Grenzen der Demokratie
EU-Europa, Grenzgewalt, Rassismus und postkoloniale Theorie
EU-Europa erfindet sich von seinen Grenzen her neu. Gut fünf Jahre nach den historischen Ereignissen 2015, die wir als „langen Sommer der Migration“ bezeichneten, schottet sich EU-Europa gegen einen Teil der weltweiten Mobilitäten radikal und zum Teil äußerst brutal ab. Die Grenzgewalt der letzten Jahre untergräbt in erheblichem Maße im ganzen Südosten Europas und weit darüber hinaus die jungen und noch zarten Demokratisierungsbewegungen in den Gesellschaften. Die Grenze entpuppt sich in verschärfter Weise nicht nur als Neuziehung des postkolonialen Europas, sondern ganz grundlegend als Grenze der Demokratie.
Europäische Grenzgewalt
Moria, das größte Flüchtlingslager Europas, ist nach 200 kleineren Bränden seit seines Bestehens 2016 und unzähligen Appellen von Menschenrechtsorganisationen und Institutionen wie der griechischen Gesundheitsbehörde im September 2020 gänzlich abgebrannt und das neu errichtete Lager ist schlimmer als das alte.
Im zentralen Mittelmeer ereignen sich wöchentlich weiter Schiffsunglücke und das Tauziehen um die Rettung, Anlandung und Versorgung der Flüchtenden fängt jedes Mal wieder von vorne an. Die Route hat sich – wie vorausgesagt – in den Westen verschoben. Es wird wieder vermehrt vor den kanarischen Inseln und im Ärmelkanal gestorben.
Noch 2015/2016 wurde die Balkanroute durch das Zutun von Hilfsorganisationen, Zivilgesellschaft und beteiligten Regierungen zu einem „humanitären „Korridor“, der nachweislich auch Schwächeren die Passage ermöglichte. Mehrfache Zaunbauten und vor allem systematische Push-Back-Praktiken (Rückschiebung) und Gewaltanwendungen haben sie mittlerweile zu einem hyperprekären Raum der Gewalt und des Wartens gemacht (vgl. Hameršak, Hess et al. 2020).
Die Transformationen fordert Grenzforschende heraus. Einerseits durch ihr Tempo, anderseits sprachlich. Unsere Sprache hat Schwierigkeiten, die Gewaltförmigkeit und Illiberalität vieler Praktiken und Politiken noch adäquat zu erfassen. Wir sind aufgefordert, wieder aufs Neue Europa und die EU aus einer postkolonialen, rassismustheoretischen Perspektive zu betrachten, wie auch Gewalt im Zusammenhang mit unseren liberalen Gesellschaften intensiver zu theoretisieren. Dabei ist es zu einfach, das europäische Grenzregime als rassistisch zu bezeichnen im Sinne eines Kontinuitätspostulats kolonial-rassistischer Grenzziehungspraktiken gegenüber dem Rest. Vielmehr lassen sich in den letzten 20 Jahren durchaus unterschiedliche Konjunkturen und hegemoniale Verschiebungen der europäischen Grenzpolitiken beobachten, die auch den Sommer der Migration 2015 möglich gemacht haben.
Aufgrund dieser Verschiebungen scheint es mittlerweile angemessen, von einer Nekropolitisierung des Grenzregimes zu sprechen und neu Grenze, race und Rassismus zusammenzudenken. Achille Mbembe entwickelte sein Konzept der Nekropolitik aufbauend auf Franz Fanon und Foucaults spezifischer Rassismusanalytik mit Blick auf die Ermöglichung der Sklaverei und der sie ermöglichenden Gewalt (‘Necropolitics‘, Public Culture 15(1) 2003, pp 11-40). Dabei erfolgt eine Zäsur zwischen den Leben, die leben dürfen und den leben, die sterben können beziehungsweise müssen. In dem Konzept geht es nicht um das aktive Töten, sondern um die Ermöglichung derjenigen Bedingungen, die das Sterben-lassen und todbringende Gewalt möglich machen und anhand derer beides als legitim erachtet wird. Aussagekräftig ist in diesem Kontext auch das unterschiedliche Bertrauertwerden. Wessen Tod rührt, ist ein Skandal und erfordert drastisches Handeln.
Gleichzeitig ist es möglich, dass dem Sterben im Mittelmeer nicht nur zugesehen wird. Das Sterben-lassen scheint vielmehr, wie die zunehmenden Push Back-Praktiken in der Ägäis mit Unterstützung durch Frontex zeigen, Teil einer akzeptierten „Grenzsicherungs“-Praxis zu sein.
Wie kann es sein, dass trotz aller erdrückenden Beweise das Spektakel der Gewalt weitergeht?
Europa als postkoloniales Projekt
Zudem ist Europa als postkolonialem Projekt race und die damit einhergehende Gewalt als organizing principle eingeschrieben. Historische Forschungen zeigen gut, wie das rassistische Wissen und ein völkisches Nationsverständnis Pate standen bei der deutschen Ausländerpolitik und Kontinuitätslinien gerade im deutschen Staatsbürgerschaftsrecht bis heute zu erkennen sind.
