22 February 2021

Die Quantifizierbarkeit von Gefahr

Warum Generalanwalt Pikamäe einen überfälligen Paradigmenwechsel im deutschen Asylrecht eingeläutet haben könnte

Die deutsche Rechtsprechung zum subsidiären Schutz ist in mehrfacher Hinsicht europarechtlich bedenklich. Zu diesem Schluss kommt Generalanwalt Pikamäe in seinen Schlussanträgen im Vorabentscheidungsverfahren CF, DN gegen die BRD. Er kritisiert insbesondere den quantitativen Ansatz der deutschen Asylprüfung. Nach diesem legen Asylentscheider*innen ihrer Prüfung häufig eine statistisch ermittelte Wahrscheinlichkeit zugrunde, mit der die Gefahr eines Schadens bei einer Rückkehr des Asylbewerbers bzw. der Asylbewerberin in seinen/ihren Herkunftsstaat quantifiziert wird. Sollte der EuGH der Kritik des Generalanwalts folgen und den quantitativen Ansatz als europarechtswidrig einstufen, hätte das Folgen, die über die Vorlagefrage weit hinausgehen.

Insbesondere die Feststellung des Generalanwalts, dass es sich bei der Asylentscheidung um eine Zukunftsprognose handelt, statistische Erhebungen aber vergangenheitsbezogen sein müssen und für sich genommen daher keine ausreichende Grundlage dafür sein können, die künftige Gefährdung bei einer unterstellten Rückkehr zu bewerten, rüttelt an einer Grundkonzeption der deutschen Asylrechtsdogmatik.

Der VGH würde gerne, darf aber nicht

Vorgelegt hatte der VGH Mannheim. Gegenstand des nationalen Prozesses waren Klagen afghanischer Asylbewerber aus der Provinz Nangarhar. Sie begehrten subsidiären Schutz nach § 4 I Nr. 3 AsylG.

Der subsidiäre Schutz ist ein Schutzstatus, der Gegenstand der Asylprüfung ist. Er ist, neben der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus, Teil des internationalen Schutzes, den die EU mit der (ersten) Qualifikationsrichtlinie (QRL) einführte. § 4 I Nr. 3 AsylG, der die QRL insoweit in deutschen Recht umsetzt, enthält eine von drei Varianten, nach der subsidiärer Schutz zuerkannt wird. Schutz erhält nach dieser Variante, wer Gefahr läuft, Opfer von willkürliche Gewalt eines bewaffnete Konflikts zu werden, wenn er/sie in seinen/ihren Herkunftsstaat zurückkehrt.

Wegen der Rechtsprechung des BVerwG sah sich der VGH im Verfahren außer Stande, den Klägern Schutz zuzusprechen, obwohl aus seiner Sicht der Konflikt in der Provinz die Zivilbevölkerung (und mithin die Kläger bei unterstellter Rückkehr) auf nicht mehr hinnehmbare Art und Weise gefährdet (Vorlagebeschluss, Rn. 7).

Der VGH konnte diese Gefährdung aber nicht berücksichtigen, da der Konflikt eine Mindestschwelle an Gefahr nicht erreicht, die laut BVerwG, von einem Konflikt ausgehen muss, damit subsidiärer Schutz nach § 4 I Nr. 3 AsylG überhaupt in Betracht kommt.

Das BVerwG errechnet diese Mindestschwelle, indem es die zivilen Opfer eines Konflikts der Gesamtzahl der Bevölkerung im betroffenen Gebiet gegenüberstellt (vgl. BVerwG, 10 C 13.10). Ergibt sich aus dieser Berechnung, dass die Wahrscheinlichkeit, als Zivilist Opfer des Konflikts zu werden, unter der Schwelle liegt, ist ein subsidiärer Schutz nach § 4 I Nr. 3 AsylG von vornherein ausgeschlossen. Weitere Faktoren, die den Konflikt abseits der Opferzahlen besonders gefährlich machen, können dann nicht berücksichtigt werden. Wie hoch die Schwelle ist, hat das BVerwG nicht dargelegt, aber klargestellt, dass eine Wahrscheinlichkeit von unter 0,12 % keinesfalls ausreicht (ebd.).

Gleichzeitig wird jedoch der subsidiäre Schutz auch nicht automatisch zuerkannt, wenn die Schwelle überschritten wird. Zwar kann ein Konflikt auch einen so hohen Gefahrengrad aufweisen, dass „praktisch jede Zivilperson allein auf Grund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre“. Das, so das BVerwG, sei jedoch nur in Ausnahmesituation anzunehmen (BVerwG, 10 C 9.08).

Es ist vielmehr so, dass erst wenn die Schwelle überschritten wird, überhaupt eine Chance auf subsidiären Schutz besteht. Damit der/die Asylentscheider*in einen Schutz dann zuerkennt, muss er/sie jedoch regelmäßig weitere Umstände erkennen, die die Gefahr, die von dem Konflikt ausgeht, erhöhen. Das können individuelle Umstände sein – beispielsweise, dass die Konfliktparteien den/die Asylbewerber*in einer bestimmten sozialen Gruppe zurechnen. Aber auch andere Faktoren können geeignet sein, die allgemeine Gefahr, die von einem Konflikt ausgeht, zu erhöhen.

