14 December 2020

An einen, der vorüberfuhr

Es gibt einen eigenen Wissenschaftszweig, der sich mit dem Spazierengehen beschäftigt, die Promenadologie. Es handelt sich dabei um eine kulturwissenschaftliche Methode zur Erkundung von Räumen nach dem Modell des Flanierens. Der Flaneur((In jüngster Zeit wurde zunehmend darauf aufmerksam gemacht, dass in der Kulturgeschichte des Flanieren das Verhältnis zwischen dem Beobachtenden und der Beobachteten vorbestimmt ist; eine queerfeministische Intervention in die Tradition des Flaneurs bietet das Flexen, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Verhältnis zwischen Beobachtenden und Beobachteten, zwischen dem Flaneur und der Passantin, aufzubrechen und dadurch zur Diversität des öffentlichen Raums beizutragen, siehe hier.)) beobachtet den öffentlichen Raum und macht den Alltag auf den Straßen zum Gegenstand seiner Reflexionen, objets trouvés zu den Gegenständen seiner Kunst. Dieser Tage kann der Flaneur neben bunten Mund-Nasen-Schutz-Variationen eine weitere Neuheit im öffentlichen Raum beobachten, sogenannte Personal Delivery Devices.

Personal Delivery Devices (PDD) sind kleine GPS-gesteuerte Roboter mit eingebauter Kamera, die beispielsweise Einkäufe nach Hause liefern können. Kund*innen können über eine App die Bestellung aufgeben, im Laden wird der Roboter entsprechend befüllt und liefert den Einkauf dann an der Haustür ab. Auf der Straße kann das PDD autonom mit Schrittgeschwindigkeit durch die Stadt fahren.

In Tallinn gehören die Roboter bereits seit Jahren zum Straßenbild und werden als Beispiel der Modernität und Digitalisierung der baltischen Hauptstadt gefeiert. In verschiedenen US-amerikanischen Staaten wurde die Zulassung der PDD aufgrund der Corona-Pandemie befördert, schließlich ermöglichen die Roboter ein kontaktloses Einkaufserlebnis. In Deutschland gibt es seit einigen Jahren ein Pilotprojekt in Hamburg, das die kleinen elektronischen Helfer auf den Straßen testet. Rechtlich sind sie in Deutschland wohl als Kraftfahrzeuge einzuordnen, die, solange sie unter 6 km/h fahren, den Gehweg benutzen dürfen. In einigen US-amerikanischen Bundesstaaten wie Pennsylvania werden die Roboter, die in den USA mancherorts auf Gehwegen bis zu 20 km/h fahren dürfen, sogar als „pedestrian“, als „Fußgänger“ eingeordnet.

In Pandemiezeiten, in denen Kontaktlosigkeit zum Teil mit Solidarität gleichgesetzt wird, können Lieferroboter zu High-Tech-Helden des Alltags aufsteigen, obwohl sie Arbeitsplätze gefährden und zahlreiche datenschutz- und haftungsrechtliche Fragen aufwerfen. Aber auch in einer post-pandemischen Welt könnten PDD eine Erleichterung für Menschen darstellen, die aufgrund ihres Alters oder einer Behinderung in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Und trotzdem fragt sich der Flaneur womöglich, wenn er bald nicht mehr die Vorübergehende, sondern kleine weiße Boxen auf Rädern vorüberfahren sehen kann: Wie wirkt es sich auf die Straße und den öffentlichen Raum aus, wenn Roboter als Fußgänger behandelt bzw. auf Gehwegen zugelassen werden?

