24 October 2012

Grundrechtsschutz im Plural: Wie EuGH und EGMR künftig miteinander zurechtkommen wollen

Zwei Tage nach der Prinzenhochzeit widmete sich am Montag in Luxemburg eine hochkarätig besetzte Tagung wieder bürgerlichen Themen: aktuelle und ehemalige Richter europäischer und nationaler Gerichte, Staaten- und EU-Vertreter sowie Wissenschaftler berichteten und diskutierten über zukünftige Herausforderungen des pluralisierten Grundrechtsschutzes in Europa. Seit dem Lissabon-Vertrag von 2009 kann die EU-Juristin nämlich aus einer verwirrenden Vielzahl von Normschichten wählen: die nationalen Grundrechte, die Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes, die Grundrechte aus der Rechtsprechung des EuGH, die Rechte und Grundsätze aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie nach dem anvisierten Beitritt der EU die Freiheiten der EMRK.

Der schwierige Beitritt der EU zur EMRK

Justizkomissarin Viviane Reding erinnerte in ihrer Key Note Speech daran, dass die EU im Lissabon-Vertrag ihren Bürgerinnen und Bürgern versprochen hat, der EMRK beizutreten. Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichte die EU zu diesem Schritt – und somit die Mitgliedstaaten dazu, diesen Schritt zu unterstützen. Anlass zu Ungeduld bietet aus Sicht der Kommissarin insbesondere das Verhalten des Vereinigten Königreichs im Beitrittsverfahren. Schließlich würde dieser Schritt nach einem dreißigjährigen Ringen eine Schutzlücke im europäischen Grundrechtsverbund schließen. Erst mit einem paneuropäischen grundrechtlichen Mindeststandard werde die notwendige Kohärenz zwischen den europäischen Rechtsordnungen gewährleistet.

Hannes Krämer, Vertreter der Europäischen Kommission in den EMRK-Beitrittsverhandlungen, berichtete von den Schwierigkeiten, das bilaterale Abkommen zwischen der EU und den 47 Vertragsstaaten des Europarates zu einem Abschluss zu bringen. Der Vertragsentwurf von 2011 ist zwar weiterhin Grundlage einer politischen Einigung. Allerdings sind die Parteien wieder an den Verhandlungstisch zurückgekehrt: Es müssten noch Änderungswünsche einiger Staaten berücksichtigt werden. Wie die „joint responsibility“ von EU und EU-Mitgliedstaaten und das Verfahrens der Vorabbefassung des EuGH ausgestaltet wird, müsse noch weiter klargestellt werden. Einige Vertragsparteien wollen zudem unmissverständlich ausschließen, dass der Beitrittsvertrag die Interpretation ermögliche, die EU sei – wie die anderen EMRK-Vertragsparteien – ein staatliches Gebilde.

Aber auch die EU hat noch Arbeit vor sich: Sie müsse u.a. interne Regelungen erarbeiten, die das genaue Verfahren für die Ernennung von drei Richterkandidaten für den EGMR festlegen sowie bestimmen, wer die EU vor dem EGMR vertreten soll. Während Krämer optimistisch auf einen schnellen Abschluss der Verhandlungen hofft, äußerten sich andere Konferenzteilnehmer wie Hans Nilsson vom Generalsekretariat des Rates der EU skeptischer: Vor dem Ende des Jahrzehnts sei nicht mit dem Inkrafttreten des Beitritts zu rechnen.

Generalanwältin Eleanor Sharpston wagte einen Ausblick darauf, wie sich die Rechtsprechung des EuGH möglicherweise derjenigen des EGMR annähern könnte. Hierbei bezog sie sich auf den vom EGMR entwickelten “margin of appreciation”, wonach Konventionsstaaten in Ansehung ihrer historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten ein Spielraum bei der Gewährleistung der Konventionsrechte eingeräumt wird. Frau Sharpston machte zunächst deutlich, dass dieses Konzept dem genuinen Europarecht, das vor allem auf die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes gerichtet ist, eigentlich fremd sei. Schließlich sei die EMRK Grundlage lediglich einer Kooperation von Vertragsstaaten, während die EU eine Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten einer „neuen Rechtsordnung des Völkerrechts“ darstelle. Jedoch könne sich dies dadurch ändern, dass die vormalige Säulenstruktur der EU aufgehoben ist. Mit der weitgehenden „Vergemeinschaftung“ von politisch sensiblen Bereichen wie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit werde auch denkbarer, dass sich der EuGH an die margin of appreciation-Rechtsprechung des EGMR annähert.