Um solche allgemeinen Faktoren ging es im Fall des VGH. Der VGH erkannte, dass abgesehen von der Zahl der zivilen Opfer auch die Zahl der durch den Konflikt Vertriebenen und auch die Unvorhersehbarkeit der Kampfhandlungen den Konflikt in Nangarhar prägen. Da auf Grundlage der Zahlen, die dem VGH vorlagen, die Gefahr als Zivilist Opfer des Konflikts zu werden aber bei unter 0,12 % lag, konnte das Gericht diese Faktoren mit Blick auf die Rechtsprechung des BVerwG nicht berücksichtigen (kritisch bereits Dietz, NVwZ Extra 24/2014, 3).

Dies führte offenbar zu Zweifeln im Senat, ob die Rechtsanwendung des BVerwG mit der QRL vereinbar ist. Konkret bezweifelt er in seinem Vorlagebeschluss, ob es mit Wortlaut und Zweck des Art. 15 c) i.V.m. Art. 2 f) QRL vereinbar sei, Opferzahlen eine exkludierende Funktion beizumessen (Rn. 7). In seiner ersten Vorlagefrage (um die es hier gehen soll) möchte der VGH daher wissen, ob es gegen die QRL verstößt, wenn, wie es das BVerwG vorsieht, subsidiärer Schutz wegen der Gefahr durch einen bewaffneten Konflikt nur dann zuerkannt wird, wenn die Zahl der zivilen Opfer des Konflikts eine gewissen Schwelle erreicht.

Die Kritik des Generalanwalts

In seinen nun vorliegenden Schlussanträgen hat Generalanwalt Pikamäe die Rechtsprechung des BVerwG mit Blick auf die QRL gleich in mehrfacher Hinsicht als europarechtswidrig oder zumindest als problematisch eingestuft.

Interessant finde ich insbesondere zwei Kritikpunkte, die m.E. Auswirkungen auf die Grundkonzeption der deutschen Asylrechtsdogmatik haben könnten.

Zum einen kritisiert der Generalanwalt die quantitative Methode, mit der die Mindestschwelle festgelegt wird. An der quantitativen Herangehensweise kritisiert er – kaum bestreitbar –, dass es oft kaum möglich ist, an die relevanten Daten heranzukommen. So sei es fraglich, so der Generalanwalt, ob überhaupt objektive und unabhängige Informationsquellen vorhanden seien, anhand derer sich sowohl die Zahl der zivilen Opfer als auch die Zahl der sich im betreffenden Gebiet befindlichen Personen (die zudem dynamisch ist, da solche Auseinandersetzungen unweigerlich zu panikartigen Bevölkerungsverschiebungen führt) ermitteln ließen (Rn. 44).

Interessant ist überdies der Blickwinkel, aus dem heraus der Generalanwalt die quantitative Methode kritisiert. So erklärt er, dass es sich bei der Prüfung des subsidiären Schutzes um eine Zukunftsprognose handelt (was freilich auch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zutrifft). Die Prüfung sei daher notwendigerweise eine dynamische. Sie dürfe sich daher nicht allein auf eine quantitative Untersuchung von Opferzahlen zu einem bestimmten Zeitpunkt beschränken, der mehr oder weniger weit von dem Zeitpunkt entfernt ist, zu dem nationale Behörden oder Gerichte ihre Entscheidungen zu treffen haben. Vielmehr müssten jüngste Entwicklungen eines bewaffnete Konflikts mit einbezogen werden (Rn. 47).

Quantitative Ansätze im deutschen Asylrecht

Folgt der EuGH den Schlussanträgen, müsste die deutsche Asylrechtsprechung wohl in gleich mehrfacher Hinsicht umdenken.

Sie müsste ihre Dogmatik zu § 4 I Nr. 3 AsylG anpassen und dürfte subsidiären Schutz nicht mehr nur dann zuerkennen, wenn die Zahl der zivilen Opfer durch einen Konflikt eine – wie auch immer zu beziffernde – Mindestschwelle erreicht. Die Gefahr als Zivilist selbst Opfer des Konflikts zu werden, wäre dann in jedem Fall nur noch eines von mehreren Indizien, anhand derer der/die Asylentscheider*in bewertet, wie gefährlich ein Konflikt ist. Andere Faktoren wie die Dynamik der Kampfhandlungen und konfliktbedingte Vertreibungen müssten dann immer ebenfalls berücksichtigt werden und könnten ggf. dazu führen, dass Schutz zugesprochen wird.

Daneben könnte eine EuGH-Entscheidung, die den Schlussanträgen folgt, auch Konsequenzen auch auf die übrigen Varianten des subsidiären Schutzes sowie auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben.