Idealisierung des öffentlichen Raums

Bereits eine solche Frage ruft ein Bild des öffentlichen Raums auf, das Diskrepanzen vermittelt. Es gibt einerseits eine Deutung des öffentlichen Raums, die politisch wie rechtlich aufgeladen ist. Das Bundesverfassungsgericht verweist in der Fraport-Entscheidung prominent auf die Idee eines public forums, das an die griechische Agora erinnert, an den Marktplatz, auf dem sich die freien Bürger Athens versammeln und über politische Fragen deliberieren. Diese politische Dimension wird über den engen Versammlungsbegriff in der Rechtsprechung privilegiert. Auch straßenrechtlich wird dem Gemeingebrauch der Straße über den bloßen Verkehr hinaus eine kommunikative Funktion zugestanden; der Gehweg heißt ja nicht umsonst auch Bürgersteig. Darüber hinaus weist der öffentliche Raum eine gesellschaftliche und kulturelle Seite auf. Cineast*innen mögen vielleicht an Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo in Außer Atem denken, Literat*innen an Prousts Promenade in Balbec: Straßen und Gehwege sind Orte, an denen man sich begegnen und sich sogar verlieben kann, an denen man Bekannte und Freund*innen trifft; Orte, an denen man sich zu Hause fühlt, mit denen man ein wichtiges Lebensereignis oder einen langjährigen Alltag verbindet; Orte, an denen interagiert wird und in denen man in Erscheinung treten (Arendt) kann.

Innenstädte als Nicht-Orte

Dem tritt andererseits eine Realität gegenüber, die diesem Bild des öffentlichen Raums kaum gerecht werden kann. Innenstädte sind zunehmend geprägt von dem, was Marc Augé als Nicht-Ort bezeichnet hat. Statt den oben beschriebenen „anthropologischen Orten“, also Orten, die beziehungsgenerierend, historisch gewachsen und identitätsstiftend wirken, sehen wir uns im urbanen und sub-urbanen Raum Einkaufspassagen, Shopping Malls, Durchgangshallen in anonymisierten Transitbereichen, an Flughäfen und Bahnhöfen und ähnlich eindimensional genutzten Flächen gegenüber. Historisch gewachsene Orte werden von diesen kommerzialisierten Flächen abgegrenzt und zunehmend als Erinnerungsstätten mit einem musealem Charakter markiert und so als touristische Sehenswürdigkeit der alltäglichen gesellschaftlichen Nutzung entzogen (prototypisches Beispiel aus jüngerer Zeit: die Frankfurter „neue Altstadt“): „Der Nicht-Ort ist das Gegenteil der Utopie; er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft“ (Augé).

Nicht-Orte korrespondieren mit gleichsam mono-funktionalen Personen; der Mensch am Nicht-Ort wird auf seine Eigenschaft als Kunde oder Passagier reduziert, er kauft ein oder verreist, er ist, was er tut. Der Lieferroboter wirkt in dieser Szene wie das passende Pendant zu dieser Diagnose: Er erfüllt nur eine Funktion, er liefert aus und nutzt zu diesem rein kommerziellen Zweck die Straße. Genauso wie die Spaziergängerin aus einem geometrisch angelegten Weg eine Flaniermeile machen kann, so macht der Lieferroboter aus dem Gehweg, gleichsam als „Nicht-Spaziergänger“ par excellence, eine reine Verkehrsfläche.

Gemeinschaftsbildende Dimension der Grundrechte?

Sophie Schönberger hat sich in ihrem Referat auf der Staatsrechtslehrer-Tagung 2019 im Anschluss an Augés Überlegung dafür ausgesprochen, die soziale und gesellschaftliche, nicht nur die politische Dimension des öffentlichen Raums in ihrer identitäts- und beziehungsstiftenden Funktion rechtlich stärker in den Blick zu nehmen. Sie schlägt vor, die Grundrechte um eine „Dimension der Gemeinschaftsbildung“ zu erweitern. Eine solche Dimension könnte womöglich dazu herangezogen werden um anthropologische Orte als Orte der Gemeinschaftsbildung verfassungsrechtlich zu schützen.