Einiges deutet darauf hin, dass auch dem internationalen Flüchtlingsregime und insbesondere auch dem europäischen und deutschen Asylrecht rassialisierte Komponenten zu Grunde liegen. Ausdruck findet das nicht zuletzt darin, dass die Genfer Flüchtlingskonvention zunächst mit Blick auf den Schutz europäischer Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg und zu Zeiten der Blockkonfrontation 1951 formuliert wurde. Erst das Zusatzprotokoll von 1967 öffnete ihren Geltungsbereich auch in Richtung Globaler Süden.
Von Anfang an waren damit sehr unterschiedlichen Figuren, Diskurse und Verrechtlichungen und Schutzregime eingeschrieben (so Chimni 1998): einmal die Figur des politisch Verfolgten im Sinne des individuellen Rechts auf Asyl – wobei dieser in der Vorstellungswelt weiß, männlich und zunächst auch anti-kommunistisch ist – und das andere Mal der Massenbegriff des Flüchtlings, einhergehend mit den Bildregimen von Flüchtlingslagern, Massen auf Routen und Booten.
So kippte auch in Deutschland Ende der 1980er Jahren der Umgang mit Geflüchteten. Der Topos des „Asylanten“ begann den legitimen Anspruch auf das Genfer-Schutzregime grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, als immer mehr Geflüchteten selbsttätig aus dem Globalen Süden in Deutschland eintrafen. Mit dem Ende der Blockkonfrontation und dem ideologischen Nutzen des internationalen Flüchtlingsschutzes in diesem Zusammenhang änderte sich auch der Modus des Asylregimes grundlegend. Weg von einer Politik der Exilgewährung, hin zu einem „non-entree regime“ mit einem immer stärkeren Fokus auf Abschiebungen. Für den globalen Süden wurde dagegen das individuelle Recht auf Asyl nie ausbuchstabiert. Kennzeichnend ist hier vielmehr eine Grenzpolitik, die für die Flüchtenden zu einem Leben ohne Rechte in Lagern unter UN-Mandat führt.
Kurz darauf konstituierte sich EU-Europa mit einem zwar postnationalen, aber nicht weniger postkolonialen Mobilitäts- und Bürgerschaftsverständnis. Ausbuchstabiert hat es dieses Verständnis in dem Konstrukt des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach Innen sowie nach Außen in der neuen Figur des sogenannten „Drittstaatlers“ und der europäischen Außengrenze mit dem damit einhergehenden sogenannten integrated border management.
Dehumanisierung, Re-Nationalisierung, Re-Militarisierung
Dieses postkoloniales Verständnis lenkt die Aufmerksamkeit auf die Phasen der intensiven Konstitution „Europas“, wie wir es als Narrativ und Machtblock verstehen. So ist das „Europa“ nicht zuletzt im Spiegel der aktiv betriebenen Unzivilisierung der Anderen entstanden. Im Namen der Zivilisation eroberte und unterwarf das koloniale Projekt und externalisierte seine Gewalt in einem Akt des Victim Blaming und der Umdrehung durch Dehumanisierung und Barbarisierung der Anderen (Goldberg (2006) `Racial Europeanization`, Ethnic and Racial Studies, 331-364).
Auch heute finden wir wieder genügend derartige diskursive Konstruktionen, die mal unverhohlener und mal etwas verklausulierter wieder von einem neuen Kampf eines christlichen weißen Europas gegen den Rest fabulieren, wobei Ungarns Präsident Orban dies zur Staatsdoktrin erhoben hat, und Überfremdungs- und Vermischungsängste à la Höcke sagbar wurden. Wie diese Stimmung vom Sachbearbeiter in deutschen Ausländerbehörden bis zum Grenzpersonal an der slowenisch, kroatisch oder griechischen Grenze als direkte persönliche Aufforderung verstanden wird, das Tor nach Europa besonders streng zu schützen, und eine frontier-Mentalität produziert, davon zeugen die täglichen Berichte aus den Grenzräumen.
So dokumentieren unzählige Zeugenbefragungen von gepush-backten Geflüchteten, dass europäisches Grenzpersonal sie als „Tiere“, als „Barbaren“, als „Nicht-würdige“ bezeichnen, und ihr grundlegendes Menschenrecht auf Unversehrtheit und ihre pure Anwesenheit auf europäischem Boden in Abrede gestellt wird. Kollegen, die entlang der neuen inner-europäischen Grenze in Slowenien, Kroatien und in Bosnien forschen, sprechen von einer animalization und von racial border work.
Die Auswertung von 500 Interviews mit Geflüchteten, die wir im Rahmen unseres EU-Forschungsprojekts RESPOND in den beteiligten 11 Ländern führen konnten, hat dabei einige Hotspots und Zusammenhänge von Grenzgewalt zu erkennen gegeben: so berichteten ALLE Geflüchteten, die über die Zentrale Mittelmeerroute kamen und insbesondere diejenigen, die über Libyen die Küste erreichten, von unvorstellbaren gewalttätigen Alltagsverhältnissen, reduziert auf den absolut jedweden Schutzes beraubten Körper, wobei hier nicht nur von bare life zu sprechen ist, sondern wir sehen wie der Körper zur Ware wird, durch möglich werdende brachiale Ausbeutung/Extraktion im Sinne von Kidnapping, Sklaverei und Leibeigenschaft. Die Geflüchteten, die über die Balkanroute kamen, berichteten vor allem von Gewalt durch Inaction, durch das Vorenthalten von Schutz als Grunderfahrung und einem Ausgeliefertsein den Naturgewalten und den Mitmenschen.