Insbesondere eine – eigentliche banale – Feststellung des Generalanwalts ist für die deutsche Asylrechtsdogmatik äußerst problematisch, nämlich dass es sich bei Entscheidung über subsidiären Schutz um eine Zukunftsprognose handelt und ein quantitativer Ansatz, der auf statistischen Daten basiert, vergangenheitsbezogen sein muss und daher künftige Entwicklungen ignoriert. Tatsächlich sind deutsche Asylentscheidungen – egal, ob sie die Flüchtlingseigenschaft, den subsidiären Schutz oder Abschiebeverbote betreffen – nämlich nicht wirklich Zukunftsprognosen. In deutschen Asylentscheidungen wird in der Regel nicht prognostiziert, wie sich Gefährdungslagen künftig entwickeln. Vielmehr wird die Prognose fast ausschließlich „durch ein Mosaik von einzelnen Indizientatsachen und geschehener Vorverfolgung als wichtigste Hilfstatsache determiniert“ (Brunn, NJOZ 2014, 361 (367)). Regelmäßig wird von der derzeitigen und der vergangen Gefährdungslage ohne weiteres auf die Zukunft geschlossen (statt vieler: VGH München, 13a B 11.30064, – juris Rn. 20-26). Sollte der EuGH den Schlussanträgen folgen, müssten sich deutsche Asylentscheider*innen, um das AsylG europarechtskonform anzuwenden, künftig auch mit möglichen Entwicklungen von Gefährdungslagen bei der Asylprüfung auseinandersetzen.

Weitreichende Folgen könnte auch die grundsätzliche Kritik des Generalanwalts an der quantitativen Methode der deutschen Asylrechtsprechung haben. Quantitative Ansätze kennt diese schließlich nicht nur bei § 4 I Nr. 3 AsylG. Auch wenn über andere Schutztatbestände wegen einer individualisierten Gefahr entschieden wird, greift sie auf prozentuale Wahrscheinlichkeitsrechnungen zurück. So wird die Flüchtlingseigenschaft wegen Verfolgung ebenso wie der subsidiäre Schutz wegen drohender Folter oder Todesstrafe dann zuerkannt, wenn sie mit überwiegenden Wahrscheinlichkeit (>50%) drohen.

Die Kritik des Generalanwalts an der quantitative Herangehensweise greift m.E. auch hier. Sie beruht schließlich darauf, dass die Erhebung der relevanten Daten äußerst problematisch und in der Folge die Grundlage, auf der Asylentscheider*innen Wahrscheinlichkeiten berechnen, regelmäßig unvollständig ist. Ermittlungsprobleme sind im Asylrecht aber keine Besonderheiten, die nur dann zutage treten, wenn der/die Asylentscheider*in bewerten muss, wie gefährlich ein bewaffneter Konflikt für Zivilisten ist. Auch wenn es einzuschätzen gilt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Folter oder anderer erniedrigender Behandlung ist, bestehen erhebliche Ermittlungsprobleme – ein zuverlässiges Register, mit dem sich die Folterpraxis von Staaten nachvollziehen lässt, existiert schließlich nicht.

Paradigmenwechsel?

Kritik am quantitativen Ansatz ist nicht neu (hierzu bereits Hruschka/Löhr ZAR 2007, 180). Der EuGH könnte durch seine Entscheidung im Verfahren CF, DN gegen die BRD jedoch tatsächlich einen Paradigmenwechsel eingeläutet haben. Angesichts der Europäisierung des materiellen Asylrechts erscheint das überfällig. Schließlich hat das britische Common Law – und das europäische Asylrecht orientiert sich am angelsächsischen geprägten internationalen Flüchtlingsrecht (Markard, Kriegsflüchtlinge (2012), 21) – quantitative Ansätze bei der Bestimmung von Gefährdungslagen bereits vor gut 20 Jahren hinter sich gelassen und stattdessen einen holistischen Ansatz gewählt. Danach sollen Asylentscheider*innen, weil Asylentscheidungen immer auf einer unsicheren Erkenntnisgrundlage beruhen, möglichst viele Arten von Informationsquellen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigen.

Ob der quantitative Ansatz der deutschen Rechtsprechung aufgehoben und durch welche Dogmatik er möglicherweise ersetzt wird, ist spekulativ. Das wird davon abhängen, ob bzw. inwieweit der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts Pikamäe folgt. Es wäre wünschenswert, wenn der quantitative Ansatz aufgehoben werden würde. Durch statistisch berechnete Wahrscheinlichkeiten zur Gefahr in den Herkunftsstaaten von Asylbewerber*innen lassen sich zwar objektive und überprüfbare Kriterien etablieren. Da die Daten, die solchen Berechnungen zugrunde liegen aber regelmäßig unvollständig sind, wird durch sie eine Determiniertheit nur suggeriert. Eine solche gibt es nicht und es kann sie nicht geben. Asylentscheidungen sind immer Entscheidungen auf einer unsicheren Wissensgrundlage – bereits, weil es sich (eigentlich) um Zukunftsprognosen handelt. Diese Unsicherheit darf und sollte sich auch in den Gründen von Asylentscheidungen widerspiegeln und nicht durch zweifelhafte quantitative Behauptungen negiert werden.


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