnis der Fall wäre, so sind sie in puncto Kooperation doch auf Vertraulichkeit angewiesen: Warum sollte sich eine potenzielle Interviewperson ihnen anvertrauen bzw. ihnen persönliche Informationen anvertrauen, wenn sie sich nicht sicher sein könnte, ob diese Informationen in (aus ihrer schützenswerten Sicht) „falsche Hände“ geraten? Und wenn sie sich auf entsprechende Zusicherungen (wie es sie auch im vorliegenden Fall gab) nicht verlassen könnten: nicht, weil die Forschenden sich nicht dran halten, sondern weil andere, insbesondere staatliche Stellen, zwangsweise auf die Informationen zugreifen?
Bestimmte Forschungsvorhaben, das macht gerade der vorliegende Fall deutlich, wären unter solchen Bedingungen der Datenunsicherheit kaum mehr möglich. „So what“, könnte man sagen, da stößt die Forschungsfreiheit eben an ihre Grenzen! Nur: die Wissenschaftsfreiheit wird in der Verfassung (Art. 5 Abs. 3 GG) zunächst einmal grenzen- bzw. schrankenlos gewährleistet, so dass allenfalls verfassungsimmanente Schranken eingreifen könnten.
Funktionsfähigkeiten der Strafrechtspflege
Ist hier die sog. „Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“ eine solche immanente Schranke, geeignet die Wissenschaftsfreiheit – wie geschehen – zu begrenzen? Dazu bedürfte es zuvörderst einer gesetzlichen und ihrerseits verfassungsgemäßen Eingriffsgrundlage:
Diese mag man – wie die Münchener Justiz – in den §§ 103 ff., 94 ff. StPO nur dann finden, wenn man das Beschlagnahmeverbot des §§ 97 iVm 53 StPO (s.o.) nicht für einschlägig erachtet. Solches geben jedoch weder der Wortlaut noch die Gesetzgebungsmaterialien her.((vgl. auch den Beitrag Sabine Gless, Beweisverbote zum Schutz empirischer Sozialforschung – Zur Beschlagnahmefreiheit von Forschungsdaten in: NK Neue Kriminalpolitik, Seite 275 – 292, NK, Jahrgang 32 (2020), Heft 3, ISSN print: 0934-9200, ISSN online: 0934-9200, https://doi.org/10.5771/0934-9200-2020-3-275. Ein frei zugängliche Version findet sich hier.)) Das Mindeste wäre gewesen, die genannten Vorschriften in ihrem Zusammenhang verfassungskonform auszulegen. Das OLG München beließ es jedoch abschließend bei einer Abwägung unter Verhältnismäßigkeitsaspekten, die zu Gunsten der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege ausfiel:
Diese Abwägung ging jedoch bereits von falschen Maßstäben aus, indem einerseits auf die „Schwere der Tat und die Stärke des Tatverdachts“ abgestellt wurde, während man andererseits die Forschungsfreiheit als „lediglich unerheblich beeinträchtigt“ erachtete. Dabei wurde jedoch nicht nur die vermeintliche „Stärke“ des Tatverdachts deutlich überhöht: Konkrete Anhaltspunkte dafür, auf diesem Wege relevante Beweismittel zu finden, gab es offenbar nicht, eher die bloße Hoffnung, irgendetwas zu finden, was die Ermittlungen vielleicht doch noch voranbringen könnte. Auch wurde das Maß der Beeinträchtigung der Forschungsfreiheit sachwidrig verkürzt: Es ging eben nicht ‚nur‘ um den konkreten Eingriff durch die Durchsuchung und die Beschlagnahme von Unterlagen, sondern um die mit der Fernwirkung jenes Eingriffs verursachte Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit, übrigens nicht nur der des Beschwerdeführers, sondern auch der anderer vergleichbar forschender Wissenschaftler*innen. Die Funktionsfähigkeit der ‚Forschungspflege‘ geriet aus dem Blick.
Prinzipien der Wissenschaftlichkeit
Demgegenüber das wissenschaftliche Publikationsgebot in Stellung zu bringen (vgl. OLG München), führt – absichtlich? – in die Irre: Das Publikationsgebot (einmal abgesehen davon, dass es gar nicht justiziabel wäre: der einer Entscheidung des EGMR v. 03.04.2012 zugrunde liegende Sachverhalt ist nicht vergleichbar) gebietet ggf. die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, nicht hingegen die Offenlegung von Forschungsunterlagen, und schon gar nicht solcher Dokumente, die (noch) nicht anonymisiert wurden, wie vorliegend. Es geht eben nicht darum, dass Forschungsdaten innerhalb des Wissenschaftsbetriebs ohnehin nicht „beseitigt“ werden dürften (so aber das OLG), weil dieser – unstreitig – „von Transparenz, Dokumentation und Nachvollziehbarkeit geprägt“ sei, sondern um die Einhaltung des Datenschutzes: ebenfalls ein „Grundsatz der guten wissenschaftlichen Praxis“.
So oder so wäre aus einem solchen Publikationsgebot keine Legitimation der Beschlagnahme nicht anonymisierter Forschungsunterlagen abzuleiten. Dass sich die Strafverfolgungsbehörden ihrerseits – zumal selektiv – auf Prinzipien der Wissenschaftlichkeit berufen, mutet (gelinde gesagt) befremdlich an.
Klärungsbedarf
Dass die Frage, ob die einschlägigen Vorschriften der StPO – so wie sie von der Münchener Justiz ausgelegt wurden – verfassungsgemäß sind, von „rein akademischer Natur“ sei (so der zuständige Oberstaatsanwalt der dortigen Generalstaatsanwaltschaft), ist vorliegend nicht nur von beeindruckender Doppeldeutigkeit, sondern hinterlässt sowohl wissenschaftspolitisch als auch verfassungsrechtlich Empörung. Und auch wenn es sich um einen „extrem seltenen Einzelfall“ gehandelt habe ((So Oberstaatanwalt Dr. Ruhland auf Medienanfrage.)), macht es das nicht besser. Der von diesem „Einzelfall“ Betroffene, Prof. Dr. Mark Stemmler, hat jedenfalls – vertreten durch den Autor dieser Zeilen – Verfassungsbeschwerde eingelegt.((Siehe zum Beispiel die Meldung auf SZ.de vom 09.09.2020.)) Ob, wann und wie sich das BVerfG dazu äußert, steht dahin – darauf kann die Wissenschaft nicht warten: Der Gesetzgeber ist gefragt!
Sind die Ausführungen zur Vorlagepflicht der Ermittlungsrichterin, die in der Beschwerdeentscheidung unter B 2 stehen ( siehe pdf beim Artikel von Walter u.a.) auch von Ihnen?