Wodurch müsste sich so ein Ort auszeichnen? Sicherlich ist es keine Lösung, in anachronistischer Manier von Marktplätzen und public forums vergangener Zeiten zu träumen und technologische Entwicklungen wie PDD zu ignorieren. Die kleinen Lieferroboter stehen wohl eher stellvertretend für ein dahinterstehendes Phänomen. So ließe es sich zum einen beispielsweise mit einer „gemeinschaftsbildenden“ Dimension klarer als verfassungsrechtliches Problem formulieren, dass mobilitätseingeschränkte Personen auf behindertengerechte Wege angewiesen sind, um am öffentlichen Leben teilzuhaben, statt sie durch Liefer-Roboter weiter zu isolieren. Die andauernde Diskussion über die Diversifizierung des öffentlichen Raums könnte ebenfalls an eine solche Grundrechtsfunktion angeknüpft werden. Wie der öffentliche Raum gerecht und divers gestaltet werden kann, wäre dann vielleicht nicht nur eine Frage des Könnens, sondern auch eine des Sollens. In planungsrechtlichen Fragen, bei der Nutzung von Flächen könnte eine gemeinschaftsbildende Dimension Argumente stärken, die sich gegen weitere Kommerzialisierung und Musealisierung öffentlicher Räume wenden und für stärker teilhabeorientierte, diversitätsfördernde und beziehungsstiftende Konzepte plädieren.

Schönberger stellt zu Recht die Frage, ob das Recht die soziale Gemeinschaft, die ihm eigentlich vorausgeht, in diesem Sinne überhaupt schützen bzw. gar konstruieren kann. Wenn die politische Gemeinschaft dem oben beschriebenen Bild des öffentlichen Raums gerecht werden will, bleibt ihr womöglich nichts anderes übrig. Auch wenn andere Probleme derzeit Priorität haben: Der Effekt, den die Pandemie und ihre Kontaktbeschränkungen gerade auf das öffentliche Leben haben, sollte in seiner Zäsurwirkung genutzt werden, um der Gestaltung des öffentlichen Raums – in seiner politischen und seiner gesellschaftlichen – Funktion mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dann hätte der öffentliche Raum sowohl der Promenadologie als auch den kleinen High-Tech-Helden etwas zu bieten, wenn diese zukünftig die Straßen bevölkern.


One Comment

  1. Paula Newmann Wed 16 Dec 2020 at 10:57 - Reply

    Das sind alles sehr interessante und wichtige Punkte, vielen Dank für diesen Beitrag.

    Mir ist nur nicht klar geworden, was die These des Beitrags ist?
    Zunächst wird das Beispiel der PDD nicht weiter eingeordnet. Welche Konsequenzen hätte denn eine rechtliche Qualifikation als Fußgänger? Oder als digitaler Flaneur? Zur Frage, ob PDDs in Coronazeiten für die Belieferung von Risikogruppen eingesetzt werden, gibt es leider keinen Nachweis. Wird dies konkret diskutiert? Dann erfolgt ein abrupter Übergang zur Grundrechtsdimension. Was folgt aus einer Anerkennung der Gemeinschaftsdimension der Grundrechte? Und was hat diese mit den PDDs zu tun? Ändert sich die Gemeinschaftsdimension durch technische Objekte im Öffentlichen Raum? Verhindert die Realität der Nicht-Orte eine verfassungsrechtliche Aufwertung? Was bedeutet die Zäsurwirkung der Pandemie auf das öffentliche Leben? Inwieweit beeinflusst dies den öffentlichen Raum?
    Das kann natürlich nicht alles in einem Blogbeitrag behandelt werden, aber es steht alles etwas unverbunden nebeneinander.

    Zum öffentlichen Raum hat Angelika Siehr auf 770 Seiten interdisziplinäre Aspekte, rechtliche Funktionen und Parameter des Grundrechtsschutzes ausgeleuchtet, ein Hinweis erscheint mir an dieser Stelle fair (Siehr, Das Recht am Öffentlichen Raum, Tübingen 2016).

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