Die Brutalisierung der Grenzpraktiken geht ferner einher und wird angetrieben durch eine forcierte Re-Nationalisierung und Re-Militarisierung der Grenzräume. Der allerorten beschworene „Notstand“ und „staatliche Kontrollverlust“ hat in vielen Ländern dazu geführt, dass das Militär oftmals wieder zur Unterstützung an die Grenze gerufen wurde und mancherorts gänzlich die Infrastruktur übernommen hat. Neue militärisch-polizeilich-mafiös-faschistische Figurationen sind zu beobachten. Das beste Beispiel hierfür ist sicherlich die sogenannte Libysche Küstenwache, aber auch entlang der griechisch-türkischen oder bulgarisch-türkischen und mittlerweile auch entlang der slowenisch-kroatischen Landesgrenze lassen sich derartige Konstellationen beobachten. Dort machen Bürgerwehren und rechtsextreme Bewegung zusammen mit Grenzschützern Jagd auf Flucht-Migrant/innen. Ein weiteres Beispiel ist Österreich und Ungarn, die neue paramilitärische Grenzschutztruppen – die „Border Hunters“ in Ungarn – aus der Taufe gehoben hat. Dies führte vor allem in Südosteuropa dazu, dass zunehmend die Grenzräume zu Bereichen werden, in denen die Geltung des Rechts nicht mehr sicher ist. Die faktische Aussetzung des Asylrechts durch die griechische Regierung im Februar 2020 ist eine direkte Folge.
Die Grenze in der Mitte der Gesellschaften
Es geht um die Bewegungen, die mittlerweile wieder dominant als „illegale Migration“ bezeichnet werden. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass neben dieser Migration, die auf die kriminalisierten und gefährlichen Routen abgedrängt wird, weiterhin selektive legale Einwanderungsformate geschaffen werden. Tatsächlich streitet sich Europa über eine statistisch gesehen irrelevante Zahl von 0,005% ihrer Neuzugänge und radikalisiert sich rechts.
Es ist diese statistisch irrelevante Zahl, die die EU an den Rand der Regierbarkeit bringt. So ist schon jetzt nahezu klar, dass der von der Kommission vorgelegte sogenannte „Neue Pakt für Migration und Asyl“, der ihren eigenen Worten nach vor allem ein pragmatisches Diskussionsangebot sollte, um die politische Blockade angesichts der diversen Positionierungen der Mitgliedsländer aufzubrechen, dass selbst dieses Papier, welches eine Reihe sehr toxischer Ideen beinhaltet, von der Anti-Asyl-Allianz weiter abgelehnt wird.
Die politische Blockade der EU Institutionen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht weiter gehandelt wird und auch das Nicht-Handeln der EU-Kommission beispielsweise gegenüber den bestens dokumentierten Rechtsverletzungen (vgl. u.a. hier, hier, hier, hier und hier) seiner Mitgliedstaaten entlang der Außengrenze auch Realitäten produziert.
Insgesamt sind all diese Prozesse der Re-Nationalisierung, der Re-Materialisierung, der Entrechtlichung und Brutalisierung der Grenzräume sowie die Massenlager aufs Engste verknüpft mit nationalistischen, rassistischen und autoritären Regierungsformen und ideologischen Konstellationen, welche die Grenze in die Mitte der Gesellschaften trägt. Der Aufwind für rechte, autoritäre, anti-demokratische und rechtsextremistische Strömungen in ganz Europa ist auch als Ergebnis dieser EU-europäischen Grenzpolitik zu sehen. Er macht deutlich, dass eine Politik, die „illegale Migration“ als Gefahr identifiziert und deren Ziel es ist, Sicherheit vor dieser Gefahr zu gewährleisten am besten mit anti-demokratischen und autoritären Regimen zu haben ist.
„ Für den globalen Süden wurde dagegen das individuelle Recht auf Asyl nie ausbuchstabiert.“
Nebstdem, dass auf europäischer Ebene de jure keine Differenzierung hinsichtlich geographischer Räume existiert, wie vom gesamten Beitrag impliziert, steht einem solchen Befund schon das Vorhandensein genau solcher Rechtsnormen sowie die sehr ausdifferenzierte Rspr. – von den uferlosen Literaturbeiträgen ganz abgesehen – zu Art 67, Art. 78 und Art. 80 AEUV sowie Art. 18 GRCh entgegen.
Die Sachlichkeit der generell als roter Faden herhaltenden Bescheinigung einer „Entrechtlichung von (Grenz)räumen“ im Übrigen darf wohl jeder Leser für sich beantworten.