Schließlich wies die Generalanwältin auf mögliche Nachteile im geplanten Vorabbefassungsverfahren hin: Dabei soll der EuGH vor einer Entscheidung des EGMR die Chance erhalten, Europarecht auf Vereinbarkeit insbesondere mit der EMRK zu überprüfen. Würde dieses als Eilverfahren ausgestaltet, um das Verfahren vor dem EGMR nicht in die Länge zu ziehen, entfiele für die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, vor dem EuGH Stellungnahmen zu abzugeben. Sie bevorzuge das etwas langsamere so genannte beschleunigte Verfahren. Herr Krämer bemerkte gelassen, dass eben dies die Position der Kommission sei.

Pick and choose

Die Tagung widmete sich außerdem möglichen Konflikten im europäischen Grundrechtsverbund – sei es zwischen Rechten oder Gerichten. Herwig Hofmann, Mitorganisator der Tagung und Professor in Luxemburg, diskutierte das Verhältnis der Grundrechte aus der Rechtsprechung des EuGH zu den nun in der Europäischen Grundrechte-Charta niedergeschriebenen Grundrechten. Das Nebeneinander beider Grundrechtsquellen kann dazu führen, dass für ein und dasselbe Grundrecht unterschiedliche Inhalte gelten – für den EuGH eine noch zu lösende Aufgabe.

Hofmann ließ offen, ob den Rechten aus der Charta Vorrang vor den ungeschrieben EuGH-Grundrechten zukommen müsse, plädierte aber mit den Argumenten der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dafür, dass das bereits konkretisierte vor eher generell formuliertem Recht angewendet werden solle – gleich ob geschrieben oder ungeschrieben.

In seiner Auffassung wurde Herr Hofmann im Wesentlichen von EuGH-Richterin Sacha Prechal unterstützt. Sie betonte, dass sie einen pluralisierten Grundrechtsschutz durchaus begrüße, da so der EuGH flexibel genug sei, im Einzelfall angemessene Entscheidungen treffen zu können. Ihr Kollege Allan Rosas warnte im Zusammenhang mit der (für deutsche Verhältnisse stärkeren) Grundrechtswirkung zwischen Privaten im EU-Grundrechtesystem vor einem „droit-de-l’hommisme“.

Karlsruhe-Bully v. Brünn-Dummy

Jan Passer, Richter am tschechischen Obersten Verwaltungsgericht, schließlich schaute aus mitgliedstaatlicher Perspektive auf den europäischen Grundrechtsverbund. Aus einem Mehr an Gerichten und Rechten könne nicht automatisch auf ein Mehr an (Rechts-)Schutz geschlossen werden. Zumal überstaatliche Gewährleistungen oftmals ein letztlich geringeres Schutzniveau bedeuten, weil jene lediglich Ausdruck eines kleinsten gemeinsamen Nenners seien. Gerichtlicher Rechtsschutz im Mehrebenensystem oszilliere zwischen den Polen „Competitive vs. Complementary“.

Vor diesem Hintergrund erörterte er mit unverhohlener Skepsis ausführlich das Ultra-vires-Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts, mit welchem das Gericht sein „großes Vorbild“ aus Karlsruhe an Selbstbehauptungswillen noch übertroffen habe. Frau Prechal merkte hierzu aus Sicht einer an der Entscheidung beteiligten Richterin an, dass das Urteil des EuGH, dem sein tschechischer Dialogpartner die Gefolgschaft verweigerte, nicht unwesentlich einem ungeschickten Vortrag („poorly pleaded“) der tschechischen Regierung vor dem EuGH geschuldet sei. In einem neuen Vorlageverfahren vor dem EuGH könne sich das Blatt – bei entsprechender Begründung – wieder wenden.

Tom Eijsbouts, Professor an der Universität Leiden, spielte vergnügt den Anwalt des Teufels und stellte sich auf die Seite des tschechischen Verfassungsgerichtes. Dieses sei mitnichten ein „Dummy“, der dem Karlsruher „Bully on the Block“ blind hinterherlaufe. Das tschechische Gericht habe klug geurteilt, während sich sein deutsches Pendant in eine Sackgasse aus „State, Democracy, Volk“ manövriert habe. Der Ansatz des tschechischen Verfassungsgerichts ermögliche immerhin einen Dialog zwischen den Gerichten.

Dies waren nur einige unserer Highlights aus dem spannenden, dichten Programm, das in den beeindruckenden Räumen des Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean (www.mudam.lu) stattfand. Einen Tag lang hat uns eine Schar Europarechts-Promis sowohl Einblicke in ihre tägliche Praxis als auch in ihr persönliches Denken gewährt und uns weiter davon überzeugt, dass es sich lohnt, sich in und durch das Dickicht des europäischen Grundrechtsschutzes zu schlagen.

Evin Dalkilic und Stefan Martini sind wissenschaftliche Mitarbeiter an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Hannes Rathke an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.


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